Wenngleich „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ von Haruki Murakami eine recht kleine Geschichte erzählt, so erfasst sie doch ebenso präzise und berührend die Gefühlsregungen der menschlichen Psyche wie seine vorherigen Werke auch. Wie für Murakami typisch, handelt es sich bei dem Protagonisten, Tsukuru Tazaki, um einen eher durchschnittlichen jungen Mann in seinen Mittdreißigern, der mit seinen regelmäßigen Gesichtszügen ein unauffälliges Leben voller zweckmäßiger Routinen führt. Auch typisch ist Tsukurus manchmal mehr, manchmal weniger sichtbare Depression, die unterschwellig aus jeder Zeile des Buches strömt.

Tsukuru Tazaki war als Jugendlicher Teil einer eingeschweißten Gruppe aus fünf Freunden. Sie alle unterschieden sich in ihren Charakteren und ihrem Aussehen stark, zusammen jedoch ergaben sie ein Pentagon der Harmonie.

 „Es war wie bei einer zufälligen, aber gelungenen chemischen Verbindung. Selbst bei Verwendung der exakt gleichen Inhaltsstoffe würde kaum noch einmal das gleiche Ergebnis zustande kommen.“

Die beiden Mädchen Shiro (Weiß) und Kuro (Schwarz) bildeten eine faszinierende Einheit aus Zartheit und Empfindsamkeit auf der einen, sowie Emanzipation und mentaler Stärke auf der anderen Seite. Außer Tsukuru gab es noch zwei Jungen in der Fünfergruppe: Aka (Rot), der für seinen Intellekt und eine gewisse Reizbarkeit bekannt war, und Ao (Blau) dessen Begeisterungsfähigkeit und physische Stärke einen Gegenpol dazu bildeten.

Tsukuru war der Einzige, aus dessen Name sich kein farbiger Spitzname ableiten ließ. Sein Name bedeutet schlicht „machen“ oder „etwas tun“. Aus seiner eigenen Perspektive hatte er jedoch nie eine besonders hervorstechende Eigenschaft. Zwar schien etwas an ihm für die Harmonie der Gruppe unabkömmlich zu sein, er selbst nahm sich jedoch als völlig farblos wahr. So fühlte er sich dieser einzigartigen Freundschaft seit jeher unwürdig.

 „Je mehr Tsukuru darüber nachdachte, desto weniger verstand er es. Den eigenen Wert bemessen zu wollen, ähnelte dem Versuch, eine Substanz zu wiegen, für die es keine Maßeinheit gab.“

Umso tiefer traf es ihn, als ihm diese vier Menschen in seinem zwanzigsten Lebensjahr die Freundschaft frist- und erklärungslos kündigten. Auf seine zögernde Nachfrage nach dem Grund dafür, wurde ihm in abweisendem Ton nahegelegt, darüber gründlich nachzudenken. Was Tsukuru in den folgenden Jahren nur allzu gewissenhaft tat. Er verfiel in eine ernstzunehmende Depression, magerte bedenklich ab und vergrub das Erlebte schließlich tief in seinem Innern.

 „In der Dämmerung kamen Vögel mit messerscharfen Schnäbeln und rissen erbarmungslos Stücke aus seinem Fleisch. Doch sobald die Dunkelheit sich herniedersenkte und die Vögel fort waren, füllten sich die hohlen Ausbuchtungen an seinem Körper lautlos mit einer anderen Substanz wieder auf.“

Sechzehn Jahre später lernt Tsukuru die erste Frau kennen, die er jemals wirklich begehrt, und begibt sich auf eine Pilgerreise in seine Vergangenheit, um Klarheit für sich und seine Zukunft zu erlangen.

„Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ ist eines der wenigen Werke von Murakami, die ohne surreale Elemente auskommen. Für Leser, die seine bizarreren Geschichten bisher abgeschreckt haben, stellt es damit eine Chance dar, seinen brillanten und unverwechselbaren Stil fernab von sprechenden Katzen und tanzenden Schafsmännern zu entdecken. Ein weiterer Murakami von ungewöhnlicher Zartheit, die niemandem entgehen sollte.

„Lautlos drang die Vergangenheit in die Gegenwart ein. Wie Rauch, der sich durch einen winzigen Spalt in der Tür ins Zimmer stiehlt. Geruchloser, farbloser Rauch.“

 

Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki. DuMont Buchverlag: Köln 2014.

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