31gvRQpPobL._SX321_BO1,204,203,200_Peter Kurzeck ist tot und das ist einfach eine verdammte Schande, anders kann man das wirklich nicht ausdrücken. Nicht nur, dass mit dem im November 2013 verstorbenen Autor einer der bedeutendsten und gleichzeitig im Verhältnis kaum wahrgenommenen Gegenwartsliteraten verloren ging, Kurzeck starb auch noch, bevor er sein Opus Magnus, die mehrbändige Chronik „Das alte Jahrhundert“ beenden konnte. Nun erschien, als kleiner Trost für all die, die Peter Kurzeck kannten und schätzten, „Bis er kommt“ im wunderbaren Verlag Stroemfeld/Roter Stern: der letzte, fragmentarische Band der Reihe, an dem der Autor bis kurz vor seinem Tod gearbeitet hatte.

An dieser Stelle kurz vorweg: „Bis er kommt“ setzt die Erzählungen aus „Das alte Jahrhundert“ fort, allerdings nicht auf eine Weise, dass man das Fragment ohne weiteres Vorwissen nicht dennoch verstehen könnte. Dass die Handlung relativ zeitnahe an „Vorabend“ (2011) anknüpft, den vorhergehenden Band der Chronik, zeigt sich bereits am Ende des ersten Kapitels, als Jürgen anruft, ein alter Freund, der in „Vorabend“ den Erzähler mit dessen Frau Sibylle und Kind Carina als Gastgeber bei sich empfing und inzwischen mit seiner Freundin Pascale nach Südfrankreich ausgewandert ist. Eben jene Pascale stellt die Problematik der Erzählung dar, denn sie hat Jürgen kurz vor seinem Anruf verlassen, da das gemeinsame Restaurant in Barjac nicht so lukrativ lief wie erwartet, ohne dass er gewusst hätte, wohin sie ging. Ihre Abwesenheit, Jürgens Warten und seine Anrufe bilden fortan einen zweiten Handlungsstrang, der sich parallel zum Alltag des Protagonisten spannt und immer wieder in (wortwörtlichen) Kontakt mit diesem tritt. Die erzählten Tage werden immer wieder von den Anrufen durchwirkt, sodass der Wartende, dessen Verharren an Becketts „Warten auf Godot“ erinnert, beinahe einen festen Platz in der Haupthandlung zu haben scheint.

Leider bleibt die Frage offen, ob Pascale schließlich zurückkehrt, oder ob Jürgen tatsächlich wie Estragon und Wladimir für immer wartend bleibt, denn das Manuskript endet recht abrupt mitten im siebzehnten Kapitel. Bedenkt man die schiere Länge der vorhergegangenen Bände, so wäre eine Erwartung von vielleicht 300 – 600 Seiten fehlender Erzählung sicher nicht überschätzt. So kann der geneigte Leser nur Rätseln, wie die Geschichte von „Das alte Jahrhundert“ weiter- und ausgehen mag, doch Grund zur völligen Verzweiflung ist das natürlich nicht: Denn zum einen lässt die quasi-autobiographische Tendenz der Erzählungen erahnen, wie es mit dem Leben des Protagonisten Peter Kurzeck weitergegangen sein wird, zum anderen ist die editorische Arbeit des Verlages mehr als atemberaubend: Beinahe die Hälfte des Bandes besteht aus Notizen, Anmerkungen, digitalisierten Typoskripten und Notizzetteln Kurzecks, denen zum Teil sogar Scans der Originale angefügt sind. Hier kann man beinahe nicht mehr von editorischer Arbeit sprechen, vielmehr ist es, als würde man im Appendix einer Biographie blättern. Angesichts dieser Leistung bleibt es nur zu hoffen, dass der Rest des gewaltigen Nachlasses von Peter Kurzeck auf dieselbe Art und Weise aufgearbeitet werden wird, denn nicht weniger hätte der Autor verdient.

Was das Werk selbst angeht, sollten Kurzeck-Kenner bereits wissen, was sie erwartet, und für jene, die es werden wollen, stellt „Bis er kommt“ einen guten Einstieg dar. Kurzecks verschlungene Sprache, die kontinuierlichen Abschweifungen und stream of consciousness-Gedankengänge erinnern immer wieder an Autoren wie Arno Schmidt oder Uwe Johnson, seine Liebe zu den kleinen Dingen in seiner Erzählung macht ihn jedoch weitestgehend einzigartig. Jeder Gegenstand, ob es nun ein Wecker oder ein Notizbuch sein mag, hat im Kurzeckschen Universum sowohl seinen eigenen Platz als auch eine eigene Genealogie und Motivation. So lässt sich über besagten Wecker beispielsweise lesen:

Die einzige Uhr in der Wohnung. Manchmal auf Sibylles Nachtschränkchen. Steht und starrt eckig. Oft lang mit dem Gesicht zur Wand. Oder ein bisschen weiter weg. Auf der Truhe, die von Sibylles Großmutter ist. Schwarz wie Ebenholz in einem Märchen ist diese Truhe. Der Wecker manchmal auch hinter der Truhe auf dem Fußboden. Dann ist er beleidigt. Ganz staubig. Verkriecht sich. Spinnweben. Die Zeit spinnt ihn ein.

Es zeugt von der traurigen Natur des heutigen Buchmarktes, dass es nicht Peter Kurzeck ist, der die Verkaufslisten anführt – versinkt doch ein großer Teil der sogenannten „Bestseller“ angesichts dieser Beschreibung eines einfachen Weckers in der absoluten Belanglosigkeit. Doch das Erbe Kurzecks wird – sofern Stroemfeld/Roter Stern seiner lobenswerten Aufgabe stetig nachgeht – sowohl weiter bestehen, als auch weiter wachsen. Wenn das mal keine guten Aussichten sind.

Peter Kurzeck: Bis er kommt. Stroemfeld: Frankfurt 2015.

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