Im Bahnhof einer kleinen Stadt im österreichischen Hinterland wird eine herrenlose Tasche gefunden. Sofort entsteht Panik, das anrückende Bombenkommando entdeckt jedoch kurz darauf, dass sie außer etwas Metallschrott und einigen geschwollen Warnungen nichts bedrohliches enthält. Alle sind erleichtert. Alle? Nein, der Lehrer des Ortes meint in der Art der Aktion und auf den Fahndungsfotos einen seiner ehemaligen Schüler zu erkennen. Für ihn beginnt nun eine Suche nach dem Jungen, dem Grund der Tat und den eigenen Fehlern. Weiterlesen

…sagt der Bärbeiß zum Tingeli. Und das will bei einem echten Bärbeiß etwas heißen. Als durch und durch schlecht gelaunter Kerl kann er wohl nicht anders, als seiner Freude auf diese Art und Weise Ausdruck zu verleihen. Die Wörterbuch-Definitionen für »bärbeißig« reichen von »auf mürrische bis grimmige Weise grob« über »brummig-unfreundlich« bis hin zu »griesgrämig und übellaunig«. »Der Bärbeiß« von Annette Pehnt, im August beim Hanser Verlag erschienen, macht seinem Namen alle Ehre. Am Anfang jedenfalls. Die neuen Nachbarn (er ist erst vor kurzem umgezogen), lassen sich davon abschrecken. Bis auf das Tingeli:

Das einzige Geschöpf, das immer wieder klingelte, war das Ting
eli. Es hatte nichts anderes zu tun, als herumzutänzeln, Nachbarn zu besuchen, Katzen zu streicheln und Blütenblätter zu zählen.

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England, Frankreich, die osteuropäischen Fantasiestaaten Syldavien und Bordurien, der Nahe Osten, Nord- und Südamerika, Tibet, China, Ägypten, der Kongo, Australien – kein Kontinent, den der junge Reporter Tim, die wohl populärste Figur des 1907 geborenen Comic-Autors und -Zeichners Hergé[1], nicht bereist hätte. Sogar der Nordpol und nicht zuletzt der Mond zählen zu seinen Destinationen. Langweilig ist anders. Dass der Künstler, der Belgien zum ersten Mal 1925 mit den Pfadfindern verlassen hat, Zeit seines Lebens wenig verreist ist, mag man kaum glauben. Vor allem dann nicht, wenn man sieht mit welcher Akribie er die verschiedenen Länder, Völker und Kulturen, von der Architektur über die Kleidung, Technik und andere abgebildete Gegenstände bis hin zu kleinsten Details wie einem Zigarettenpapier darzustellen vermag. Weiterlesen

friedrich_kittler_philosophien_der_literaturZum Abschied waren sich ausnahmsweise alle einig. Als der Literaturwissenschaftler, Medientheoretiker und Philosoph Friedrich Kittler im Oktober 2011 verstarb, erinnerten zahllose  Nachrufe an einen großen, unkonventionellen Denker. Und niemand versäumte es, auf den anfangs steinigen Weg hinzuweisen, den Kittler nehmen musste. Man kann sich heute nur schwer vorstellen, welche Provokation es für die geisteswissenschaftliche Zunft hier zu Lande darstellte, als Kittler mit allerhand französischen Poststrukturalismen bewaffnet die »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« forderte. Das war neu, das war unerhört – zumal von einem, der noch nicht einmal einen Lehrstuhl inne hatte. Der Sammelband über die »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« erschien 1980, Kittler war nur Assistent am Deutschen Institut an der Universität Freiburg. Erst vier Jahre später erfolgte die Habilitation – nach einem Habilitationsverfahren, das in der deutschen Universitätsgeschichte wohl einmalig ist. Anstelle der üblichen drei brauchte es dreizehn Gutachten bis Kittlers Studie »Aufschreibesysteme 1800/1900« endlich akzeptiert wurde. Auch diese Schrift eine Provokation, inhaltlich wie stilistisch: In der Deduktion der Schreibweisen einer Epoche aus den dominierenden Medientechnologien sahen manche Kritiker einen unheilvollen Mediendeterminismus am Werk. Andere monierten Kittlers apodiktischen Duktus und die mitunter raunende Sprache. Weiterlesen

Man könne, schreibt David Wagner, »mit diesem Büchlein in der Hand auch sehr bequem auf dem Sofa liegend durch Berlin spazierengehen«. Das stimmt. »Welche Farbe hat Berlin« (ohne Fragezeichen!) ist ein so großartiger Reiseführer, dass er das Reisen selbst beinahe überflüssig macht. Wie Wagner mit wachem Auge und noch wacherem Geist die Straßen der bundesdeutschen Hauptstadt durchwandert und Eindrücke und Erlebnisse sammelt, ist von einer vordergründigen Einfachheit, hinter der sich aber großes Können verbirgt. Mag man anfangs noch denken, all die Skizzen, Notizen, Miniaturen und Anekdoten seien so schnell wieder vergessen, wie sie gelesen sind – bereits noch wenigen Seiten wird man den eigenen Irrtum erkennen. Dann nämlich hat einen das Buch schon um den Finger gewickelt – und man möchte auch gar nicht mehr davon loskommen, sondern kommt der Einladung zur literarischen Erkundungsreise freudig und gespannt nach. Weiterlesen

Der Bachmann-Preis 2013 ist vorbei, schauen wir vor der Sommerpause doch noch einmal schnell in die Gewinnerin von 2012 hinein. Schon beim Titel hat man die leichte Vorahnung, dass es eher eine abstrakte Angelegenheit wird, und damit liegt man auch nicht falsch. Aber um das Schlüsselbein von Mörike geht es wirklich. Versprochen. Weiterlesen

Michael Hardt und Antonio Negri sind neben Slavoj Žižek und Alain Badiou so etwas wie die Superstars der radikalen Linken. Bekannt wurden der US-amerikanische Literaturwissenschaftler und der italienische Politologe mit ihrer Analyse der Herrschaftsverhältnisse im gegenwärtigen Kapitalismus. »Empire – die neue Weltordnung«, 2000 erschienen und 2002 ins Deutsche übersetzt, wurde kontrovers diskutiert und übte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die globalisierungskritische Bewegung und andere linke Strömungen aus. Es folgten dann binnen weniger Jahre zwei weitere Schriften, »Multitude« und »Commen Wealth«, die den mit »Empire« eingeschlagenen Weg fortzuführen versuchten. In »Multitude« konkretisieren die Autoren ihre Vorstellung einer Vielfalt (Multitude) von Singularitäten, die sie den vermeintlich homogenen Kollektiven der Vergangenheit entgegen setzen. »Common Wealth« plädiert für eine Auflösung des Privateigentums und die Schaffung von demokratisch verwalteten Kollektivgütern, so genannten Commons. Und nun: »Demokratie! Wofür wir kämpfen«, eine 120 Seiten umfassende Streitschrift, die auf Englisch und unter dem schlichten Titel »Declaration« zuvor schon einige Zeit im Internet kursierte. Weiterlesen

Vor einem fremden Bücherregal, in einer hippen Berliner Wohnung, perfekt eingerichtet und doch oder gerade deshalb eine »aufdringliche Langweile« verströmend, nimmt die Liebe ihren Anfang. Sie, Philosophin und somit qua Profession Bescheid wissend, korrigiert seine Aussprache des Neuplatonikers Plotin – »Plo-tiehn!« – , den er in seiner Unwissenheit für einen Vorsokratiker hält. Er, erfolgreicher Modejournalist (»Ich habe den absurdesten Beruf der Welt«) und über weite Strecken Erzähler dieses großartigen Romans, ist darüber so entzückt, dass er sich auf der Stelle in Julia Speer verliebt. Dann geht alles ganz schnell. Knutschen. SMS. Nächstes Treffen am darauf folgenden Tag. Wieder Knutschen. Noch mehr SMS. Und so weiter, und so fort. Aber: kein Sex. Das ist ungewöhnlich, aber dann wiederum auch nicht so ungewöhnlich. Immerhin geht es um Liebe. Reine, pure Liebe, (neu-)platonisch sozusagen. Weiterlesen

Hierzulande nennt man die orangefarbenen Zitrusfrüchte Apfelsinen. Darin (wie auch im niederländischen »appelsien«) klingt noch die ursprüngliche Herkunft der Früchte an – China. Doch Linus, der Protagonist in Truus Mattis Roman »Apfelsinen für Mister Orange«, nennt den Mann, dessen Namen sich der Sohn eines Obst- und Gemüsehändlers nicht merken kann und dem er alle zwei Wochen eine Kiste mit besagtem Obst ins Atelier bringt, einfach »Mister Orange«. Das ist wenig verwunderlich, spielt die Geschichte doch auch in New York.

Linus, der tagsüber mit seinem Obst- und Gemüsekarren durch die Straßen von Manhattan zieht, hat diese Aufgabe genau wie die neuen, noch etwas zu großen Schuhe, vom älteren Bruder Apke (eigentlich Alfred) geerbt, der im Laufe des Romans als freiwilliger Soldat in den Zweiten Weltkrieg ziehen wird. Doch der Reihe nach. Weiterlesen

613EgruTmNLDer Name »Emil« steht für gute Unterhaltung. Jedes Kind kennt die Geschichte vom Jungen, der nach Berlin fährt und im Zug einem Herrn mit steifem Hut begegnet. Oder denken wir an »Emil Grünbär«, das Kinderbuch von Janosch. Und natürlich Emil Steinberger, den berühmten Schweizer Kabarettisten. Um diesen soll es im Folgenden auch gehen, wurde er doch dieses Jahr achtzig Jahre alt. Das zum Anlass nehmend, erschien in der Perlenreihe des knapp-Verlags sein neues Buch »Lachtzig«, eine liebevolle Hommage von und für den wohl humorvollsten Achtzigjährigen der Schweiz. Weiterlesen

Auch wenn die letzten Schokoladenhasen vielleicht noch übrig geblieben sind, Ostern ist schon eine Weile her. Das soll für uns aber kein Grund sein, Büchern, in denen Hasen vorkommen, erst im nächsten Jahr wieder Beachtung zu schenken. Erst recht dann nicht, wenn sie so genial sind wie das der englischen Künstlerin Philippa Leathers. »Schwarzhase«, so heißt ihr (erstes!) Bilderbuch, und ein Hase spielt, wer hätte es gedacht, die Hauptrolle. Das klingt zunächst einmal banal und Hasen(bilder)bücher gibt es viele, auch aus England: Beatrix Potters »Peter Hase«, den Klassiker »Die Häschenschule« hierzulande oder Helme Heines »Hase mit der roten Nase«, um nur einige von ihnen zu nennen. Aber »Schwarzhase« ist anders. Weiterlesen

Taufrisch ist sie nicht mehr, Tzvetan Todorovs »Einführung in die fantastische Literatur«, und wer hier einen Überblick über Motive und Tendenzen der fantastischen Literatur der vergangenen Jahre erwartet, launig und gut lesbar aufbereitet, ist klar an der falschen Adresse. Aber eine solch zusammenfassender Abriss mit Anspruch auf Unterhaltung wie auf Information war auch schon bei Erscheinen nicht das Ziel der knappen Studie. Stattdessen betreibt Todorov Literaturwissenschaft mit Betonung auf Wissenschaft, und das wirkt in einer Zeit, in der die Grenzen zwischen wissenschaftlichem Schreiben und quasi-literarischer Essayistik zunehmend verschwimmen, in höchstem Maße unzeitgemäß. Der analytische Rigorismus, mit dem hier der Literatur auf den Leib gerückt wird, ist heute kaum mehr zu finden. Er gehört ganz einer Epoche an, in welcher der Strukturalismus das maßgebliche Paradigma der Literaturwissenschaft war, verbunden mit bis heute klingenden Namen: Roland Barthes, Umberto Eco, Julia Kristeva. Und nicht zuletzt: Tzvetan Todorov. Weiterlesen