Michael Hardt und Antonio Negri sind neben Slavoj Žižek und Alain Badiou so etwas wie die Superstars der radikalen Linken. Bekannt wurden der US-amerikanische Literaturwissenschaftler und der italienische Politologe mit ihrer Analyse der Herrschaftsverhältnisse im gegenwärtigen Kapitalismus. »Empire – die neue Weltordnung«, 2000 erschienen und 2002 ins Deutsche übersetzt, wurde kontrovers diskutiert und übte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die globalisierungskritische Bewegung und andere linke Strömungen aus. Es folgten dann binnen weniger Jahre zwei weitere Schriften, »Multitude« und »Commen Wealth«, die den mit »Empire« eingeschlagenen Weg fortzuführen versuchten. In »Multitude« konkretisieren die Autoren ihre Vorstellung einer Vielfalt (Multitude) von Singularitäten, die sie den vermeintlich homogenen Kollektiven der Vergangenheit entgegen setzen. »Common Wealth« plädiert für eine Auflösung des Privateigentums und die Schaffung von demokratisch verwalteten Kollektivgütern, so genannten Commons. Und nun: »Demokratie! Wofür wir kämpfen«, eine 120 Seiten umfassende Streitschrift, die auf Englisch und unter dem schlichten Titel »Declaration« zuvor schon einige Zeit im Internet kursierte.

Die neuen sozialen Bewegungen schreiben heute ein Handbuch für den Aufbau einer neuen Gesellschaft.

Mutig preschen die Autoren vor und prophezeien das nahende Ende der Welt, wie wir sie kennen: „Demokratie!“ deutet die sozialen Bewegungen und Rebellionen, die in den letzten Jahren nahezu über den ganzen Erdball verteilt aufkamen und mitunter ganze Staaten zu Fall brachten, als Symptome einer allgemeinen Auflösung der derzeitigen politischen und wirtschaftlichen Ordnungen. Die Riots in England, der so genannte arabische Frühling, die spanischen Indignados sowie die  Occupy-Bewegung sind für Hardt und Negri allesamt Manifestationen eines indifferenten globalen Widerstands, Erscheinungsformen der Multitude. Es geht folglich auf analytischer Ebene zunächst um ein Verständnis dieser Entwicklungen und Phänomene, das trotz aller Divergenzen von einer gemeinsamen Basis ausgeht, von einer globalen Solidarität, die die engen Grenzen von Staaten und Kulturkreisen überwindet. Offenbar kommt der von Spinoza inspirierte Begriff der Multitude hier wie gerufen, schließlich bezeichnet er keine monolithische Klasse, sondern ein loses, dezentrales Netzwerk. Und akzeptiert man diese Prämisse, erscheinen Hardt und Negris Ausführungen durchaus aufschlussreich und plausibel – wenn nicht der kraftstrotzende und unangemessen optimistische Tonfall so befremdlich wäre, in dem sie vorgetragen werden.

Doch davon abgesehen: Was ist, wenn man die Prämisse verwirft? In gewisser Weise projizieren die Autoren ihre Begrifflichkeiten auf die historische Situation, statt einer empirisch fundierten Induktion wählen sie den umgekehrten Weg. Oft genug führt das zu einer Geringschätzung, wenn nicht gar Missachtung der tatsächlichen Gegebenheiten, mithin zu einem eingeschränkten Blick, der nur das wahrnimmt, was ins vorgefertigte Raster passt. Hardt und Negri entgehen dieser Gefahr jedenfalls an dieser Stelle aufgrund des Umstands, dass der Begriff der Multitude Abweichungen nicht nur zulässt, sondern von vornherein offen und plural angelegt ist und dadurch die Unterschiedlichkeit der Situationen nicht verdeckt.

Jede dieser Auseinandersetzung ist einmalig und entspringt ganz spezifischen örtlichen Gegebenheiten. Trotzdem fällt sofort auf, dass sie untereinander in Verbindung standen.

Ebenfalls im Begriff der Multitude angelegt ist das Fehlen einer hierarchischen Ordnung und damit verbunden demokratischer Verfahrensweisen, die sich dem Prinzip der Repräsentation verpflichtet sehen. Die parlamentarische Demokratie, so stellen die beiden Autoren keineswegs exklusiv fest, ist an ihr Ende gelangt. Nur was tritt an ihre Stelle? Hardt und Negri fordern eine basisdemokratische Selbstverwaltung, die sich ihrer Legitimation stets aufs Neue durch Mehrheitsentscheidungen versichert. Die Occupy-Bewegung dient ihnen als Vorbild und Inspirationsquelle. Hier erkennen die Autoren den Vorschein einer Gesellschaft, welche ganz im Sinne von Marx auf einer freien Assoziation der Individuen beruht.

Von Kairo und Madrid bis Athen und New York entwickelten die Bewegungen […] horizontale Organisationsformen. Sie errichteten keine Hauptquartiere und beriefen keine Zentralkomitees ein, sondern breiteten sich aus wie Schwärme und entwickelten demokratische Entscheidungsprozesse, mit deren Hilfe alle Beteiligten gemeinsam führten.

Hardt und Negri haben bis zu dem Punkt recht, wo sie wortreich das Scheitern der traditionellen Linken beklagen und die Notwendigkeit einer Überwindung der bestehenden Ordnungen betonen. Gewiss sind die Parteien des alten Typs ebenso antiquiert wie die krisengeschüttelten Nationalstaaten und es müssen neue Formen der politischen Organisation erprobt und etabliert werden. Fraglich ist, ob die neuen sozialen Bewegungen aber eine Antwort auf die Frage liefern, wie die Organisationsformen der Zukunft aussehen könnten. Und mehr noch: Welchen Weg gilt es einzuschlagen? Schließlich sitzt die Herrschaft des Kapitals weiterhin fest im Sattel, wohingegen keine einzige der angeführten Bewegung ihrem Untergang entgehen konnte. Während Occupy allmählich ins Museum wandert, werden die Revolten in Nordafrika vielfach von Islamisten gekapert, siehe Ägypten. Und anders als die unorganisierte und vielgestaltige Multitude sind die islamistischen Gruppen einer rigiden Hierarchie unterworfen und von einer archaischen Ideologie beseelt – vielleicht sind sie aber aufgrund dieser sowohl organisatorischen wie ideologischen Geschlossenheit gegenwärtig auch so erfolgreich. Hardt und Negri glauben dennoch unbeirrt an eine bessere Zukunft auf dem Rücken des Schwarms und appellieren an die Vorstellungskraft.

Wenn wir glauben, dass sich politische Projekte nur mit Hilfe von Führern und zentralen Strukturen organisieren lassen, dann wäre dies ein bedauernswerter Mangel an politischer Fantasie!

Nichts wäre schäbiger, als die Hoffnung auf ein freies und selbstbestimmtes Leben als Träumerei zu diskreditieren. Doch die hoffnungsvollen Vorzeichen, die Hardt und Negri allerorts zu erkennen meinen, sind nicht wirklich, sondern das Ergebnis einer pausenlosen Suggestion. So wird die euphorische Rhetorik zwar vereinzelt durchbrochen von dem schmallippigen Eingeständnis, dass man ja selbst nicht so genau wisse, wie es weiter gehe, und dass es hier und da natürlich auch Rückschläge zu verzeichnen gäbe. Alles in allem lassen sich Hardt und Negri die Hochstimmung aber von der Realität nicht vermiesen. Und darin besteht das Ärgernis: Anstelle einer ausgewogenen Aufstellung der Chancen und Risiken, die die jüngsten Entwicklungen zeitigten, beschwört »Demokratie!« lediglich eine hohle Der-Gegner-liegt-am-Boden-und-wir-schaffen-das-schon-irgendwie-Atmosphäre. »In Ihrer Rebellion muss die Multitude lernen, den Schritt von der Verkündung zur Begründung einer neuen Gesellschaft zu gehen.« Ja, wenn es denn so einfach wäre.

Michael Hardt/ Antonio Negri: Demokratie! Wofür wir kämpfen. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Campus: Frankfurt am Main, New York 2013. 

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