Vor einem fremden Bücherregal, in einer hippen Berliner Wohnung, perfekt eingerichtet und doch oder gerade deshalb eine »aufdringliche Langweile« verströmend, nimmt die Liebe ihren Anfang. Sie, Philosophin und somit qua Profession Bescheid wissend, korrigiert seine Aussprache des Neuplatonikers Plotin – »Plo-tiehn!« – , den er in seiner Unwissenheit für einen Vorsokratiker hält. Er, erfolgreicher Modejournalist (»Ich habe den absurdesten Beruf der Welt«) und über weite Strecken Erzähler dieses großartigen Romans, ist darüber so entzückt, dass er sich auf der Stelle in Julia Speer verliebt. Dann geht alles ganz schnell. Knutschen. SMS. Nächstes Treffen am darauf folgenden Tag. Wieder Knutschen. Noch mehr SMS. Und so weiter, und so fort. Aber: kein Sex. Das ist ungewöhnlich, aber dann wiederum auch nicht so ungewöhnlich. Immerhin geht es um Liebe. Reine, pure Liebe, (neu-)platonisch sozusagen.

Julia ist das Erste, was mir sozusagen vorschwebt, wenn ich aufwache, und Julia ist das Letzte, wenn ich in die Besinnungslosigkeit hinübergleite.

Über Liebe schreiben viel zu viele Menschen. Entweder süßlich verkitscht, mit Herzchen und Küsschen und inflationären Ich-liebe-dich-Schwüren. Das volle Programm eben. Oder zynisch abgeklärt, die ganzen Herzchen und Küsschen und inflationären Ich-liebe-dich-Schwüre verfluchend und in ihrer Banalität und Scheinheiligkeit entlarvend. Joachim Bessing schreibt auch über Liebe, aber anders. Dass auf dem Buchcover ein stilisiertes Herz prangt, ist weder ein Kitschsignal noch eine ironische Geste. »Untitled« ist ein Liebesroman, der es ernst meint und der diese Ernsthaftigkeit auch offen vor sich her trägt. Keine Zurückhaltung, kein augenzwinkerndes als ob subvertiert hier die bedingungslose Heiligkeit der Sache.

Dem Ernst folgt naturgemäß die Tragik. Selbstredend nimmt die Geschichte keinen guten Verlauf, bleibt die Liebe in ihrer Größe und Maßlosigkeit unerwidert. Nach und nach gibt der Protagonist sein altes Leben auf, um sich fürderhin völlig dem geliebten Menschen hinzugeben. Der Name Julia Speer wird ihm zum Lebensinhalt und Lebenszweck, den Buchstaben »J« fotografiert er wo immer er ihm erscheint, nur um das Foto dann der geliebten Julia zu schicken. Noch greifbarer wird der Wunsch, auch über die räumliche Distanz hinweg ganz mit dem anderen Menschen zu verschmelzen, eine Art seelische Symbiose herzustellen, im Tragen gleicher Kleidungsstücke und schließlich im Benutzen des gleichen Parfüms, einer Kreation des avantgardistischen Modedesigners Martin Margiela. Untitled, so heißt es, wie der Roman, und es ist die Exklusivität dieses Duftes, die ihn zur Chiffre für die einzigartige und darum unbenennbare Liebe zu Julia macht.

Untitled wird erst in zwei Monaten auf den Markt gebracht werden und in der bis dahin verbleibenden Zeit werden Julia Speer und ich die einzigen Menschen sein in Berlin, die nach Buchsbaum und Schierling duften. Das kann sie nicht wissen. Ich schreibe es ihr. Dass es ihr unendlich viel bedeutet, hat sie mir zuvor erklärt.

Untitled, also ohne Betreff sind aber auch die unzähligen Emails, mittels derer die beiden kommunizieren. Überhaupt spielt die Kommunikation über SMS, Email und Co. in diesem Roman eine exponierte Rolle. Die virtuelle Verständigung ersetzt fast vollkommen das persönliche Miteinander. Die »körperliche Abhängigkeit von der Möglichkeit des Kommunizierens« erschafft dabei eine Flut an Mails und Nachrichten, die in unverkennbarem Missverhältnis zur grassierenden Sprachlosigkeit steht. Das ist das Paradox dieses Romans: Liebe fungiert hier als universelle Literaturmaschine, als Ausgangspunkt einer ausgeklügelten und überaus unterhaltsamen Rollenprosa, die beständig zwischen kreativem Wortwitz und naiver Unbeholfenheit hin und her schwankt. Und dennoch demonstriert das unablässige Sprechen über Liebe doch nur: Hier sucht jemand die richtigen Worte für große Gefühle – und findet sie nicht. Als Ausweg bleibt daher nur das Zitat, und davon wird exzessiv Gebrauch gemacht. Vor allem die Popmusik soll bezeugen, was der Sprache versagt ist.

Musik ist etwas Großartiges. Musik ist, das werden Julia und ich in den nächsten Wochen noch herausfinden, nicht nur etwas, sondern: lebensnotwendig. Musik, der Austausch von Songs, wird unser bevorzugtes Mittel der Verständigung bleiben. […] Jeder Liebende denkt bei Musik: Sie redet von mir, sie redet an meiner statt, sie weiß alles!

En passent reanimiert der Roman so die Schreibweisen der Popliteratur, erstellt ein literarisches Musikarchiv, das sich von Cat Power über The Smiths und bis hin zu The Strokes erstreckt. Und wiederholt wird die große Bedeutung einzelner Songs und Interpreten sowie der Popmusik als ganzer betont.

Wir würden den uns nachfolgenden Generationen wohl nie erklären können, welche unfassbar riesige Macht die Popmusik auf uns gehabt hatte.

Die Popmusik als Instrument der Welterfahrung und Selbstverortung, Gegenstand einer reflektierten und medienaffininen Gegenwartsliteratur, hier ist sie so präsent wie schon lange nicht mehr. Und lange hat es gebraucht, bis ein Roman endlich wieder die ewigen und großen Themen der Popmusik aufgreift und in den Mittelpunkt rückt – Liebe und Hoffnung. Denn wovon handeln all die Popsongs, wenn nicht vom Glauben an die Liebe? Bei Benjamin von Stuckrad-Barre geben noch die Manic Street Preachers den Ton an: »We don‘t talk about love. We only want to get drunk.« Und während Bret Easton Ellis’ »American Psycho« mit Dantes Warnung »Ihr, die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren« eröffnet, mündet »Untitled« doch tatsächlich in einem Happy End, unterlegt mit 46 + 1 Songs – dem Soundtrack einer Liebe.

Joachim Bessing: Untitled. Kiepenheuer & Witsch: Köln 2013.  

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