51BvMjh8CRL._SX304_BO1,204,203,200_Eines vorweg: Dieses Buch zu lesen ist wie im Dreck zu baden. Oder wie einen mit Bier verdünnten Aschenbecher auszutrinken (was so ähnlich im Roman auch vorkommt). Dieses Buch zu lesen heißt, selbst den Goldenen Handschuh zu betreten, »Hohe Klasse« oder »Fako« (Fanta-Korn) zu trinken, die Kopfschmerzen, die Hirngespinste, die Ausfall- und Entzugserscheinungen der Figuren mitzuerleben und die Houellebecq’sche Sicht auf den Menschen zu teilen. »Der goldene Handschuh« ist ein rasendes, nihilistisches Werk; eine Geisterbahnfahrt durch die elendigsten Köpfe St. Paulis; ein Tagesausflug ins pathologisch Perverse; ein Blockbuster des Elends.

Heinz Strunk hat in seinem Roman eine Parallelwelt porträtiert, die man so oder so ähnlich zwar schon bei Bukowski und Fauser gesehen hat, aber gänzlich ohne deren durch den Alkohol verklärten Blick, ohne den romantisierenden Schleier auskommt, der noch die übelste Spelunke in feinste Sepiafarben taucht und noch den letzten Scheißtag poetisiert. Doch diese Radikalität überrascht nicht, handelt es sich hier schließlich um die Geschichte eines Serienmörders: Fritz Honka hat zwischen 1970 und 75 vier Frauen auf bestialische Art und Weise umgebracht.

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Buchpiraten unter sich

Es ist nicht so, dass alles auf der Welt besser würde, wenn die Leute mehr lesen, es kommt schon drauf an, was wir lesen.
– Denis Scheck

Im Herbst nach Frankurt, nach Leipzig, wenn der Frühling grünt, so lautet die Devise des deutschen Buchmarktes und so lauteten auch die Vorsätze der Octopus-Redaktion. Zum ersten Mal besuchten wir die Messe im Paris Ostdeutschlands, um im Auftrag des investigativen Online-Journalismus neue Freunde und alte Bekannte wiederzutreffen, vor allem aber um eine Frage zu beantworten: Ist die Leipziger Buchmesse wirklich besser/angenehmer als die wundervolle, herrliche, uns jedes Jahr aufs Neue in den Wahnsinn treibende Frankfurter Buchmesse? Weiterlesen

978-3-644-48441-2.jpg.653676Selten hat eine neue Technologie ihr Potential so wenig ausgeschöpft, wie das Elektronische Buch. Zwar wird in Studien davon ausgegangen, dass der Vertrieb von E-Books in Deutschland mehr als sechs Prozent ausmacht, im englischsprachigen Raum sogar noch mehr, doch rein vom Erscheinungsbild her hat sich seit dem Jahre 1988, in dem der erste elektronische Roman erschien („Mona Lisa Overdrive“ von William Gibson), nicht viel getan. Sicher, inzwischen gibt es stärkere Bildschirmbeleuchtung, schönere Seitendarstellungen und man kann seine virtuellen Bücher in virtuelle Regale stellen, doch das E-Book bleibt, was seine Kritiker ihm vorwerfen: Ein nicht ausgedrucktes Buch. Weiterlesen

David Wagner veröffentlichte im Februar 2013 seinen autobiografischen Roman »Leben«, für den er im März mit dem prestigeträchtigen Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Der Roman erzählt von einem Patienten, der im Krankenhaus auf eine Spenderleber wartet. »Leben« ist eine zarte Novelle, voller Witz und Sehnsucht.

Der Autor im Interview über Wunden, triviale Lebensweisheiten und die Suche nach dem Ich. Weiterlesen

Andreas Stichmann

Andreas Stichmann veröffentlichte im September 2012 seinen Debütroman „Das große Leuchten“, aus dem er beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2012 ein Kapitel las. Der Roman erzählt von Rupert, der sich mit seinem Freund Robert auf einem irrwitzigen Roadtrip durch den Iran befindet, um seine verschwundene Freundin Ana zu finden. „Das große Leuchten“ ist eine rasante Erzählung und der beste Debütroman des Jahres. 

Der Autor im Interview über Derwische, die Eleganz von Kurzgeschichten und das Schlachten von Hühnern.

Lieber Andreas Stichmann, was ist der Reiz des Reisens?

Man sammelt extrem viele Eindrücke und kommt aus seiner eigenen Welt heraus. Aber auch für den Schreibprozess ist das Reisen wichtig: Wenn man schon Figuren entwickelt hat, die man dann auf die Reise schickt, ist das oftmals sehr spannend. Von beiden Reisen kommt man mit einem weiteren Horizont zurück, als man losgefahren ist.

In Ihrem Debüt-Roman »Das große Leuchten« befinden sich Rupert und Robert, die Protagonisten der Erzählung, auf einer großen Reise durch ein für sie unbekanntes Land. Sie sind auf einer abenteuerlichen Suche. Kann der Mensch nur in der Fremde zu sich selbst finden?

Das ist zumindest das alte Morgenlandfahrt-Klischee, Reisen als Selbsterfahrung, das wohl in jeder Reisegeschichte mitläuft und hier ein bisschen gebrochen wird. Wenn man sich in unbekannten Situationen ganz neu verhalten muss, ist es natürlich schon so, dass man auch innerlich in Bewegung ist. Man erfährt sicherlich eher Neues von sich, wenn man mit einem bewaffneten Derwisch in der Wüste streitet, als wenn man alleine zuhause in der Küche sitzt. Gleichzeitig kam man sich aber nicht in die Wüste stellen und hoffen, dass jetzt etwas Erstaunliches passiert. Man kann auch eine Weltreise machen und immer der gleiche bleiben.

Sie selbst haben den Iran für einige Monate bereist. Hat es dort für Sie geleuchtet? Was ist »Das große Leuchten«?

In meinem Buch bezieht sich das Leuchten auf den Protagonisten Rupert, der sich als Kind im »Nicht-Blinzeln« übt. Er hält es bis zu zwei Minuten durch, die Dinge um ihn herum verschwimmen und beginnen zu leuchten, und dann meint er, hinter dem Leuchten die wahre Welt erkennen zu können, ein Muster hinter den Dingen zu erahnen. Das ist sein Ehrgeiz. Er will das große Leuchten hinter sich lassen. Irgendwie ist er aber auch selber ein Blender.

Sie haben mit »Jackie in Silber« im Jahre 2008 einen gefeierten Kurzgeschichten-Band veröffentlicht. »Das große Leuchten« ist Ihr erster Roman. Was war anders bei der Konzeption eines rund 200-Seiten umfassenden Romans im Vergleich zum Schreiben einer Kurzgeschichte?

Alles. Bei den Kurzgeschichten hatte ich immer den Fokus darauf, auf keinen Fall zu viel zu erzählen. Beim Roman kommt man nicht allzu weit, wenn man nur ganz knapp erzählt. Man muss sich etwas mehr gehen lassen können, das fällt mir nicht leicht, ich gerate ungern in die Gefahr, redselig zu werden.
Auch die Entwicklung der Figuren kann man nicht so präzise und knapp anlegen. Es dreht sich beim Roman nicht nur darum, mit ein paar Sätzen besonders viel über eine Person zu sagen, sondern auch darum, ihnen eine längere, kontinuierliche Entwicklung zu geben. Es muss dementsprechend alles viel langfristiger vorbereitet werden.

Das Ende von »Das große Leuchten« ist ungewöhnlich. Es ist offen und spielt mit Implikationen. Ist es Ihr liebstes Ende, oder würden Sie es mittlerweile gegen ein anderes eintauschen?

Ich hatte unterschiedliche Enden im Kopf, inzwischen erscheint mir das jetzige aber als das einzig mögliche. Es ist ja mehr so ein Dreh-und Angelpunkt als eine Endstation. Von dort aus wird die Geschichte im besten Fall vielleicht nochmal unterschiedlich beleuchtet.
Außerdem wollte ich unbedingt, dass Rupert an irgendeiner Stelle des Romans Hühner schlachtet – am Ende ist es jetzt also soweit. Er steigert sich richtiggehend in eine Hühnerschlacht-Meditation hinein.

Was kann die Kurzgeschichte, was der Roman nicht kann?

Kurzgeschichten können perfekter sein als Romane. Zum Beispiel »Jesus‘ son« von Denis Johnson ist so ein Beispiel. Da sitzt jedes Wort wie bei einem Gedicht. Bei einem Roman kann das zwar auch der Fall sein, aber bei vielen guten, dicken Romanen ist es dennoch so, dass man nicht unbedingt das Gefühl hat, dass jedes Wort ganz exakt so sitzen muss, damit die Geschichte funktioniert.
Kurzgeschichten können leichter und eleganter sein, weil sie mit weniger Strichen hingezeichnet werden.

Ihre Kurzgeschichte »Warum schon wieder zu Watan?« erzählt die Geschichte eines traumatisierten Iraners, der in Deutschland Drogen verkauft. Seine Kunden interessieren sich nicht für seine Geschichte, die er ihnen immer wieder erzählt. Erleben Sie Ihre Generation als stumpf, hedonistisch, egomanisch?

Nein, als Aussage ist mir das zu grob, ich kann das nicht pauschalisieren, man redet dann ja gleich über Massen von Menschen. Diese jungen Menschen hier sind ja auch zurecht genervt von der Geschichte des Iraners, denn sie haben sie schon tausendmal gehört. Das ist es ja grade, dass es ihnen grundsätzlich schon irgendwie nahe geht oder ging, und dass sie aber auch genervt sind, weil sie nicht wissen, was sie dazu sagen sollen.

In Ihren Geschichten liegen Tragik und Komik nah beieinander.

Durch Komik lassen sich viele Dinge leichter erzählen und ertragen. Für mich gehören aber auch Ironie und Romantik dazu, dass sind auch so Gegensätze, die für meine Begriffe gut zusammenwirken und die Dinge zusammen dreidimensionaler machen. Wenn eine Geschichte ganz eindimensional erzählt wird, berührt sie mich nicht. Dann ist sie nicht lebendig, dann ist immer schon von vornerein klar, wie das Ganze zu bewerten ist. Außerdem habe ich auch beim Lesen und Schreiben gerne mal etwas Spaß.

Welches Land werden Sie als nächstes bereisen?

Deutschland.

Andreas Stichmann wurde 1983 in Bonn geboren. „Das große Leuchten“ ist sein erster Roman. Im Jahre 2008 veröffentlichte Stichmann den gefeierten Kurzgeschichtenband „Jackie in Silber“, der elf Erzählungen bündelt. Die Kurzgeschichte „Warum schon wieder zu Watan“ kann man auf der Homepage des Schriftstellers herunterladen. 

Markus Berges
(Foto: Matthias Sandmann)

Markus Berges ist Texter und Sänger der Band Erdmöbel, über die die Süddeutsche Zeitung schrieb, sie sei „die größte deutsche Band unserer Tage.“
Doch ist der Kölner nicht nur ein begabter Song-Texter, auch als Roman-Autor beweist er sein poetisches Geschick.
Bereits im September 2010 veröffentlichte Berges den von der Kritik geschätzten Roman „Ein langer Brief an September Nowak“.
Leichtfüßig und melancholisch erzählt der Roman von Täuschungen und Träumen, Reisen und der Schönheit des Atlantiks.  

Der Autor im Interview über Johann Lafer, vergammelte Fußballstadien und das Verhältnis zwischen Realität und Illusion.

 

Lieber Markus Berges, fahren Sie gerne Zug?

Ja, wenn ich nicht stehen muss. Aber meistens ist noch Platz im Speisewagen. Wir sind letztens beispielsweise mit Erdmöbel im Zug von München nach Berlin gefahren. Von der Brezel im Bahnhof über Nebelfelder durch finstersten Zonenrandwald, in dem die Sonne aufging, zur lächerlich schlechten Kost von Johann Lafer: yeah!

Die Protagonisten in Ihren Songtexten wie auch in Ihrem Debüt-Roman »Ein langer Brief an September Nowak« fahren häufig Bus, sie fahren häufig Bahn. Meist sind es sehr poetische und melancholische Momente. Worin liegt der Zauber dieser passiven Bewegung?

Da ist was dran. Es wird auch manchmal Auto gefahren, aber dann wird jemand mitgenommen. Das Passive daran ist tatsächlich das Schöne, der Fahrer fährt, weiß den Weg und du darfst schauen, träumen, lesen. In zwei Wochen fliege ich in die Ukraine und fahre mit dem Bus auf die Krim, mal sehen, wie sich das Ausgeliefertsein dort anfühlt.

Ihr Roman ist der Reisebericht von Betti, einer Jugendlichen, die zum ersten Mal das Elternhaus verlässt, um eine Brieffreundin in Südfrankreich zu besuchen. Sie wird getäuscht und enttäuscht. Doch schöpft sie aus ihrer Verzweiflung Mut und Kraft. Wächst der Mensch an Niederlagen?

Das kommt drauf an, denke ich. Die Aufstehfähigkeit verdankt man wohl seinen ersten Lebensjahren. Oder eben nicht. Dann gibt es natürlich auch Niederlagen, von denen man sich nicht mehr erholt.

In Ihrem Roman verschwimmen Bewegung und Stillstand, Illusion und Realität. Betti, die Hauptperson, verewigt ihre Erlebnisse mit einer Lomo-Kamera. Ist Fotografie das Glied zwischen Realität und Illusion?

Bei den Fotos im Roman spielt das Verhältnis von Realität und Illusion eine Rolle. Traditionell galten Fotos als Dokumente. Aber fiktional wie Gemälde wurden sie schon immer allein durch ihre Ausschnitthaftigkeit. Und anders als die unabgebildete Welt, fangen sie sofort an, in Kontexten und in Köpfen Geschichten zu erzählen. Ich habe für den Roman sowohl fotografiert (auch Fotos abfotografiert) als auch ältere, eigene Fotos (z.B. von einem Gemälde, das tatsächlich in der im Roman beschriebenen Bahnhofbar hängt) verwendet. Interessant finde ich, wie sich in Fotos Zeiten überlappen. Aus welchem Foto hat Gursky wohl die
Schwimmerin herausmontiert, die sich in »Monaco 2004/06« findet, dem Foto, das am Ende meines Romans steht? Wann schwimmt sie eigentlich und wo? Hat sie je von Gursky gehört? Wer ist sie? Ist es eine Frau?

»Ein langer Brief an September Nowak« weckt Fernweh. Ich habe den Roman in Italien am Comer See gelesen. Trotz des wunderbaren Lichts, der spektakulären Kulisse, wollte ich mit dem Rucksack schnellstmöglich nach Südfrankreich reisen. Was ist das Anziehende an Orten, an denen man sich derzeit nicht befindet?

Das weiß ich nicht. Diese Sehnsucht ist ziemlich unbuddhistisch, oder? Ich kenne sie natürlich auch gut. Das Schöne an der Literatur ist vielleicht, dass sie sie gleichzeitig wecken und stillen kann.

Was ist die Chance des Reisens?

Also mir geht es meistens nur um das ganz reale Glück. Manchmal will ich was lernen, meistens aber einfach nur da sein, ich meine, in diesem ganz einfachen Sinne von: hey, dieses vergammelte Fußballstadion gibt es, in diesem abruzzesischen Abendlicht, und ich sehe es, ich bin da.

Gibt es einen Unterschied zwischen der Sonne in Palermo, Nizza und Köln?

Ja, vielleicht hat es mit irgendwelchen Brechungen zu tun. Jedenfalls kann auch der Kölner Himmel, nach dem ich mich nie sehne, eine einzigartige Durchsichtigkeit haben. Hätten Palermo und Nizza heute morgen in Köln gefrühstückt, hätten sie zukünftig danach Sehnsucht.

Wie Amélie Poulain in »Die fabelhafte Welt der Amélie« staunt auch Betti mit großen Augen über das sie umgebende Treiben der Menschen. Leise und vorsichtig tasten sich beide an ihr Glück heran. Kann man Glück erzwingen?

Es gibt auf der Welt natürlich viel objektives Unglück. Aber schmieden lässt Glück sich doch manchmal. Der glücklichste Tag der letzten Woche war der Tag, an dem ich und meine Familie aus unserem Haus zwangsevakuiert waren, wegen einer Weltkriegsbombe. Aus Gründen hätte man das auch anders erleben können.

Das Buch endet mit einem Zitat aus Vladimir Nabokovs »Das wahre Leben des Sebastian Knight«: »Sie besaß Phantasie – der Muskel der Seele -, und zwar eine besonders kräftige, beinahe männliche Phantasie. […]« Spielt die Wahrhaftigkeit des Erzählers in Ihrem Romanen überhaupt eine Rolle? Ist es wichtig, ob Betti tatsächlich in Südfrankreich war?

Nein, letztlich geht es nur um die Fähigkeit, wie Nabokov sagt, den »Glorienschein um eine Bratpfanne« entdecken zu können. Andererseits bedeutet das Erzählen auch einen Hauch mehr als bloßes Spiel. Deshalb liegt die Wahrhaftigkeit des Erzählers wohl eher in seiner erzählerischen Energie, darin, dass es ihm wirklich um etwas, sei es um sich selbst, geht.

Auf dem aktuellen Album Ihrer Band Erdmöbel, »Krokus«,  befindet sich ein Song namens »Wort ist das falsche Wort«. Sie singen »Wort ist das falsche Wort, es ist mehr Akkord. Ach – ist unsagbar schwer zu sagen.« Sprache ist nur eine Annäherung an die Welt. Ist ein Klang tiefer als Worte?

Klang ist eine andere Sprache, ich kenne mich da nicht aus, aber man spürt ja, dass sie auf andere Areale im Gehirn trifft. Wenn Sprechen nicht mehr geht, geht oft noch Singen. Mich ergreift Musik meist tiefer als ein Text, aber oft hallen Worte länger nach.

Markus Berges  wurde 1966 im münsterländischen Telgte geboren. Sein Debüt-Roman »Ein langer Brief an September Nowak« wurde im September 2010 im Rowohlt Verlag veröffentlicht.