Taufrisch ist sie nicht mehr, Tzvetan Todorovs »Einführung in die fantastische Literatur«, und wer hier einen Überblick über Motive und Tendenzen der fantastischen Literatur der vergangenen Jahre erwartet, launig und gut lesbar aufbereitet, ist klar an der falschen Adresse. Aber eine solch zusammenfassender Abriss mit Anspruch auf Unterhaltung wie auf Information war auch schon bei Erscheinen nicht das Ziel der knappen Studie. Stattdessen betreibt Todorov Literaturwissenschaft mit Betonung auf Wissenschaft, und das wirkt in einer Zeit, in der die Grenzen zwischen wissenschaftlichem Schreiben und quasi-literarischer Essayistik zunehmend verschwimmen, in höchstem Maße unzeitgemäß. Der analytische Rigorismus, mit dem hier der Literatur auf den Leib gerückt wird, ist heute kaum mehr zu finden. Er gehört ganz einer Epoche an, in welcher der Strukturalismus das maßgebliche Paradigma der Literaturwissenschaft war, verbunden mit bis heute klingenden Namen: Roland Barthes, Umberto Eco, Julia Kristeva. Und nicht zuletzt: Tzvetan Todorov.

Todorovs Studie, in der französischen Originalfassung erstmals 1970 bei Editions de Seul in Paris erschienen, unternimmt nichts Geringeres als eine Neubestimmung des Fantastischen auf Grundlage strukturalistischer Theoriebildung. Das Fantastische sieht Todorov in einem Moment der Ungewissheit und des Zweifels – wenn der Leser nicht weiß, ob die übernatürlichen Phänomene im Text Realität sind oder auf Täuschung beruhen. Somit markiert es eine Grenze, es steht zwischen zwei Gattungen, dem Wunderbaren und dem Unheimlichen. Und es ist zeitlich begrenzt, immer von der Auflösung bedroht.

[Das Fantastische währt] nur so lange wie die Unschlüssigkeit: […] Am Ende der Geschichte kommt […] der Leser zu einer Entscheidung; er wählt die eine oder die andere Lösung und tritt durch eben diesen Akt aus dem Fantastischen heraus. Wenn er sich dafür entscheidet, daß die Gesetze der Realität intakt bleiben und eine Erklärung der beschriebenen Phänomene zulassen, dann sagen wir, daß dieses Werk einer anderen Gattung zugehört: dem Unheimlichen. Wenn er sich im Gegenteil dafür entscheidet, daß man neue Naturgesetze anerkennen muß, aus denen das Phänomen dann erklärt werden kann, so treten wir in die Gattung des Wunderbaren ein.

Diese Minimalbestimmung des Fantastischen ist weit entfernt von dem, was man üblicherweise mit dem Prädikat »fantastisch« belegt, auch in der Literaturkritik. Viele Text, die als fantastisch gelten, fallen nach dieser Definition entweder dem Wunderbaren oder dem Unheimlichen zu. Doch auch wenn es zunächst befremden mag: Todorov gelingen auf Basis dieser Bestimmung interessante Einsichten in die Funktionsweise von fantastischer Literatur. Dabei operiert er stets nah am Text, belegt seine theoretischen Befunde mit zahlreichen Beispielen. Viele dieser Beispiele sind der französischen Literatur entnommen und dürften dem deutschen Leser fremd sein, aber es gelangen auch E.T.A. Hoffmann und Edgar Allen Poe zu Ehren. Zudem streift Todorov en passent auch immer wieder grundsätzliche Fragen zum Verständnis von Literatur, etwa zum Verhältnis von Allegorie und Poesie oder zur Stellung der Gattungstheorie. Und auch wenn gerade diese generellen Ausführungen mitunter in steilen Thesen gipfeln, so ist doch Erkenntnis ein steter Begleiter bei der Lektüre dieser Studie. Dass der Verlag Klaus Wagenbach die »Einführung in die fantastische Literatur« nun nach langer Zeit wieder einem deutschsprachigen Publikum zugänglich macht, ist aber nicht nur ein Glücksfall für Literaturwissenschaftler. Die Lektüre kann in der Tat auch Vergnügen bereiten. Wer Spaß an Exaktheit und Präzision, an der Klarheit der Sprache und des Denkens findet, der ist hier bestens aufgehoben.

Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur. Aus dem Französischen von Karin Kersten, Senta Metz und Caroline Neubaur. Verlag Klaus Wagenbach: Berlin 2013. 

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