kränzler lichtfang coverVielleicht muss man sich die Hölle auf Erden als ein schwäbisches Provinznest vorstellen. Die Einfamilienhäuser in Reih und Glied angeordnet, der Rasen im Vorgarten so akkurat gestutzt wie die Gedanken der Insassen hinterm Jägerzaun, allenthalben Stumpfsinn in den Herzen und den Hirnen.
Eine schauerhafte Tristesse, die man im besten Fall nur aus Romanen oder Filmen kennt, im schlimmsten aus eigener Erfahrung. Ein geistloses Niemandsland, das übrigens keineswegs zwischen Iller und Lech gelegen sein muss, sondern ebenso im Rest von Deutschland zu finden ist, und das sensible junge Menschen zwangsläufig in den Wahnsinn treibt. Junge Menschen wie Lilith und Rufus, das Protagonistenduo in »Lichtfang«, dem dritten Roman von Lisa Kränzer und ihrem ersten bei Suhrkamp. Weiterlesen

bartaberherzlichEs muss ja nicht immer Literatur sein. Oder?

Während sich der deutsche Buchmarkt innerhalb der letzten Jahre immer mehr in eine Art Selbstfindungskrise stürzt, scheinen bisher nur zwei Resultate als klare Folgen erkenntlich zu werden: Zum einen die Unterscheidung zwischen E(rnster)- und U(nterhaltungs)-Literatur, zum anderen der kometenhafte Aufstieg der sogenannten »Coffee Table Books«. Ersteres sollte mit viel Vorsicht genossen werden und bietet immer wieder Raum (und Bedarf) für hitzige Diskussionen, letzteres hingegen ist weitaus harmloser, erfordert jedoch auf Grund der massenhaften Ausbreitung früher oder später ein Auseinandersetzen mit dem Thema. Weiterlesen

Buch_Buchtitel_Bericht aus dem Inneren»Bericht aus dem Inneren« ist eine Expedition für Autor und Leser in eine ekstatische Vergangenheit. Das Werk ist 2014 im rowohlt-Verlag in Übersetzung von Werner Schmitz erschienen.

Ich lebe in der Gegenwart und in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit. Mein Freund Coetzee hat mal gesagt: Unsere Bücher sind vollgepackte Koffer, die wir am Straßenrand stehen lassen, während wir weiterreisen.

Es ist wohl der fünfte Roman, welchen man Memoiren oder – wie Herr Auster bevorzugt – autobiographische Schrift nennen könnte. Dabei ist das Werk das Pendant zum vorangegangen Werk »Winterjournal«, innerhalb dessen Auster über seinen äußerlichen Körper expressiv Schläge und Freuden des physischen Ichs wiederbelebt. »Bericht aus dem Inneren« ist nun die impressionistische Mobilisierung von inneren Kindheits- und Jugenderinnerungen. Weiterlesen

Es geht los, wie kein Buch über eine deutschsprachige Rockband beginnen sollte: mit der CDU. Kanzlerin Angela Merkel hat gerade bei Campino angerufen, sich für die fürchterliche Cover-Version des »Toten Hosen«-Hits »Tage wie diese« nach dem Wahlsieg 2013 entschuldigt und die ultraerfolgreiche Komposition der Band gelobt: »Sie haben da so ein schönes Lied geschrieben.« Für die »Toten Hosen« ist dieser Anruf ein großes Problem, schließlich versteht sich die Band doch als Punk-Rock-Gruppe mit linkem Hintergrund, die einstmals gar außerhalb des gesellschaftlichen Konsenses musizierte. 2013 ist das jedoch vergessen: »Die Toten Hosen« werden auf dem Oktoberfest gefeiert, Jungliberale tragen T-Shirts mit Songzitaten, die Kanzlerin lobt nun die Musik. Weiterlesen

was ist ein ereignisSlavoj Žižek, das enfant terrible der Philosophie, meldet sich mit einem Paukenschlag zurück: „Was ist ein Ereignis?“ heißt das neue Buch, das in der Sachbuch-Abteilung des Fischer Verlags erscheint. Schon der Titel macht klar, dass es hier nicht um irgendwelche Haarspaltereien auf metaphysischer Ebene gehen soll, sondern um Grundsätzliches. Sollte der geneigte Leser sich bereits an dieser Stelle fragen: „Who the f*ck is Žižek?“, so findet er im Folgenden eine kleine Einführung:

Slavoj Žižek ist ein slowenischer Medienphilosoph, Kulturkritiker und Vertreter der Psychoanalyse von Jaques Lacan. Er liebt Filme von Alfred Hitchcock und David Lynch im selben Maße, wie er Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Martin Heidegger liebt. Seine häufig etwas unorthodox formulierten Thesen erlangen insofern enorme Bedeutung in der heutigen Zeit, als dass er sie nicht im Theoretischen belässt, sondern auf popkulturelle und gesellschaftliche Phänomene überträgt. Obgleich oftmals kritisiert, gilt Žižek inzwischen als der „Elvis der Kulturtheorie“ (The Chronicle of Higher Education). Weiterlesen

Summ, summ, summ,

Bienchen summ herum.

Kaum ein Roman auf der Frankfurter Buchmesse 2014 dürfte diesem altbekannten Kinderlied mehr entsprochen als das bei Klett-Cotta erschienene »Die Bienen« von Laline Paull, und das, ganz ohne ein Kinderbuch zu sein. Auch wenn eine Kurzversion des Plots Ähnlichkeiten mit Steve Parkers »Tagebuch einer Ameise« aufzuweisen scheint, so verbirgt sich doch viel mehr hinter der Geschichte von Flora 717. Diese ist eine Arbeiterbiene der unteren Kaste in einem Bienenvolk, dessen Stock in einem sommerlichen Obstgarten steht. Als sie schlüpft, heftet sich der Blick des Lesers an sie und verfolgt sie von nun an, während sie sich den Alltag ihrer Schwestern eingliedert. An dieser Stelle könnte das Buch bereits mit den klassischen »Und wenn sie nicht gestorben ist…«-Phrase enden. Tut es aber nicht, denn das Leben einer Biene ist bei weitem turbulenter, als man es vielleicht annehmen mag, besonders das von Flora 717. Ihr geschehen ohne Unterbrechung die wunderlichsten Dinge und schließlich beginnt sie auch noch, Eier zu legen. Im Bienenstock gerät die Welt aus den Fugen… Weiterlesen

störung im betriebsablaufEs ist schon verhext: Hunderte Male steigt man in den Zug, fährt von A nach B, liest dazwischen ein gutes Buch und steigt wieder aus. Und dann liegt auf einmal alles lahm, Bahnhöfe erinnern an Flüchtlingslager in der dritten Welt und alle schimpfen, mit unterschiedlichen Sündenböcken, vor sich hin. Als wäre das alles vorauszusehen gewesen, erschien kurz vor der Buchmesse ein kleines, auf den ersten Blick unscheinbares Büchlein im Wagenbach-Verlag. „Störung im Betriebslauf“ steht in nüchternen, schwarzen Lettern auf dem himmelblauen Cover, das mehr an einen S-Bahn-Fahrplan erinnert als an ein literarisches Produkt, und doch verbirgt sich hinter der schlichten Aufmachung eine der besten Ideen des Jahres. Weiterlesen

Der Roman „The Circle“ von Dave Eggers, nun auf Deutsch bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, zeichnet eine dystopische Zukunft unseres digitalen Zeitalters. »The Circle« ist Eggers wütender Aufschrei gegen das blinde Vertrauen in den technischen Fortschritt. Eine Warnung vor einem Google-Facebook-Amazon-Monopol, das womöglich einen zu hohen Preis für ein komfortableres Leben fordert. Ein Aufruf, damit wir uns jetzt empören, bevor der digitale Kreis uns endgültig umschließt.

»Privatsphäre ist Diebstahl« ist eines der Dogmen des Super-Konzerns The Circle, geleitet von drei Mächten: Dem verborgenen IT-Crack, dem erfolgsorientierten Manager und dem sympathischen Gesicht der Firma. Einem Dreieck der Macht, das alle Feinde aus dem Weg räumt und unerbittlich ein Ziel verfolgt: Die Vervollständigung des Kreises und damit die Korrosion aller politischen, wirtschaftlichen und privaten Geheimnisse. Dabei ganz von dem Glauben besessen, dass nur unter Beobachtung der Mensch sich von seiner besten Seite zeige. Weiterlesen

PILEr hat – obwohl millionenfach verkauft – eine schwierige Position im deutschen Buchmarkt, seine Thematik wird gleichermaßen extrem abgelehnt wie frenetisch verteidigt. Die Rede ist nicht etwa von Günther Grass, sondern vom Manga, eben jenem Genre, das seit ungefähr zwei Jahrzehnten auch in Deutschland einen kometenhaften Aufstieg erfuhr.
Obgleich der am stärksten wachsende Sektor des deutschen Buchmarktes wird den japanischen Comic-Büchern von Nicht-Otakus (Otaku: japanische Bezeichnung für Hardcore-Fans) immer noch kaum Beachtung geschenkt, von Meilensteinen wie „Barfuß durch Hiroshima“ oder „Akira“ einmal abgesehen. Auf der Gegenseite scheint sich die Hauptzielgruppe des Mangas auch weniger für andere Literatur oder sonstige Popkultur zu interessieren, ein Phänomen, das man jedes Jahr auf den Buchmessen beobachten kann. Immer wieder werden Versuche unternommen, die beiden Welten zu verbinden, nun erscheint im Carlsen-Verlag ein Buch, dass die Karten neu verteilen könnte. Weiterlesen

Aus der Sparte first world problems: Es ist noch nicht lange her, da war zu lesen, dass die ehemals coolste und hippste Stadt Deutschlands, Europas, wenn nicht gar der ganzen Welt, ihre Coolness und Hippness verloren habe. Wo früher David Bowie und Iggy Pop das Nachtleben unsicher machten, wo der Underground florierte und neue Trends und Moden entstanden, wo Rave und Techno ihre größten Erfolge feierten, habe sich eine arrogante und überhebliche Selbstgefälligkeit breitgemacht. Im Gefühl der eigenen Überlegenheit blicke der Berliner heute voll Abscheu hinab auf die durch Bars und Clubs pilgernden Touristenhorden, während ein Bezirk nach dem nächsten gehörig durchgentrifiziert werde und die Stadt nach und nach noch den letzten Rest an Charakter und Charme verliere. Am Ende einer Debatte, die, ausgelöst durch einen Beitrag im amerikanischen »Rolling Stone« und befeuert vom Internet-Portal »Gawker«, vor allem in den deutschen Medien geführt wurde, kamen selbst manche Berliner nicht umhin einzugestehen: Berlin is over. Weiterlesen

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Als am 28. Juni 1914 der Erzherzog und österreichische Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo von serbischen Attentätern erschossen wurde, befand sich Europa in einem wirren Geflecht aus hegemonialen Interessen, ideologischen Treueversprechungen und nationalistischer Verblendung. Dennoch sah es vorerst nicht danach aus, als würde dieses Ereignis zu einem Krieg führen, die Staatsoberhäupter versuchten, den überkochenden Zorn in der öffentlichen Meinung zu besänftigen, Großbritannien unternahm insgesamt sieben Vermittlungsversuche und die Zweite Internationale tagte weiterhin, um den sozialistischen Zusammenhalt gegen die nationalen Differenzen zu demonstrieren. Innerhalb eines Monats wandelte sich diese Atmosphäre eines gefährdeten Friedens hin zu einer blinden Zerstörungswut, die den ganzen Kontinent in Dunkelheit stürzen sollte. „In ganz Europa gehen die Lichter aus,“ äußert sich der britische Außenminister Edward Grey während der Julikrise zu einem Freund, „wir alle werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen.“ Weiterlesen