Liegt die Zukunft bereits hinter uns? Benjamin Stein entwirft in seiner kühlen sozial-medialen Utopie »Replay« das Bild eines gläsernen Menschen, der sich freiwillig der Diktatur der Technologie unterwirft.
Menschen tragen in dieser nahen Zukunft ein Implantat namens »UniCom«. Es zeichnet die Bilder des Lebens auf: Erwachen, den Gang zur Toilette, Gespräche, erotische Erlebnisse. Alles kann der Träger im Nachhinein bearbeiten, er kann die aufgezeichneten Bilder immer wieder neu betrachten und durchleben. Und das Beste: All diese beliebigen, persönlichen Augenblicke können über eine Datenbank mit anderen Implantat-Trägern geteilt werden, die wiederum all diese Erlebnisse selbst durchleben können.
Es ist das Weiterspinnen des Social-Media-Wahns, wie wir ihn bisher kennen: Menschen filmen oder fotografieren ihr Leben, platzieren diese Aufnahmen im Internet, während die Betrachter der Aufzeichnungen zu jeder Zeit diese kommentieren und bewerten können. Diese Welt, die Benjamin Stein in seinem dritten Roman entwirft, die gibt es schon – doch ist sie noch nicht ganz so pervers und hypersozial, wie sie in »Replay« vorgedacht wird.

Ich fürchte mich vor Erscheinungen, die ich nicht selbst erfunden habe.

Die Geschichte ist schnell umrissen: Der Chefentwickler des Implantats, Ed Rosen, hat sich verfangen in dieser Welt, zwischen Aufzeichnungen und gegenwärtig Erlebtem. Der Leser ahnt dies schon bald, doch verfällt auch er der Faszination der Reproduktion des Erlebten. Im Vordergrund stehen hierbei sexuelle Ereignisse, die Ed Rosen immer wieder vor dem geistigen Auge abspielen lässt, sie immer wieder neu durchlebt. Es spielt keine Rolle, wie viel Zeit seit der Aufzeichnung vergangen ist – denn die Gegenwart ist uninteressant, sofern sie das Aufgezeichnete nicht überbieten kann. Was zählt, das ist einzig die Realität, die das »UniCom« seinem Träger vorspielt. Das Glück, so will es Ed Rosen, ist ein immerwährender und immer abrufbarer Zustand.

Der Verführung dieses radikalen Konstruktivismus, den Benjamin Stein in »Replay« beschreibt, kann sich der Leser kaum erwehren: Die Realität wird von den Trägern des »UniCom« im Geiste konstruiert, es ist ein willkürliches Springen zwischen den intensivsten, schönsten Aufzeichnungen des bisherigen Lebens und den damit einhergehenden Sinnesreizen. Fast scheint dies wie eine Spielart des Solipsismus: Ein paar gute Jahre und glückliche Momente reichen dem Träger des »UniComs« aus, um sich seine Welt aus den Erinnerungen immer wieder neu zusammenzubauen. Eine tatsächliche Welt brauchte es nicht mehr. Das Bewusstsein schafft sie sich schon selbst.

Die Pornoindustrie, die damals wegen der vielen freien Quellen im Netz kränkelnd darniederlag, sprang mit Begeisterung auf den Zug auf.

Foto: © Chris Janik (2011)
Benjamin Stein (Foto: © Chris Janik (2011))

Ed Rosen, Entwickler und erster Träger des »UniComs«, steht dem Implantat unvoreingenommen und naiv gegenüber. Man würde ihm gerne Dürrenmatts »Die Physiker« in sein »UniCom« eintrichtern, ihm seine Verantwortung für diese soziale Diktatur verdeutlichen. Stattdessen beobachtet man sich selbst, wie man Freunden via Facebook den visuellen Buchtrailer des Buches auf die Pinnwand postet. Die totale Transparenz, das stetige Konsumieren von Glück ist verführerisch – doch macht es auch stumpf und abhängig. Kann man dieser Sucht entrinnen? Ed Rosen beantwortet diese Frage am Ende des Romans.

Krell leuchten die Warnsignale in just diesem Moment, in dem Rosen von seinem Kompagnon Matana über das Wesen sozialer Netzwerkdienste unterrichtet wird:
»Es gibt in diesen wuchernden Systemen so gut wie keine Funktion negativer Rückkopplung. Man kann Interessantes weiterverbreiten und Beiträge anderer mit einem Klick auf den Like-Button adeln. Einen Dislike-Button hingegen gibt es nicht. Kein Benutzer wird darüber informiert, wenn er von anderen geblockt wurde. Das System bietet nur Funktionen an, die zur noch intensiveren Nutzung des Systems motivieren. Sie animieren dazu, mehr und mehr Menschen zu involvieren.«
Und weiter: »Es ist wie eine Umpolung des Wattschen Dampfreglers. Je schneller die Maschine dreht, desto mehr Dampf gibt das Ventil frei. Systemtheoretisch betrachtet, kann ein solches dynamisches System, das sich allein auf positive Rückkopplung stützt, nur in die Katastrophe steuern. Aus winzigen Turbulenzen werden wahre Stürme, eine sich immer schneller drehende Spirale ungebremster Wucherung.«

Ich höre den Jingle der Corporation, und kaum hat der erste Beitrag begonnen, habe ich gar keine Lust mehr, aufzustehen und aus dem Haus zu gehen.

Wohin die Reise führt? Sicherlich nicht in die Unendlichkeit. Es ist eine grandiose Selbsttäuschung, eine Utopie, die bitter schmeckt, weil sie nicht wirklich utopisch zu sein scheint. Benjamin Stein hat mit »Replay« einen Roman geschrieben, der lange nachwirkt, der Angst macht, entsetzt. Und den man nicht aus der Hand legen kann, ehe man ihn zu Ende gelesen hat.

Benjamin Stein: »Replay«. C.H. Beck: München 2012.

Dietmar Dath, Schriftsteller und Journalist, und Barbara Kirchner, Professorin für theoretische Chemie, haben ein Buch geschrieben mit dem sperrigen Titel »Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee«. Doch ist der Titel allein, verglichen mit dem, was die Lektüre dieses buchgewordenen Ungetüms dem geneigten Leser abverlangt, noch vergleichsweise harmlos, denn auf gut 800 Seiten gehen Dath und Kirchner der Frage nach, »ob und wie so etwas wie sozialer Fortschritt gedacht und, wichtiger, gemacht werden kann«. Dazu durchforsten sie die Tiefen und Untiefen von Wissenschaft und Philosophie, Kunst und Literatur und picken sich heraus, was ihnen gelegen kommt und was gerade passt. Das Resultat ist ein Buch, das in seiner Komplexität und Vielschichtigkeit kaum zu fassen ist, so vollgepackt mit Informationen, Reflexionen und Ideen ist es. Weiterlesen

beginnersEs ist das Ende, das entscheidet. In der erschütternden Kurzgeschichte »Sag den Frauen, wir gehen« wird es deutlich, welche Auswirkungen die Arbeit des Lektoren Gordon Lish auf die Texte von Raymond Carver hatte. Plötzlich ist alles anders.

Doch der Reihe nach: Die Short Stories von Carver, die John Updike und Philip Roth zum Schreiben bemüßigten, faszinierten die Verschwörungstheoretiker über Jahre hinweg: Was bleibt übrig von Carver, wenn man Lish subtrahiert? Ist Carver überhaupt Carver? Was ist Carver wirklich? Ist es wahr, dass die Texte von Raymond Carver, der als »the godfather of literary „minimalism“«¹ gefeiert wird, von seinem Lektoren Gordon Lish nicht nur teilweise bis zu 70% reduziert wurden, sondern auch Handlungen und auch Charaktere gebeugt wurden?

Nur schwerlich konnte man diese Gerüchte auf den Prüfstand stellen, galten die Manuskripte doch  mitunter verschollen. Dem italienischen Schriftsteller und Literaturkritiker Alessandro Baricco fiel einst das Original der Kurzgeschichte »One more thing« in die Hände, die er sogleich mit der veröffentlichten Version verglich. Erschüttert schrieb er: »Es ist, als ob man entdeckt, dass die Originalversion von „Warten auf Godot“ damit endet, dass Godot auftaucht und etwas Sentimentales sagt.«² Baricco fragte, ob »eines der größten Vorbilder zeitgenössischer Erzählkunst ein künstliches Modell war. Im Labor erzeugt.«² Doch kann man diesen Sachverhalt verifizieren, wenn nur ein einziger Textvergleich der Öffentlichkeit vorliegt?

»Das nennst du Liebe, L.D.?«, sagte sie und blickte ihm ins Gesicht. Es war ein grausamer, bohrender Blick, und er hielt ihn aus, solange er konnte.

Im Jahre 2009 gaben Tess Gallagher, die Witwe Raymond Carvers, William L. Stull und Maureen P. Carroll »Beginners« heraus, die Manuskripte der berühmten Kurzgeschichten-Kollektion »What we talk about when we talk about love«, die in der Bibliothek der Universität Indiana lagerten. Ausgehend hierfür ist das Manuskript, das Carver 1980 an Gordon Lish schickte. Lish kürzte diese Versionen um mehr als 50%. Die Veröffentlichung von »Beginners« im Jahre 2009 war eine Sensation, führten diese Manuskripte doch der staunenden Weltöffentlichkeit vor, wie unterschiedlich Originale und späteren Veröffentlichungen tatsächlich waren. Nun veröffentlicht der S. Fischer Verlag diese Manuskripte erstmals in deutscher Sprache.

Raymond Carver
Raymond Carver

Auch in den präzisen Übersetzungen von Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié und Antje Rávic Strubel wird deutlich, wie wichtig die Lakonie, die Aussparungen, das Skizzenhafte der Kurzgeschichten Carvers ist. In den Originalversionen tauchen plötzlich Namen auf, wo man bisher Anonymität vermutete. Weiterhin knapp, skizzenhaft, beängstigend – denn das konnte auch Carver. Doch sind die Sätze bei ihm länger, ausgeschmückt. Biografische Verweise vertiefen die Charaktere, Schauplätze werden offensichtlich. Es ist insbesondere das Ende, die letzten Zeilen der Kurzgeschichte »Sag den Frauen, wir gehen«, das vorführt, wie Carver seine Geschichten entwarf und Lish sie zu Ende dachte.

Die »bedrohliche Ästhetik«, der »K-Mart-Realismus«, das wird hier deutlich, ist mitunter ein Verdienst der sprachlichen Radikalität von Gordon Lish. Carvers eigentlicher Sound ist weicher, beinahe versöhnlicher. Doch sind seine Geschichten in der ursprünglichen Version immer subtiler, in ihrer Deutlichkeit noch verstörender. Baricco schreibt: »Carver hatte vielleicht etwas Schreckliches, doch Faszinierendes im Kopf. Dass das Leid der Opfer unbedeutend ist.«²

»Am Morgen gießt sie mir Teacher’s Whisky auf den Bauch und leckt ihn ab. Am Nachmittag versucht sie aus dem Fenster zu springen.«

Lish verknappte die Geschichten, brach sie auf ihr Skelett herunter. Härter als Hemingway, trostloser als Updike – die Short Stories erzählen das Leben der Verlierer des American Dreams. Getrieben von Alkohol und anderen Süchten, manövrieren sich die Charaktere in eine unausweichliche Isolation. Die Leiden dieser amerikanischen Untergeher sind es, die ein Bild von Amerika zeichnen, welches es so in der Literatur nicht eben häufig gibt. Seine Geschichten sind allesamt suchterregend, in ihrer Ödnis faszinierend brutal. Es ist ein bisschen so, wie beim Trinken eines Whiskeys: Man kann das nur in Maßen genießen, Schluck für Schluck. Ist man maßlos, dann wird man stumpf und besoffen vor Destruktivität und Angst. Es geht dem Leser so, wie Carvers Charakteren.

Doch sind es nur die Geschichten, die ausschlaggeben sind? Was ist mit der Atmosphäre, dem Stil, dem Sound? Die Lakonie, die Aussparungen – sie tragen maßgeblich zur Faszination der Kurzgeschichten bei. Es ist nicht zu leugnen.

Gordon Lish
Gordon Lish

Die Eingriffe Lishs ließen Carver nicht kalt, sie zermürbten ihn. »Beginners: Uncut – Die Originalfassungen« ist eine Auswahl der Briefe angefügt, die Carver an seinen Lektoren schrieb. Hin- und hergerissen zwischen Dank, Unterwerfung, Verzweiflung und Unsicherheit, schrieb Carver:

»Wenn das Buch herauskommt und ich […] das Gefühl habe, dass ich zu viele Zugeständnisse gemacht habe, […] dann kann ich mir selbst nicht in die Augen schauen und vielleicht nie wieder schreiben.«

Bleibt die Frage, von welcher Relevanz diese Offenlegung nun in der Rezeption der Kurzgeschichten Carvers ist. Spielt es eine Rolle? Verlieren die Geschichten nun ihre Faszination? Nein.

Die Veröffentlichung von »Beginners: Uncut – Die Originalfassungen« ist eine Erweiterung der verstörenden Weltansicht Carvers. Sie zeigen das Elend in größeren Ausschnitten, pathetischer vielleicht, aber nicht eben liebevoller. Es ist der Beweis, dass Raymond Carver der große Schriftsteller war, für den man ihn seit »Will you please be quiet, please?« halten konnte: Als mitunter wichtigste Stimme der zeitgenössischen amerikanischen Literatur.

Raymond Carver: »Beginners: Uncut – Die Originalfassungen«. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié und Antje Rávic Strubel. S. Fischer Verlag:  Frankfurt 2012.

 

¹ Kirk Nesset, »The Stories of Raymond Carver. A Critical Study«, Athens: Ohio University Press, 1995, S. 2.

² Alessandro Baricco, »Godot ist doch gekommen. Wie Lektoren Literaturgeschichte umschreiben«, in: Die Welt, 29.05.19999, S. 9.

An die Arbeitsweise des Journalisten richten sich besondere Ansprüche. So hat sich ein Journalist natürlich an die Fakten zu halten, klar, aber Fakten können auch der Literatur als Grundlage dienen. Wo ist also der Unterschied? Vielleicht liegt der Unterschied darin, dass Literatur nicht »wahr« sein muss, während ein journalistischer Text sehr wohl einer »Wahrheit« verpflichtet ist, um es pathetisch zu sagen. Aber was heißt das, einer »Wahrheit« verpflichtet zu sein? Worin besteht diese »Wahrheit« des Journalismus? Das ist keine rhetorische Frage, im Gegenteil. Zweifellos ist es eine grundlegende Frage, aber darum ist sie nicht weniger komplex. Was macht also einen gelungenen journalistischen Beitrag, einen »wahren« Beitrag aus? Zumindest im deutschsprachigen Raum wird diese Frage oft mit dem seltsamen Wort »Objektivität« beantwortet. Dagegen ist zweierlei einzuwenden: Erstens, dass es diese Objektivität, außer vielleicht als Ideal, nicht gibt und nicht geben kann. Man kann sich einem Sachverhalt von unterschiedlichen Seiten nähern, man kann verschiedene Zugänge einander entgegen halten und abwägen, aber das ist nicht objektiv, sondern allenfalls intersubjektiv, und auch dies nur in einem beschränkten Maße. Und zweitens, dass der Anspruch auf Objektivität leider mitunter dazu führt, dass journalistischen Texte eine Nüchternheit, ja man möchte sagen: eine Langeweile und eine Ödnis an den Tag legen, weil sie der irrigen Annahme folgen, dass der Verzicht auf rhetorische Mittel und sprachliche Finessen einen Text automatisch objektiv mache – nach dem Motto: nichts wagen, auch nicht sprachlich, und bloß nicht »ich« sagen. Weiterlesen

Joachim Lottmann. Der »Erfinder der deutschsprachigen Popliteratur«. Der »Erfolgsschriftsteller«. Der »Anti-Goetz«. Joachim Lottmann ist wieder da. War er denn jemals weg? Nein, eigentlich nicht. Und hat sich etwas geändert im »Kosmos Lottmann«? Nein, eigentlich nicht. Lottmann geht unbeirrt seinen Weg und schreibt wie er immer schreibt. Immerhin eine Konstante bei all den Höhen und Tiefen in Lottmanns Leben, von dem ja seine Erzählungen und Romane handeln – zumindest, wenn man dem Verfasser glaubt. Denn, so schreibt Lottmann in seinem Blog, seine Bücher basieren allesamt auf Erlebnissen, die zunächst in Tagebuchform festgehalten sind und die anschließend eine literarische Umsetzung gefunden haben. Weiterlesen

Keine Feststellung ist so banal, als dass man sie nicht unendlich oft wiederholen könnte. So vergeht kaum eine Woche, in der nicht die Zukunft des gedruckten Buches mit einem großen Fragezeichen versehen wird. Glaubt man dem kulturpessimistischen Raunen in den deutschen Feuilletons, dann läutet das unvermeidliche Ende des Buchzeitalters mindestens den Untergang der abendländischen Zivilisation ein. Denn zu den Opfern dieser Entwicklung zählten unmittelbar zwar die Verlage und Autoren, mittelbar sei aber die gesamte Kulturlandschaft betroffen. Und wer ist Schuld? Selbstverständlich das Internet. Das Internet schafft sie schließlich alle – darunter macht es kaum einer. Was natürlich Unsinn ist, aber an einer auch nur halbwegs realistischen Prognose ist den vermeintlichen Kassandras der Kulturkritik nicht gelegen. Wenn zum Beispiel die Unterstützer des so genannten »Heidelberger Appells« um den Literaturwissenschaftler Roland Reuß unter anderem gegen die Digitalisierungsbemühungen von »Google Book Search« protestieren, dann geht es – der vorgeblichen hehren Sorge um »die Freiheit von Literatur, Kunst und Wissenschaft« zum Trotz – vor allem um die Sicherung der eigenen Pfründe. Die Befürchtung: eine Aushöhlung, wenn nicht gar eine Abschaffung des Urheberrechts in seiner jetzigen Form. Dass dieses Urheberrecht eine relativ neue Institution ist, deren Etablierung historisch an den Siegeszug eben jener kapitalistischen Eigentumsordnung und Produktionsweise gekoppelt ist, die momentan allenthalben den Bach runter geht, spielt in der Argumentation der gut situierten Besitzstandswahrer aus nahe liegenden Gründen keine Rolle.

Auf der anderen Seite stehen einige Stimmen der Vernunft, die die Digitalisierung des Buchmarkts als Chance, zumindest aber als eine im Prinzip unaufhaltsame Entwicklung begreifen, mit der sich die Betroffenen wohl oder übel arrangieren werden müssen. Einschätzungen dieser Art dürften in vielen Aspekten weitaus realistischer sein als das monotone Lamento der üblichen kulturpessimistischen Jammerlappen, doch gehen auch sie häufig von der Prämisse aus, dass es mit dem gedruckten Buch bald endgültig vorbei sein wird. Und selbst wenn das nicht explizit gesagt wird, so wird dieser Verlauf der Dinge doch zumindest suggeriert, wenn die Debatte um die zunehmende Digitalisierung ohne Verweise auf das Buch in seiner gedruckten Form geführt wird – gleich so als hätte das eine mit dem anderen nichts zu tun. In der Tat sind sich in diesem Punkt Befürworter und Kritiker erstaunlich oft einig und bilden so ironischerweise ein unfreiwilliges Bündnis gegen all jene, die der naiven Auffassung sind, dass sich auf dem Buchmarkt rein gar nichts ändern wird. Aber ist das Ende des Buchs wirklich so sicher? Fakt ist, dass die Kulturlandschaft der Zukunft anders aussehen wird als die heutige, und daran werden die veränderten Produktions- und Distributionsbedingungen einen entscheidenden Anteil haben. Die Verlage und ihre Autoren werden sich auf die digitale Herausforderung einstellen müssen, oder sie werden untergehen. Aus dieser im Grunde trivialen Einsicht aber das Ende des gedruckten Buches abzuleiten, ist eine gewagte These. Schließlich bietet das Internet der Literatur schon heute ungeahnte Möglichkeiten und die Literatur ergreift sie. Warum also nicht beides – gedruckte und digitale Medien?

Erich Mühsam: »Tagebücher«. Erster Band: 1910-1911. Verbrecher Verlag: Berlin 2011. 

Eistee, Flachbildschirme und Strandpartys – es sind die Säulen eines beklemmenden Schreckens-Szenarios. Leif Randt entwirft in seinem Roman „Schimmernder Dunst über Coby County“ eine milde Utopie, einen Wohlfühl-Schauder, in dem jeder Satz bedrohlich wirkt.

„Als wir die Kinder von Coby County waren, wussten wir noch nicht, dass wir an einem der besten Orte der Welt lebten. Heute ahnen wir es. Aber das macht es nicht leichter.“

In Coby County schmerzt das Leben nicht, es ist wohltemperiert und vitaminreich. Den Menschen hier geht es gut, Geld ist zu genüge vorhanden, die Ernährung ist sehr bewusst und die College-Jacken von modischem Chic. Man arbeitet hier in der Mode- und Kosmetikbranche, in Medien- oder Dienstleistungsunternehmen. Der Mittzwanziger Wim Endersson lebt als Verlagslektor ein ausgeruhtes Leben. Gerne fährt er mit seinem besten Freund Wesley Alec Prince auf trendigen Fahrrädern durch das sonnengeflutete Coby County, entlang der Strandpromenade, vorbei an Hotelkomplexen und dem BakeryExpress. Nizza fällt dem Leser hier ein, vielleicht auch Miami – doch ist Coby County ein Ort jenseits des Globus. Menschen kommen aus Europa, aus Amerika angereist, um hier den Frühling zu erleben. Touristen, die aus ihrer Lebenswirklichkeit ausbrechen, um sich auf Wasserbetten auszuruhen und Wodka-Apfelsaft zu trinken. Das Wetter ist mild, im Winter regnet es ab und an. Für die Einwohner der Stadt ein allgegenwärtiger Zustand des Glücks. Amerikanische Highschool-Serien wie etwa „Dawson‘s Creek“ oder „O.C., California“ stehen für den Sound und die Atmosphäre dieses Wellness-Paradieses Pate.

„Als Teenager sind wir davon ausgegangen, dass ein Leben in kleinen, in sich abgeschlossenen Episoden stattfindet. Also haben wir uns irgendwann zum ersten Mal verliebt und es zu sinnlichen Knutschszenen auf Wiesen und Anhöhen kommen lassen. Später mussten wir tragische Trennungen hinnehmen und feierten dann aus Trotz ausschweifende Tanzpartys am Strand. […] Gut daran ist, dass sich bis heute nie etwas verschlechtert hat.“

Wim, ein Kind der Sonne, ist stolz auf die leichte Melancholie, die er in seine E-Mails einstreut, die er in wohldurchdachten SMS durchschimmern lässt. Jeder seiner Sätze ist konstruiert, jede Kommunikation reflektiert. Wim weiß genau, weshalb seine Freundin Carla Keyboard spielen sollte oder sein Freund Wesley ab und an Coby County verlassen muss. Wim lässt sich nicht locker und strengt sich ungeheuer an, so wahrgenommen zu werden, wie er es für richtig hält. Er ist damit nicht alleine. Alle Einwohner Coby Countys verhalten sich cool, gelassen, souverän – doch niemals natürlich.

Die wohlige Kulisse von Coby County beginnt zu bröckeln, als die Hochbahn entgleist und einige Menschen dadurch in Lebensgefahr geraten. Plötzlich scheint die Zeit still zu stehen. Die Menschen sind schockiert, die Nachrichtensprecher hyperventilieren und daten stetig News up. Die allgegenwärtige Unaufgeregtheit bricht für einen Moment in sich zusammen.
Es ist ein nichtiges Ereignis, das von den Menschen aufgeblasen wird. Es ist genauso nichtig wie eine Undergroundparty in einer Shopping-Mall oder das drohende Unwetter, das von einigen Einwohnern zur Apokalypse heraufbeschworen wird.

„Am Tag danach wissen wir eigentlich nicht, ob das Handynetz jemals ausgefallen war. Jedenfalls können wir nun, seit wir unsere Telefone wieder eingeschaltet haben, auch problemlos Kurznachrichten und Anrufe empfangen.“

Leif Randt (© Simon Vu)

Der Erzähler wirkt mindestens ebenso sachlich und souverän wie Wim. Der Fokus weicht niemals ab, kommentiert nicht. Trocken und verständnisvoll wird berichtet, wie dieses watteweiche Leben ab und an von der Seite angepustet wird. Doch entwickelt man im Laufe der knapp 200 Seiten eine eigenartige Sympathie für den Protagonisten, der mit großen Augen staunend auf die Welt blickt. Er kennt keine Niedertracht und Falschheit, keine Gemeinheit. Notlügen, das ist das Äußerste der Gefühle. Es ist das Bild, das man längst vom unbekümmerten, tumben Apple-Nutzer entwickelt hat, der über seinen iPod Songs von Coldplay hört. Wüsste man es nicht besser, so würde man Wim Endersson als Autisten beschreiben.

Dieses brutale Offenlegen von Unzulänglichkeiten und die Schilderung einer verdrehten Moral hat sich Randt bei Bret Easton Ellis abgeschaut. Auch Randt ist mit seinen Charakteren schonungslos. Doch ist seine Brutalität subtiler. Er lässt den Leser in die Falle seiner Wohlfül-Welt hineintappen. Bis dieser merkt, dass er sich in der Seichtheit von Coby County verfangen hat, ist es zu spät. „Schimmernder Dunst über Coby County“ denkt das zu Ende, was Christian Kracht in „Faserland“ umrissen hat. Eine gleichgeschaltete Gesellschaft, die sich in ihrer vermeintlichen Individualisierung verirrt.

„Ich höre auf zu tippen, weil plötzlich mein Handy in der Sporttasche vibriert. Ich kann Wesleys Namen durch das dünne Nylon des Außenfachs hindurch auf dem Display leuchten sehen. Ich zögere für einen Moment, greife zuerst nach einem Weingummi, aber dann doch nach dem Telefon.“

Dass der Leser am Ende dieses ungeheuerlichen Romans selbst ins Visier gerät, dass er sich ob seiner eigenen Position gewahr wird, das ist das Verdienst von Leif Randt. Ein Roman, der Menschen zum Nachdenken zwingt, zum Reflektieren. Und dabei so süffig geschrieben ist, dass man ihn nicht aus der Hand legen will. Der letzte deutschsprachige Autor, dem dies geglückt ist, ist Christian Kracht. Leif Randt wird mit seinem zweiten Roman nun zwar kein neues Zeitalter deutschsprachiger Literatur einleiten, doch hat er sie auf eine neue Ebene gehoben. So kühl und so beängstigend.

Leif Randt: „Schimmernder Dunst über Coby County“. Bloomsbury Verlag:  Berlin 2011.

Wie sehr das ganze Dasein dieses Volkes auf einer fortlaufenden Lüge beruht, wird in unvergleichlicher Art in den von den Juden so unendlich gehassten »Protokollen der Weisen von Zion« gezeigt. Sie sollen auf einer Fälschung beruhen, stöhnt immer wieder die »Frankfurter Zeitung« in die Welt hinaus: der beste Beweis dafür, dass sie echt sind… Wenn das Buch erst einmal Gemeingut eines Volkes geworden sein wird, darf die jüdische Gefahr auch schon als gebrochen gelten.

Diese Einschätzung eines gescheiterten österreichischen Kunstmalers zitiert Umberto Ecos »Der Friedhof in Prag« in seinem Anmerkungsapparat. Auch die genaue Quelle ist angegeben: Adolf Hitlers »Mein Kampf«, erster Band, von 1925. Die Vorgeschichte der von Hitler und anderen Antisemiten aufgegriffenen »Protokolle der Weisen von Zion«, die erstmals 1905 auf Russisch erschienen sind und sich innerhalb kürzester Zeit verbreitet haben, steht im Zentrum von Ecos jüngstem Roman. Und obwohl die Handlung dementsprechend ausschließlich im neunzehnten Jahrhundert angesiedelt ist, zunächst in Italien und später dann in der französischen Metropole Paris, ist »Der Friedhof in Prag« von höchster Aktualität in einer Zeit, in der in den Feuilletons und anderswo über die Chancen und Risiken einer kommentierten Publikation von »Mein Kampf» diskutiert wird, während gleichzeitig judenfeindliche Ressentiments einer neuen Studie zufolge in ganz Deutschland stetig zunehmen. Weiterlesen

Der Debütroman »Gegen die Welt« von Jan Brandt erzählt die Geschichte des Antihelden Daniel Kuper, der im Sturmlauf gegen ein Dorf anrennt, das in einem der Höllenkreise Dantes seine Entsprechung finden könnte.
Doch ist das Dorf Jericho, in dem sich die Rahmenhandlung des über 900 Seiten starken Buches abspielt, ein klarer Verweis auf jenes Jericho, das im Buch Josua von den Israeliten eingenommen und zerstört wird. Das biblische Jericho also sinnstiftend für das fiktive nordfriesische Jericho. Doch statt dem Einsturz der Stadtmauern wird hier der Sturz eines jungen Menschen evoziert und das nicht etwa von einer feindlichen Invasion, sondern von der Familie, der Stadtgemeinschaft, vom direkten Umfeld. Daniel Kuper bricht an der Selbstsucht, am Unvermögen, an der Dummheit seiner unmittelbaren Umgebung.
»Gegen die Welt« ist eine moderne Hiob-Geschichte. Doch kennt sie kein glückliches Ende.

»Gott wird dich nicht so einfach gehen lassen«, brüllte er, mit der Linken hielt er Daniel am Kragen fest, mit der Rechten ohrfeigte er ihn noch einmal. »Nicht, bis du Buße getan und ihn um Vergebung gebeten hast.«

Jan Brandt wurde 1974 in Leer geboren, eine jener nordfriesischen Städte, auf deren Koordinaten dieses fiktive Jericho gepflanzt wurde. In Anlehnung an Uwe Johnsons »Mutmassungen über Jakob«, das in einem Dorf namens Jerichow spielt, entwickelt Brandt eine Welt voller Niedertracht und Leugnung, Versagensängsten, Verzweiflung und Wut.

Virtuos spielt Brandt mit typografischen Elementen, mit Perspektiven und Erzählfiguren. Diese Stilmittel sind essentiell für die Geschichte, für den Leser. Manchmal rauscht dieser atemlos durch den Roman. Manchmal stockt die Erzählung, weil der geschilderte Ausschnitt aufs Äußerste gespannt wird. So etwa die Schilderung des Todes eines Mitschülers von Daniel Kuper. Der Roman teilt sich hier auf, in oben und unten. Oben wird die Geschichte überspannter Jugendlicher erzählt, die in ihrer Langeweile zergehen, an den unsichtbaren Stadtmauern Jerichos verzweifeln und ihre einhergehende Wut, ihren unaussprechlichen Frust aufeinander projizieren. Unten, da wird die Geschichte des Lokführers erzählt, der den Jungen bald überfahren wird.

Der Tod spielt in »Gegen die Welt« eine zentrale Rolle. Alle begegnen sie ihm. Immer wieder. Doch wird er niemals in Frage gestellt, niemals thematisiert. Nur Daniel Kuper scheint die Schuldfrage zu stellen. Doch gibt es für die Bürger Jerichos nur einen Makel: den Protagonisten. Ob nun der Dorfpfarrer den Jugendlichen verprügelt, der Chefredakteur der Lokalnachrichten den Praktikanten verstummen lässt oder sich der Vater illoyal seinem Sohn gegenüber verhält – immer wieder ist es Daniel, der für die Schwächen und Fehlbarkeiten der vermeintlich Stärkeren büßen muss. Wenn sie auch nicht viel gemein haben, so vereint in diesem Dorf doch Niedertracht alle auftretenden Personen.

Jan Brandt (© Dumont Buchverlag)

Schon bald stellt der Leser fest, dass die hierarchische Struktur dieser Gemeinde nicht aufgebrochen werden kann. Der angehende Bürgermeister zitiert bei einer beängstigenden Wahlkampfveranstaltung unverhohlen Passagen aus Hitlers »Mein Kampf«. Daniel Kuper erkennt dies, stellt jedoch bald fest, dass die Einwohner Jerichos kein Interesse an seiner Erkenntnis haben. Sie registrieren nur das, was sie registrieren wollen. Moral spielt für sie keine Rolle, Treue und Aufrichtigkeit auch nicht.

Von da an war Daniel der Spinner. Alle behaupteten, er behauptete, von Außerirdischen entführt und im Mais wieder abgesetzt worden zu sein. Dabei war er unfähig, über das, was tatsächlich passiert war, zu sprechen.

So kann „Gegen die Welt“ als ein Generationenroman gelesen werden. Als eine Bestandsaufnahme von Befindlichkeiten der Menschen, die in den tiefen 70ern irgendwo in Deutschland aufgewachsen sind. Niemals pathetisch, aber immer detailfreudig erzählt Brandt von einem dumpfen Landleben, von Isolation und Wut, sodass dies auch die Geschichte eines Großstadtlebens sein könnte. Der Autor lässt offen, ob es sich hierbei um einen Schlüsselroman handelt. Doch ist sein Erzähler so unzuverlässig, dass die Grenzen zwischen tatsächlich Erlebtem, Erdachtem und Verhandelbarem irgendwo zwischen Science Fiction, Heavy Metal und Theologie-Exzessen verschwimmt.

»Gegen die Welt« ist eine grandiose Kapitulation, ein Manifest des Scheiterns. Dieser Roman kennt viele Wahrheiten, jede Perspektive hat seine eigene, doch ist keine zur Vollständigkeit verpflichtet.
Am Ende gleicht die Geschichte einem Trümmerhaufen. Wracks, Ruinen, Schutt – es sind bloß Menschen.

Jan Brandt: »Gegen die Welt«. Dumont Buchverlag: Köln 2011.
Jan Brandt im Interview.