Es ist schon verhext: Hunderte Male steigt man in den Zug, fährt von A nach B, liest dazwischen ein gutes Buch und steigt wieder aus. Und dann liegt auf einmal alles lahm, Bahnhöfe erinnern an Flüchtlingslager in der dritten Welt und alle schimpfen, mit unterschiedlichen Sündenböcken, vor sich hin. Als wäre das alles vorauszusehen gewesen, erschien kurz vor der Buchmesse ein kleines, auf den ersten Blick unscheinbares Büchlein im Wagenbach-Verlag. „Störung im Betriebslauf“ steht in nüchternen, schwarzen Lettern auf dem himmelblauen Cover, das mehr an einen S-Bahn-Fahrplan erinnert als an ein literarisches Produkt, und doch verbirgt sich hinter der schlichten Aufmachung eine der besten Ideen des Jahres.
Es ist Klaus Wagenbach höchstselbst, seines Zeichens Verleger und passionierter Bahnfahrer, der als Herausgeber ein Sortiment an Kurzgeschichten versammelt, die den Leser auf seiner Reise mit dem Nahverkehr (momentan die ratsame Alternative) begleiten sollen. Ist schon die Auswahl der beteiligten Autoren selbst eine sehr lobenswerte Entscheidung – dazu später mehr – so steckt der eigentliche Clou in der Aufbereitung: Sämtliche Geschichten sind, anhand von Länge und literarischer Verdaulichkeit, sortiert und in Gruppen eingeteilt, deren Name den Lesezweck in sich trägt. So finden sich im ersten Teil kleine, mundgerechte Häppchen, die man „auf dem Bahnsteig“ genießen kann, während die S-Bahn (wieder einmal) Verspätung hat, im nächsten Kapitel haben die Geschichten die Länge einer „Kurzstrecke“ und so geht es weiter, bis man im letzten Abschnitt des Buches Unterhaltung für „Überlandfahrten“ oder den „Halt auf offener Strecke“ findet.
Das Ganze ist nicht ohne Humor gestaltet, so wird der bedauernswerte Leser, der seine Brille vergessen hat, auf der ersten Seite mit einer in Originaltypographie (und daher übergroß) gedruckten Kurzgeschichte Franz Kafkas getröstet und in der Mitte des Buches findet sich die überaus nützliche Unterbrechung „Fahrscheinkontrolle“ mit zwei Kürzestgeschichten – denn wer kennt sie nicht, die Momente, in denen man den Schaffner schon im Gang erspäht und das Buch zur Seite legt, um dann zähflüssig die Minuten totzuschlagen, bis sich der Gesetzeshüter mit der Kapitänsmütze seinen Weg bis zu einem durch gebahnt hat – und dabei hätte man in der Zeit doch noch so viel lesen können.
Es ist ein brillantes Konzept, das dem Leser zwar eine Handreichung zum Gebrauch bietet, ihm aber nicht den eigenen Willen aufdrückt… so kann man beispielsweise auch alle 77 Geschichten in einem Rutsch lesen, während man auf einem verlassenen Bahnsteig auf einen Zug wartet, der vermutlich dieses Jahr gar nicht mehr kommt. Dabei kommt der Lektüre die erhebliche Vielfalt der Texte zugute, die zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass der Wagenbach-Verlag in diesem kurzen Band einige der namhaftesten deutschsprachigen Autoren versammelt, von Ilse Aichinger und Heinrich Böll bis Urs Widmer und Ror Wolf. Da sich zwischen Titanen wie Alexander Kluge und Franz Hohler auch jüngere, und zum Teil weniger etablierte Literaten befinden, könnte es natürlich auch leicht passieren, dass das Werk zu einer Art Zweiklassensystem wird, in welchem ein ungeduldiger Leser von einem Büchnerpreisträger zum nächsten blättert. Zum Glück ist dies nicht der Fall, denn der Herausgeber entschied sich bewusst dafür, die Namen der Autoren erst im Anhang zu offenbaren. Somit hat jeder Text dieselbe Chance, den Rezipienten zu überzeugen, ungeachtet von Name und Reputation des Verfassers – „Der tapfere Leser wartet bis zum Schluss [bevor er im Register nachschlägt]“, fordert Klaus Wagenbach im Einband heraus. Der Rezensent muss an dieser Stelle zugeben, dass er nicht besonders tapfer war, und dennoch war gab es immer wieder überraschende Momente, wenn beispielsweise hinter einer zaghaft-melancholischen Kurzgeschichte über eine geistig umnachtete Hirtin plötzlich das avantgardistische Genie Arno Schmidts auftaucht.
Somit ist „Störung im Betriebslauf“ alles andere als nur ein schnöder S-Bahn-Fahrplan, hinter der schlichten Aufmachung und der Bescheidenheit des Herausgebers steckt eine editorische Brillanz, die ihresgleichen sucht. Gerade in schweren Zeiten wie diesen, in denen man als Reisender quasi aus dem Koffer lebt und sich von den Erzeugnissen der diversen Würstchenverkäufer ernähren muss, sollte diese Lektüre in keiner Bahnhofsbuchhandlung fehlen.
Klaus Wagenbach (Hrsg.): Störung im Betriebslauf. Wagenbach: Berlin 2014