kränzler lichtfang coverVielleicht muss man sich die Hölle auf Erden als ein schwäbisches Provinznest vorstellen. Die Einfamilienhäuser in Reih und Glied angeordnet, der Rasen im Vorgarten so akkurat gestutzt wie die Gedanken der Insassen hinterm Jägerzaun, allenthalben Stumpfsinn in den Herzen und den Hirnen.
Eine schauerhafte Tristesse, die man im besten Fall nur aus Romanen oder Filmen kennt, im schlimmsten aus eigener Erfahrung. Ein geistloses Niemandsland, das übrigens keineswegs zwischen Iller und Lech gelegen sein muss, sondern ebenso im Rest von Deutschland zu finden ist, und das sensible junge Menschen zwangsläufig in den Wahnsinn treibt. Junge Menschen wie Lilith und Rufus, das Protagonistenduo in »Lichtfang«, dem dritten Roman von Lisa Kränzer und ihrem ersten bei Suhrkamp.

Beide sind Außenseiter, beide empfinden ihre Mitschüler, die Schule, die Eltern als Zumutung. Und zumindest was Lilith angeht, die schon dem Namen nach auf Rebellion wie Verhängnis gleichermaßen verweist, kann man das Wort »Wahnsinn« ganz buchstäblich verstehen. Ihre Verweigerung nimmt mehr und mehr wahnhafte Züge an. Nachdem sie die Schule abgebrochen hat, natürlich gegen den Willen der Eltern, malt sie wie manisch Bilder von Schmetterlingen, bis die kleine Kellerwohnung schon bald mit zahllosen Gemälden vollgestellt ist. Ihre Aufzeichnungen, die in kurzen Ausschnitten zwischen den eigentlichen Romantext montiert sind, schwanken zwischen wütender Anklage und wirrer Poesie und gestatten Einblick in ein zerrüttetes Seelenleben.

Mit »Nachhinein«, dem Vorgänger von »Lichtfang«, erschienen im Verbrecher Velrag, ist Lisa Kränzler schon einmal die furiose Schilderung provinzdeutscher Trostlosigkeit gelungen. »Lichtfang« knüpft daran unmittelbar an: Wieder ist es der stumpfsinnige Alltag und das mal verständnislose, mal feindselige Umfeld, dass die Luft zum Atmen nimmt. Wieder ist es die Adoleszenz, eine Zeit der Extreme, der Versuche, der Konfrontation mit anderen und mit sich selbst. Und wieder ist da diese Sprache, so reich an Bildern und wortmächtig, dass sie auch dann noch funkelt, wenn die schlimmsten und trostlosesten Zustände geschildert werden. Oder gerade dann.

Das Jetzt ist Schmerz, die Zukunft ein Loch. Flüchte ins Gedächtnisdickicht.

»Nachhinein« funktioniert auch deshalb so gut, weil die Geschichte der Freundschaft zweier junger Mädchen zugleich eine Parabel über das Fortleben von Klassengegensätzen in der ach so klassenlosen Gesellschaft ist und das Scheitern dieser Freundschaft am Ende wie ein Echo von Brechts bitterer Einsicht »Klassenfeind bleibt Klassenfeind« daherkommt. Und ähnlich wie die beiden Mädchen finden auch Lilith und Rufus nicht zueinander, ihre Romanze bleibt eine kurze Episode, nur dass sich der Leser in diesem Fall von Anfang an kaum eine Illusion machen dürfte. Anders als Rufus, der hofft und sehnt, ahnt der Leser vielmehr, dass die Liebe hier keinen Ausweg bietet. Happy End  ausgeschlossen.

»Nachhinein» gewinnt seine Tragik aus der Wucht, mit der Wunsch und Wirklichkeit aufeinanderprallen. Hier der Wunsch, zugleich ein Versprechen, dass dauerhaft alles gut ist und Freundschaft ewig währt. Dort die Wirklichkeit mit all ihren Enttäuschungen und Niederlagen. Keine Hässlichkeit ohne Schönheit, kein Schrecken ohne Glück, keine Nacht ohne Tag. In »Lichtfang« herrscht dagegen von Anfang bis Ende meist finstere Dunkelheit, jedenfalls für Lilith. Als sie im zweiten Kapitel zum ersten Mal auftaucht, auf der Toilette sitzend und sich die Scheiße förmlich aus dem dünnen Leib pressend, ist ihr Leben − man kann es nicht anders nennen − beschissen. Dann kommt Rufus, dann kommen aber auch die Drogen, und es wird − noch beschissener. Und am Ende? Nun, man kann es sich ausmalen.

Und Rufus? Der macht seinen Weg, irgendwie. Studium, dann Promotion und schließlich Habilitation, eine bürgerliche Existenz also, auf der aber die Schatten der Vergangenheit lasten. In einer Art Epilog kehrt Rufus zwanzig Jahre später an den Ort der verloren Liebe zurück, besucht die Schauplätze und trifft die Menschen von damals. Es ist dieser Schluss, der am meisten berührt und lange nachhallt. Denn das ist ja die andere Seite der Wahrheit, dass sich auch in der dunkelsten Provinz mitunter lichte Refugien finden lassen. Dass man entkommen kann, dass es einen Ausweg gibt, nicht für alle, aber für manche. Dass mithin also nicht immer alles schrecklich ist − wodurch aber, siehe oben, der Schrecken erst seine volle Wirkung entfaltet.

Lisa Kränzler: Lichtfang. Suhrkamp: Berlin 2014.

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