Boyle_24737_MR.inddEs gibt viele Gründe, T. C. Boyle zu lesen. Und trotzdem fällt es schwer, zu beschreiben, welche Art von Geschichten er erzählt. Auf den ersten Blick wirkt das gewaltige Konglomerat aus kurzen Erzählungen und Romanen mit den verschiedensten Strömungen und Themen durchwachsen, ein heterogenes Gestrüpp der unterschiedlichsten literarischen und politischen Epochen. Doch je näher man die einzelnen Geschichten betrachtet, je näher man mit dem Objektiv des Lesers an die einzelnen Figuren heranrückt, um in beinahe voyeuristischer Manier ihr Schicksal zu betrachten, desto mehr wird ein roter Faden auffällig, eine Grundierung, die sich unter allem befindet. Natürlich variieren Setting und Handlung von Buchdeckel zu Buchdeckel, mal dreht es sich um den Erfinder der Frühstücksflocken, mal um Stuntmen und Marihuana-Bauern, und dennoch hat man bei der Lektüre immer den selben Geschmack im Mund, eine morbide Faszination am Unheil und die Gewissheit, dass es zu solchem kommen wird. Weiterlesen

T.C. Boyle muss man nun wirklich nicht mehr vorstellen. Der Schlacks mit dem schönen Zweitnamen Coraghessan gehört zu den ganz Großen der amerikanischen Literatur.
Entsprechend groß ist die Nervosität, als wir die Lounge des Stuttgarter Hotels »Am Schlossgarten« betreten. Schicke Sessel, edles Interieur. Und inmitten: ein überaus freundlicher T.C. Boyle. Nur müde sei er, denn die Deutschlandtour sei wohl doch sehr strapaziös. Und in wenigen Stunden stehe schon die nächste Lesung auf dem Programm. Aber zum Glück können wir noch ein paar Fragen loswerden, bevor der Meister zum Nickerchen in seine Suite entschwindet.
     

Boyle macht es sich bequem
T.C. Boyle macht es sich in Stuttgart bequem

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…sagt der Bärbeiß zum Tingeli. Und das will bei einem echten Bärbeiß etwas heißen. Als durch und durch schlecht gelaunter Kerl kann er wohl nicht anders, als seiner Freude auf diese Art und Weise Ausdruck zu verleihen. Die Wörterbuch-Definitionen für »bärbeißig« reichen von »auf mürrische bis grimmige Weise grob« über »brummig-unfreundlich« bis hin zu »griesgrämig und übellaunig«. »Der Bärbeiß« von Annette Pehnt, im August beim Hanser Verlag erschienen, macht seinem Namen alle Ehre. Am Anfang jedenfalls. Die neuen Nachbarn (er ist erst vor kurzem umgezogen), lassen sich davon abschrecken. Bis auf das Tingeli:

Das einzige Geschöpf, das immer wieder klingelte, war das Ting
eli. Es hatte nichts anderes zu tun, als herumzutänzeln, Nachbarn zu besuchen, Katzen zu streicheln und Blütenblätter zu zählen.

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Zugegeben, bis der 14jährige Protagonist in Louis Jensens Roman »33 Cent – um ein Leben zu retten« auszieht – was in seinem Fall bedeutet, dass er sich zusammen mit Freundin Anne in einem gestohlenen Supermarkt-Lkw voller Lebensmittel auf den Weg gen Marokko macht – dauert es eine Weile. Aber der Reihe nach. Mit dem Wissen, dass man nur 33 Cent am Tag braucht, um ein afrikanisches Kind vor dem Verhungern zu retten, fängt für ihn, der gleichzeitig auch Erzähler ist, alles an.

Er beschließt zu handeln. Zunächst bewegt er sich dabei noch auf der legalen Seite, verkauft die Hälfte seiner eigenen Sachen, sammelt Spenden, fängt an, in einem Supermarkt zu arbeiten und geht nur noch jeden zweiten Tag zur Schule, um mehr Geld verdienen zu können. Aber dabei bleibt es nicht, es folgen Ladendiebstähle, schließlich beklaut er auch seinen Vater, einen Richter, indem er Geld von dessen Konto nach Afrika überweist. Weiterlesen

Nora Bossong (Foto: Erwin Elsner)

Handtücher kann man noch nicht aus dem Internet herunterladen. Und trotzdem steht die Frottee-Firma »Tietjen & Söhne« vor dem Aus. In ihrem dritten Roman erzählt Nora Bossong schwungvoll vom Aufstieg und Fall eines Essener Familienunternehmens. Einem Unternehmen, dem es nicht gelingen will, in dieser globalisierten Welt Fuß zu fassen.

Rund 100 Jahre hat die Firma auf dem Buckel, der Gründer Justus Tietjen konnte einst das kaiserliche Heer mit Handtüchern aus dem Hause »Tietjen & Söhne« versorgen. Es war der größte Triumph der Firmengeschichte. Die Nachfahren Justus Tietjens verwalten die Firma, machen aus ihr sogar kurzzeitig eine Luxus-Marke. Welche Rolle »Tietjen & Söhne« bei den Nazis spielte, das wird innerhalb der Familie verschwiegen. Ein Handtuch, auf dem ein kleines Hackenkreuz gestickt ist, verschwindet still und leise. New York will die Firma ab den Fünfzigern erobern. Ein Plan, an dem die jeweiligen Geschäftsführer kläglich scheitern. Auch Kurt Tietjen, der den Laden in den Achtzigern übernimmt, wird an der Metropole scheitern.

Es klang wie ein leiser Zweifel, aber Kurt wusste, dass es mehr als das war.

Nora Bossong erzählt in »Gesellschaft mit beschränkter Haftung« von einer Welt, die nahe zusammengerückt ist und keine Schwachen, Zweifler, Abwägenden gebrauchen kann. Es ist ein Generationen-, ein Bildungs-, ein Firmen-Roman. Es ist ein Buch, einmal angefangen zu lesen, das man nicht aus der Hand legen wird.

Die Crux der Determination: Kurt Tietjen will sich in der Rolle als Chef von knapp 250 Mitarbeitern nicht gefallen. Er ist hineingeboren, in diese harte Hierarchie und sein Vater macht ihm stets deutlich: »Ohne die Firma gäbe es weder dich noch mich!« Die Firma wird auch zum Mittelpunkt des Lebens von Kurt, der eine Frau heiratet, für die er zwar keine innige Liebe empfindet, aber immerhin lässt sie ihn in Frieden. Im Laufe der Jahre beginnt Kurt zu grübeln: Was ist Freiheit? Ist dieses Leben überhaupt lebenswert? Trotz des Wohlstands?

Ihm war nicht nach Reisen zumute. Ihm war nicht einmal danach zumute, anwesend zu sein.

Den Verpflichtungen überdrüssig, taucht Kurt am Ende seiner beruflichen Karriere in den dunklen Gassen New Yorks ab. Luise Tietjen, Kurts Tochter, muss nun die Geschäftsführung von »Tietjen & Söhne« übernehmen. Luise, gerade im Begriff, ihr Philosophie-Studium zu beenden, schlägt sich nun mit Gläubigern herum, mit Analysten und selbstgerechten Firmenteilhabern. Stets hat sie ihren Vater für seine Arroganz und sein Desinteresse verachtet, nun stürzt sie selbst kopfüber in die Hölle der Abhängigkeiten und nimmt Charakterzüge des Vaters an.
Nora Bossong erzählt die Geschichte des Unternehmens aus der Perspektive von Luise und ihrem Vater Kurt. Es ist ein mitreißender, ein meisterlicher Roman, den Nora Bossong geschrieben hat. Mit viel Schwung erzählt sie von gescheiterten Lebensentwürfen und Versagensängsten. Das Herbeisehnen der eigenen Kapitulation und die Verdeckung eigener Schwächen.

Doch ist »Gesellschaft mit beschränkter Haftung« auch die Geschichte von »Schlecker«, von »Neckermann«, der »Frankfurter Rundschau«  und den anderen traditionsreichen (Familien-) Unternehmen, die dem rasanten Tempo und den Ansprüchen dieser Welt nicht standhalten konnten.
Dank Nora Bossongs Roman versteht man diesen Wahnsinn ein Stückchen besser.

Nora Bossong: »Gesellschaft mit beschränkter Haftung«. Carl Hanser Verlag: München 2012.

 

Olga Grjasnowa veröffentlichte im Februar 2012 ihren Debütroman »Der Russe ist einer, der Birken liebt«, der sogleich auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2012 gewählt wurde. Der Roman erzählt von Mascha, einer jüdischen Aserbaidschanerin, die von Deutschland nach Israel reist. Es ist die »Geschichte einer Generation, die keine Grenzen kennt, aber auch keine Heimat hat.«

Die Autorin im Interview auf der Frankfurter Buchmesse über Anton Tschechow, das Paris der 20er Jahre und einen Studienabschluss, der auf dem Arbeitsmarkt nichts wert ist. Weiterlesen

Antje Damm (Foto: Leonie Damm)

Eine Kugel aus Grashalmen, gerade so groß, dass sie gut in eine kleine Hand passt, steht am Anfang und am Ende von Antje Damms Geschichte »Kiki«, die morgen beim Hanser Verlag erscheint. Die Kugel war das letzte Geschenk, das Antje, die Protagonistin, von ihrer Freundin Kiki bekommen hat, denn Kiki ist tot. Der Tod von Kiki steht allerdings nicht im Fokus der Handlung, es geht der Autorin vielmehr darum von der Freundschaft der beiden Mädchen zu erzählen, von dem, was sie in ihrer gemeinsamen Zeit erleben.

Die inzwischen gelb gewordenen und vertrockneten Grashalme zu Beginn der Geschichte verdeutlichen den zeitlichen Abstand, der zwischen Rahmen- und Binnenerzählung liegt. Antje, die mittlerweile erwachsen gewordene Ich-Erzählerin, kennt die Überraschung, die ihre Freundin darin für sie versteckt hat, immer noch nicht:

Ich weiß nicht, was es ist, denn dafür hätte ich die Kugel kaputtmachen müssen und das wollte ich nicht. Aber ihre Geschichte, die kann ich euch erzählen.

Und das tut sie dann auch. Sie erzählt den Lesern die Geschichte jener Kugel, die Geschichte von ihrer Freundschaft zu Kiki: Antje und Kiki, die eigentlich Kirsten heißt, lernen sich im Herbst, kurz nachdem Antje mit ihren Eltern und den zwei kleinen Brüdern aufs Land gezogen ist, kennen. Die Freundschaft ihrer Mütter bringt die beiden Mädchen zusammen und sie entdecken schnell ihre Sympathie füreinander. Es folgt ein Jahr voller gemeinsamer Erlebnisse und Abenteuer. Kiki ist die abenteuerlustigere von beiden, sie ist unbekümmerter, sorgloser und bringt die etwas vorsichtigere Antje manchmal dazu, an ihre Grenzen gehen und sie zu überschreiten – etwa dann, wenn sie Kiki dazu animiert, etwas im Mohr, dem kleinen Lebensmittelgeschäft ein paar Straßen weiter, zu klauen:

Als wir um die Ecke gebogen waren, schwenkte ich die Möhren vor ihrer Nase rum und rief: „Ich hab mich getraut!“ Kiki sagte: „Na ja, Möhren hätte ich ja nicht gerade geklaut.

Ihre gemeinsame Geschichte endet an einem grauen Novembertag, an dem Kiki einen tödlichen Verkehrsunfall hat. Obwohl, tut sie das wirklich? Eigentlich nicht, denn die Erinnerung an Kiki bleibt. Sie ist selbst bei der erwachsenen Antje noch so lebendig, dass sie ihre Leser auf eine authentische Reise in ihre Kindheit mitnehmen kann. Antje Damm ist es gelungen, glaubwürdig und liebevoll von der Freundschaft zwischen zwei Kindern zu erzählen, einer Freundschaft, die schön und traurig zugleich ist, weil sie viel zu schnell vorbei ist.

Und was in dem Strohkügelchen drinsteckt, das Kiki für ihre Freundin gebastelt hat, bleibt auch am Ende offen:

Vielleicht ist gerade die Vorfreude, noch etwas von Kiki zu bekommen, so schön, dass ich es nie öffnen werde.

Antje Damm: Kiki. Carl Hanser Verlag: München 2012. Zum Vorlesen und ersten Selberlesen.