Als am 28. Juni 1914 der Erzherzog und österreichische Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo von serbischen Attentätern erschossen wurde, befand sich Europa in einem wirren Geflecht aus hegemonialen Interessen, ideologischen Treueversprechungen und nationalistischer Verblendung. Dennoch sah es vorerst nicht danach aus, als würde dieses Ereignis zu einem Krieg führen, die Staatsoberhäupter versuchten, den überkochenden Zorn in der öffentlichen Meinung zu besänftigen, Großbritannien unternahm insgesamt sieben Vermittlungsversuche und die Zweite Internationale tagte weiterhin, um den sozialistischen Zusammenhalt gegen die nationalen Differenzen zu demonstrieren. Innerhalb eines Monats wandelte sich diese Atmosphäre eines gefährdeten Friedens hin zu einer blinden Zerstörungswut, die den ganzen Kontinent in Dunkelheit stürzen sollte. „In ganz Europa gehen die Lichter aus,“ äußert sich der britische Außenminister Edward Grey während der Julikrise zu einem Freund, „wir alle werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen.“
Seitdem wurde viel gesagt, über jenen Krieg, der alle Kriege beenden sollte, und der doch den Grundstein legte für ein Jahrhundert voller Konflikte, über den Mythos des Ersten Weltkriegs und über die, die er verschlang. Man kann in hochglänzenden Bildbänden den noch so grausigsten Schrecken der modernen Kriegsführung betrachten, oder sich in sozial- und politikwissenschaftlichen Aufsätzen über die Auswirkungen informieren, die das „Erdgemetzel“, wie es der deutsche Dramatiker Ernst Toller einst betitelte, auf die Weltpolitik hatte. Das ist insofern auch wichtig und gut, als dass man auch heute, in Zeiten des Internets und der Drohnen, immer noch von dem ersten modernen Krieg der Menschheit lernen kann – zumindest um zu versuchen, die selben Fehler nicht noch einmal zu begehen.
Auch in der Literatur findet der Erste Weltkrieg seine Erwähnung, während Jahrzehnte lang lediglich „Im Westen nichts Neues“, Erich Maria Remarques brillantes Anti-Kriegs-Epos, das eigentlich gar keines ist, seinen Weg in die Bücherregale fand, so tauchen nun allmählich auch andere Werke aus der Versenkung auf, wie die historisch-kritische Ausgabe von Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“, welche vergangenes Jahr bei Klett-Cotta erschien. Doch so breit inzwischen das Spektrum der Publikationen auch ist, bisher mangelte es an einer ausführlichen, synchronen Betrachtung all der kleinen Fragmente der Literatur, die während und über den Ersten Weltkrieg entstanden, ein Kompendium all jener Autoren, die später Weltliteratur schreiben sollten, oder es bereits getan hatten und an denen der Großbrand in Europa nicht so unbemerkt vorbeigegangen ist, wie man es vielleicht auf den ersten Blick erwarten könnte.
Nun hat der Verlag mit den unbestritten schönsten Büchern – Manesse – eben jenes Projekt in Angriff genommen: Das erschienene Sammelwerk „Über den Feldern“, herausgegeben von Horst Lauinger, dem Mannesse Verleger höchstselbst, vereint all die Geschichten, die man bis dato mühsam in Werkausgaben nachschlagen musste, die teilweise sogar kaum erschienen oder übersetzt waren. Die Fülle und Breite der dabei behandelten Autoren ist so gewaltig, dass zum ersten Mal von einer literarischen Chronik des Ersten Weltkriegs gesprochen werden kann, die mit jedem Recht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.
Im Folgenden jedes einzelne der 70 Glanzstücke zu besprechen, würde selbst den Rahmen einer Online-Publikation sprengen, selbst alle Autoren aufzuzählen, wäre dem geneigten Leser vermutlich zu lang und eintönig, abgesehen ginge damit ein wichtiger Aspekt von „Über den Feldern“ verloren: Die Vorfreude. Beim Umblättern von der letzten Seite der vorigen Geschichte, hin zum Titel der nächsten, fühlt man sich wie ein Kind, das ein Weihnachtsgeschenk aus der bunten Verpackung schält, noch weiß man nicht, was einen erwartet, man ahnt nur, dass es etwas schönes sein wird. Vermutlich wurde deshalb auch bewusst auf ein Inhaltsverzeichnis zu Beginn des Buches verzichtet, erst ganz am Schluss findet sich die beeindruckende Aufzählung. Um dem Leser also nicht den Spaß an der Vorfreude zu verderben, werden im Folgenden nur zehn Autoren angekündigt – quasi als literarische Apetizer.
Von Ernest Hemingway kann man lesen, der mit „A Farwell to Arms“ in keiner Geschichtensammlung fehlen sollte, Joseph Roth glänzt mit „Stationschef Fallmerayer“, das erst 1933 von Hermann Kesten verlegt werden sollte und bei Bertolt Brecht zeigt sich mit „Der Vizewachtmeister“ eine bis dato eher unbekannte Seite des Autors. Robert Musil schreibt über „Die Amsel“ (in seiner typisch verschlungenen Form), Stefan Zweig über den „Flüchtling“ und Alfred Döblin erzählt in „Die Schlacht, die Schlacht!“ die Geschichte derer, die zwischen den Granattrichtern und Stacheldrahtverhauen vergessen wurden. Von Karl Kraus finden sich gleich zwei Meisterwerke („Der seelische Aufschwung auf einer Fahrt der Elektrischen Baden-Wien“ und „Zwischen den Schlachten“), von Heinrich Mann nur eines, das ist dafür umso besser, „Der Mörder“ liefert eine beängstige psychologische Studie der menschlichen Gier. Luigi Pirandelllo beschreibt in „Berecche und der Krieg“ die italienische Sicht auf den ersten Weltkrieg und selbst Franz Kafka,in dessen Geschichten nur äußerst selten ein zeitlicher Bezug ausmachen lässt, ist in zwei Fällen vertreten: dem allseits bekannten „Kübelreiter“ und „Traum von der Schlacht“, einer Tagebuchprosa, die zwischen den Zeilen erkennen lässt, wie nahe der Krieg dem sensiblen Autor ging.
Wie die vorangegangene Aufzählung vermuten lässt, finden sich in „Über den Feldern“ die verschiedensten Nationalitäten und Ideologien versammelt und somit zeigt sich auch die vermutlich wichtigste Eigenschaft des Sammelwerks: Es ist fair. Motivation der Editoren schien weder das Herausstellen eines Schuldigen gewesen zu sein, noch das falsche Gutmenschentum, das mit erhobenem Zeigefinger die Gewalt tadelt, während es die andere dem Mörder reicht.
Vielleicht ist „Über den Feldern“ eine treffende, historische Chronik – vielleicht ist es aber auch mehr als das. Denn letztendlich können auch wir, mit unseren Internet-Portalen, unseren Drohnen und unserer einseitigen Berichterstattung noch etwas vom Ersten Weltkrieg lernen.
Horst Lauinger (Hrsg.): Über den Feldern. Manesse: München 2014