PILEr hat – obwohl millionenfach verkauft – eine schwierige Position im deutschen Buchmarkt, seine Thematik wird gleichermaßen extrem abgelehnt wie frenetisch verteidigt. Die Rede ist nicht etwa von Günther Grass, sondern vom Manga, eben jenem Genre, das seit ungefähr zwei Jahrzehnten auch in Deutschland einen kometenhaften Aufstieg erfuhr.
Obgleich der am stärksten wachsende Sektor des deutschen Buchmarktes wird den japanischen Comic-Büchern von Nicht-Otakus (Otaku: japanische Bezeichnung für Hardcore-Fans) immer noch kaum Beachtung geschenkt, von Meilensteinen wie „Barfuß durch Hiroshima“ oder „Akira“ einmal abgesehen. Auf der Gegenseite scheint sich die Hauptzielgruppe des Mangas auch weniger für andere Literatur oder sonstige Popkultur zu interessieren, ein Phänomen, das man jedes Jahr auf den Buchmessen beobachten kann. Immer wieder werden Versuche unternommen, die beiden Welten zu verbinden, nun erscheint im Carlsen-Verlag ein Buch, dass die Karten neu verteilen könnte. Bereits am Lebenslauf der Autorin lässt sich feststellen, dass man es hier mit einem komplexerem Projekt zu tun hat: Mari Yamazaki selbst ist eine Reisende zwischen Ost und West – geboren ist sie in Japan, sie studierte und lebt jedoch in Italien, bereiste auch den mittleren Orient und Amerika. Dementsprechend ist „PIL“ (benannt nach der Post-Punk-Band „Public Image Limited“ von Sex Pistols-Sänger Johnny Rotten) eine zaghafte Berührung mit den westlichen Kulturen, ohne dabei jedoch dem Genre des Manga untreu zu werden.

Die junge Nanami, ihres Zeichens Schülerin und Protagonistin von „PIL“ lebt in den achtziger Jahren mit ihrem Großvater in Japan. Auf den ersten Blick wirken die Probleme ihres Alltags klassisch-mangaesk: Der Großvater gibt zu viel Geld für Tand und Trödeleien aus, ihre Lehrerin hat sie wegen ihres Aussehens auf dem Kieker und ihr Schwarm Yoshida betrachtet sie lediglich als gute Freundin. Doch natürlich ist das nicht die ganze Wahrheit, denn schließlich schreiben wir das Jahr 1983, und auch in Japan beginnt schließlich der Punk, junge Menschen in seinen Bann zu schlagen. Nanamis Zimmerwände sind voll mit Postern von Public Image Limited, sie und ihre Freunde hören Buzzcocks und Stranglers. Schließlich schert sich das junge Mädchen aus Protest gegen die restriktive Kleiderordnung der Schule noch den Kopf und fühlt sich nun vollends zur Punk-Subkultur zugehörig. Die Konsequenzen, welche diese Handlung im damals noch sehr traditionalistischen Japan hervorruft, sind gravierend, werden aber in feinsinniger Art nur ansatzweise dargestellt, beispielsweise durch die Tatsache, dass immer wieder Fremde Nanami für einen Jungen halten. Hierin liegt die große Stärke von „PIL“: Der Manga liefert eine distinguierte Betrachtung der damaligen Ära (die die Autorin in ihrer Jugend quasi aus Sicht ihrer Protagonistin erlebte), jedoch ohne dabei auch nur eine Minute plakativ zu wirken. Immer wieder werden kleine Nebenstränge in das Hauptthema eingeflochten, die zeigen, dass sich nicht alles nur um Popkultur dreht.

Der Großvater ist dabei bei Weitem die liebenswerteste Figur, auch wenn er in etwas stereotypischer Weise die Rolle des weisen Narren einnimmt, die „alte“ Menschen in Mangas häufiger innehaben. Abgesehen davon macht er jedoch ein beachtliches Gegengewicht zur rebellischen Nanami aus, indem er die traditionelle Seite der japanischen Gesellschaft verkörpert. Interessanterweise wird er jedoch nicht als repressiver Tyrann charakterisiert, wie man es anhand des dramaturgischen Bogens vermuten könnte, sondern als besorgter Familienteil, der sich durchaus dafür interessiert, was seine Enkelin da treibt. Er stellt ihr Fragen, folgt ihr heimlich auf Partys, ja, er schafft es sogar einen Möchtegern-Punk als „Faker“ zu entlarven, indem er ihm die eigentliche Working Class vor Augen führt, die Arbeiter, die im Schatten der Gesellschaft gesichtslos vor sich hin malochen. Durch diese differenzierte Sichtweise wird der Großvater im Verlauf der 190 Seiten vom Klassenfeind zum Verbündeten auf Augenhöhe, dass so etwas möglich ist, wagte sich die Punk-Bewegung Jahrzehnte lang nicht einzugestehen.

Insofern ist „PIL“ ein Werk der Annäherung, zwischen Nanami und ihrem Großvater, dem Punk und der Tradition, und zu guter Letzt dem Manga und dem Rest des Literaturbetriebs. Mit mehr Büchern wie diesem, mit mehr Autoren und Autorinnen wie Mari Yamazaki wird es vielleicht irgendwann möglich sein, ein Einverständnis zu finden und beide Welten zu verbinden. Und vielleicht schreibt dann auch Günther Grass mal einen Manga.

Mari Yamazaki: PIL. Carlsen: Hamburg 2014.

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