Als Vorbote des jüngsten Gerichts kommt der personifizierte Tod in der Offenbarung des Johannes auf einem fahlen Pferd dahergeritten. Hinter dem vierten Reiter der Apokalypse öffnet die Hölle ihre Pforten. Gäbe es einen treffenderen Titel für solch einen monströsen Roman? Einen Roman, in dessen Mittelpunkt nicht nur das Treiben eines umtriebigen Todesboten steht, sondern dessen Verfasser selbst anderen den Tod brachte? Im Wissen um das Leben Boris Sawinkows, der sich in der Zeit nach der Jahrhundertwende der Sozialrevolutionären Bewegung anschloss und unter anderem an der Ermordung des russischen Innenministers Wjatscheslaw von Plehwe sowie an dem durch Iwan Kaljajew verübten Attentats auf den Großfürsten Sergei Romanow, Sohn des schon 1881 von der Untergrundorganisation Narodnaja Wolja (deutsch: »Volkswille«) getöteten Zaren Alexander II., beteiligt war, ist man dazu verführt, die in knappen Tagebucheinträgen geschilderten Vorgänge als literarisch stilisierten Tatsachenbericht zu lesen, der begleitet wird von Überlegungen zum Ziel und zur Notwendigkeit revolutionärer Gewalt. Weiterlesen
Archiv des Autors: Markus Huber
Meditation über die Angst
Die Angst ist in diesem Roman allgegenwärtig. Und haben die Bewohner dieser unheilvollen Orte nicht allen Grund sich zu fürchten? Um sie herum herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Überfälle und Sabotageakte sind an der Tagesordnung, die staatliche Ordnung wird mit jedem Tag brüchiger. Juan S. Guses »Lärm und Wälder« erzählt von einer Welt, in welcher der Ausnahmezustand längst zur Normalität geworden ist, wo Furcht und Paranoia ständige Begleiter sind. Es ist eine Welt am Abgrund, in der sich das saturierte Bürgertum hinter meterhohen Mauern und Stacheldrahtzäune verschanzt, bewacht von der Polizei und privaten Sicherheitsdiensten. Aus Angst vor denen, die nichts haben, haben sich die Besitzenden mit ihrem ganzen Hab und Gut an die letzten vermeintlich sicheren Orte zurückgezogen. Doch die Einschläge kommen immer näher. Weiterlesen
Vorsicht: heiß!
Als hippe Alternative zum doch eher staatstragenden Deutschen Buchpreis hat sich die Hotlist in den letzten Jahren einen Namen gemacht. Die Idee dahinter ist simpel, aber grundsympathisch: Prämiert werden über alle Genregrenzen hinweg die zehn besten Bücher aus unabhängigen Verlagen. Und so funktioniert’s: Aus allen Einreichungen (in diesem Jahr: 171!) wählt eine Jury vorab dreißig Kandidaten aus und bestimmt im Anschluss wiederum sieben Titel, die es auf die Hotlist schaffen. Drei weitere Bücher werden via Online-Abstimmung ermittelt. Weiterlesen
Das Gegenteil von Naivität
Wenige Tage nach ihrer Abschlussfeier starb die Yale-Absolventin Marina Keegan bei einem Autounfall. Sie wurde zweiundzwanzig Jahre alt. So weit das, was alle schreiben und was zu wiederholen ein gewisses Unbehagen bereitet. Ein Unbehagen nicht aufgrund der unzweifelhaften Tragik der Ereignisse, sondern aufgrund ihrer vehementen Zurschaustellung. Unweigerlich drängt sich der Eindruck auf, dass dem Verlag und manchen Medien offenbar mehr daran gelegen ist, den Tod der Autorin als deren Texte zu vermarkten. Dass es eher um Betroffenheit und Voyeurismus geht als um Literatur. Aber kann das verwundern? Und soll man Marina Keegans frühen und plötzliche Tod stattdessen in einem Nebensatz abhandeln oder gar verschweigen? Denn schließlich ist »Das Gegenteil von Einsamkeit«, dieser postum veröffentlichte Band mit Stories und Essays, ihr Vermächtnis − warum ihn also nicht auch als solches lesen? Weiterlesen
Apokalypse für vier
Treffen sich vier Menschen in einer lausigen Flughafenbar: Karen ist Mutter einer Tochter im Teenageralter, alleinstehend und wünscht sich nichts sehnlicher als einen Mann an ihrer Seite. Dem Internet sei Dank lernt sie Warren kennen und fliegt für ihn sogar bis ans andere Ende des Kontinents. Doch der erhoffte Traumtyp entpuppt sich als »Kampfzwerg mit einer Fliegersonnenbrille, die ihn wie einen Serientriebtäter aussehen lässt«. Da hat Barkeeper Rick schon bessere Chancen, obwohl auch er keine Musterbiographie vorzuweisen hat. Nach verschiedensten Rückschlägen und Niederlagen lässt er vom Alkohol vorübergehend die Finger und erwartet Rettung von Leslie Freemont, der seinen deprimierten Klienten für tausende Dollar ein so genanntes »Power Dynamics Seminar System« andreht. Weiterlesen
Alles dunkel
Vielleicht muss man sich die Hölle auf Erden als ein schwäbisches Provinznest vorstellen. Die Einfamilienhäuser in Reih und Glied angeordnet, der Rasen im Vorgarten so akkurat gestutzt wie die Gedanken der Insassen hinterm Jägerzaun, allenthalben Stumpfsinn in den Herzen und den Hirnen.
Eine schauerhafte Tristesse, die man im besten Fall nur aus Romanen oder Filmen kennt, im schlimmsten aus eigener Erfahrung. Ein geistloses Niemandsland, das übrigens keineswegs zwischen Iller und Lech gelegen sein muss, sondern ebenso im Rest von Deutschland zu finden ist, und das sensible junge Menschen zwangsläufig in den Wahnsinn treibt. Junge Menschen wie Lilith und Rufus, das Protagonistenduo in »Lichtfang«, dem dritten Roman von Lisa Kränzer und ihrem ersten bei Suhrkamp. Weiterlesen
Herbert on tour
»Der eindimensionale Mensch« wird in diesem Jahr fünfzig Jahre alt. Thomas Ebermann, Andreas Spechtl und Robert Stadlober haben Herbert Marcuse auf die Bühne gebracht.
Eingeklemmt zwischen jungen Kommunisten mit Karl-Marx-Bart, Reformhauskundinnen im selbst gestrickten Sackpullover und Jutta Dittfurth wartet man, dass endlich irgendetwas passiert. Aber es passiert nichts, und weil nichts passiert, macht man sich so seine Gedanken. Und man denkt: Nie lagen Glanz und Elend dieser Jahre, der Jahre der letzten, ja, sagen wir doch: Revolution, die dieses Land gesehen hat (hat jemand 1989/90 gesagt?), so nah beisammen. Und dann, nach einer verschlurft sympathischen Einführung von Thomas Ebermann, der Leben und Schaffen Herbert Marcuses vorstellt, kommen zwei schöne junge Männer auf die Bühne und entfachen ein Feuerwerk aus Marxismus, Krach und Zärtlichkeit, dass es einen nur so umhaut. Weiterlesen
Dickes B
Aus der Sparte first world problems: Es ist noch nicht lange her, da war zu lesen, dass die ehemals coolste und hippste Stadt Deutschlands, Europas, wenn nicht gar der ganzen Welt, ihre Coolness und Hippness verloren habe. Wo früher David Bowie und Iggy Pop das Nachtleben unsicher machten, wo der Underground florierte und neue Trends und Moden entstanden, wo Rave und Techno ihre größten Erfolge feierten, habe sich eine arrogante und überhebliche Selbstgefälligkeit breitgemacht. Im Gefühl der eigenen Überlegenheit blicke der Berliner heute voll Abscheu hinab auf die durch Bars und Clubs pilgernden Touristenhorden, während ein Bezirk nach dem nächsten gehörig durchgentrifiziert werde und die Stadt nach und nach noch den letzten Rest an Charakter und Charme verliere. Am Ende einer Debatte, die, ausgelöst durch einen Beitrag im amerikanischen »Rolling Stone« und befeuert vom Internet-Portal »Gawker«, vor allem in den deutschen Medien geführt wurde, kamen selbst manche Berliner nicht umhin einzugestehen: Berlin is over. Weiterlesen
Einhundertvierzig Zeichen
Es gibt keine Namen. Kein ich. Kein er und kein sie. Nur ein du, und an wenigen Stellen ein ominöses wir. Wir, das ist offenbar ein Geheimdienst, der dich, eine namenlose junge Frau, auf deine Mission fürs Vaterland geschickt hat. Unerkannt sollst du dich einem Gangster nähern, sein Vertrauen gewinnen, mit ihm schlafen − und Informationen beschaffen.Dabei fungiert dein Körper nicht nur als Verführungsinstrument, sondern auch als eine Art menschliche Black Box. Ausgestattet mit Kamera und Schnittstelle speichert er, was du siehst und ermöglicht dir fremde Datenquellen anzuzapfen. Der Geheimdienst kann diese Informationen später verwerten. Vorausgesetzt, dein Körper schafft es zurück. Tot oder lebendig. Weiterlesen
Was tun
Mehr als fünfhundert Autorinnen und Autoren aus aller Welt haben sich einem Aufruf gegen die schrankenlose Überwachung angeschlossen. Hintergrund sind die Enthüllungen der jüngsten Zeit über die Machenschaften der Geheimdienste.
»In den vergangenen Monaten ist ans Licht gekommen, in welch ungeheurem Ausmaß wir alle überwacht werden. Mit ein paar Maus-Klicks können Staaten unsere Mobiltelefone, unsere E-Mails, unsere sozialen Netzwerke und die von uns besuchten Internet-Seiten ausspähen. Sie haben Zugang zu unseren politischen Überzeugungen und Aktivitäten, und sie können, zusammen mit kommerziellen Internet-Anbietern, unser gesamtes Verhalten, nicht nur unser Konsumverhalten, vorhersagen.« Weiterlesen
Ich hab’s dir doch gesagt!
Die Frage ist nicht, ob etwas passiert, sondern wann. Und was. Und wie schlimm es kommen wird. Blut wird fließen, soviel ist sicher. Aber werden Köpfe rollen, abgetrennte Gliedmaßen durch die Luft wirbeln und Gedärme aus offenen Bäuchen quellen? Oder kommt der Schrecken subtiler daher und zermartert den Verstand anstelle des Körpers? Aus Horrorfilmen oder Thrillern ist dieses Phänomen bekannt: Tumbe Trulla läuft durch den Wald, trifft einen schrägen Einheimischen und keine halbe Stunde später steckt ihr Kopf auf einem Pfahl. Oder so ähnlich. Als Zuschauer möchte man diesem dummen Ding am liebsten zurufen, nicht so naiv zu sein und dem finsteren, bärtigen Waldschrat doch besser nicht zu vertrauen. Aber sie steigt natürlich doch auf die Rückbank seines Autos und das Unglück nimmt seinen Anfang. Weiterlesen
»Wir haben keinen Bock darauf, älter zu werden«
Vom Leben im Nachtleben und den damit verbundenen Hoffnungen und Sehnsüchten erzählt Ju Innerhofers »Die Bar«. Erzählerin Mia arbeitet wochenends als »erprobte Barschlampe« in einem Berliner Szeneclub, wo auch ihre beiden Freunde Jan und Viktor feiern. Berauscht von Alkohol und Drogen und getrieben von den Beats versuchen sie der Realität für einen Augenblick zu entkommen. »Die Bar« ist ein Roman über Hedonismus, Ausschweifung und die Suche nach Glück – und über das, was nach Ende des Sommers davon noch übrig bleibt.
Wir haben Ju Innerhofer über den Dächern Berlins bei Kaffee und Zigaretten zum Interview getroffen.