Im Bahnhof einer kleinen Stadt im österreichischen Hinterland wird eine herrenlose Tasche gefunden. Sofort entsteht Panik, das anrückende Bombenkommando entdeckt jedoch kurz darauf, dass sie außer etwas Metallschrott und einigen geschwollen Warnungen nichts bedrohliches enthält. Alle sind erleichtert. Alle? Nein, der Lehrer des Ortes meint in der Art der Aktion und auf den Fahndungsfotos einen seiner ehemaligen Schüler zu erkennen. Für ihn beginnt nun eine Suche nach dem Jungen, dem Grund der Tat und den eigenen Fehlern.
Norbert Gstreins neuer Roman »Eine Ahnung von Anfang«, inzwischen die fünfte Veröffentlichung im Hanser-Verlag, besticht von Anfang an durch Ungewöhnlichkeit. Eine Bombe wird gefunden, aber es ist keine Terrororganisation, die den Staat Österreich angreift, sondern ein Einzelgänger, der ein Statement gegen die Handlung aller Menschen setzen will. Es ist ein religiöser Fanatiker, aber nicht Muslim, sondern Christ. Und der Protagonist ist kein Kommissar oder Detektiv, er ist lediglich ein Gymnasiallehrer in der Provinz, der die schreckliche Vermutung hegt, er habe den Täter jahrelang gekannt und unterrichtet. Doch es ist mehr als das pure Schuldgefühl, als Pädagoge versagt zu haben, das Gstreins Figur antreibt. In Rückblenden erfährt der Leser von längst vergangenen Sommerferien, die der Lehrer mit zwei seiner Schüler – einer von ihnen Daniel, der mutmaßliche Bombenleger – in seinem Haus am Fluss verbracht hatte.
Daniel war mehr als sein Schüler gewesen, er war sein Schützling gewesen, um dessen Bildung er sich gekümmert hatte, schulisch wie privat. Eindrucksvoll wird hier geschildert, wie schnell sich der Wandel von Hingabe zu Fanatismus vollziehen kann. Gstreins Ausdruck ist nüchtern und klar, gleichzeitig wirkt der unzuverlässige Erzähler der Geschichte – der Lehrer selbst – so unzuverlässig, dass man nichts mit Genauigkeit sagen kann. Daniels Liebe zu Judith bleibt ebenso vage wie die hin und wieder angedeutete Homosexualität zwischen Lehrer und Schüler. Die rätselhafteste Figur – und es gibt davon nicht wenige, wie wäre es zum Beispiel mit einem amerikanischem Prediger, der texanischer nicht sein könnte, mitten in Österreich? – bleibt jedoch der Bruder des Protagonisten, von dem man manchmal die Vermutung hat, dass er nur entstand, um letzterem eine Backstorywound zu verpassen. Es wäre unfair, Norbert Gstrein hier emotionales Kalkül vorzuwerfen, doch die Figur des Bruders wirkt eindimensional, das einzige Attribut, das sie ausmacht, ist der Selbstmord, den sie begangen hat.
Konsequent wird der Selbstmord auch jedes Mal angesprochen, wenn an den Bruder gedacht oder über ihn gesprochen wird. Das hält sich bei Gstreins atmosphärischer Weise, die Themen gut zu variieren, zwar durchaus im Bereich des Erträglichen, es ist aber in gewisser Weise schade, dass ein thematisch so ungewöhnliches Buch auf solch eine klischeehafte Figur wie den suizidalen Bruder zurückgreifen muss. Nach dem Freitod seines Bruders verbringt der Protagonist zwei rastlos umher getriebene Jahre in Istanbul, danach fühlt er sich nirgends mehr zu Hause. Die Erinnerungen an Istanbul bilden eine angenehme Abwechslung zur beschaulichen Kulisse der österreichischen Kleinstadt, die Vermischung des Motivs der Heimatlosigkeit mit der Attitüde des Landlebens – in dem es fast ausschließlich um Heimat geht – ist eine gelungene.
Es wird deutlich, welch ein Fremdkörper der eloquente Lehrer in der dörflichen Welt darstellt, so ist er bei seinen Nachforschungen ganz auf sich allein gestellt. Die Polizei nimmt die Drohung nicht ernst, von Seite der Schule kommt lediglich die Befürchtung der Kompromittierung durch das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler. So bleibt es bei Gstreins Protagonisten, die ganze Wahrheit herauszufinden, weniger über den Anschlag selbst, als über sich selbst, den Umgang mit Schuld und die Schwierigkeiten eines Neuanfangs.
Mehr soll an dieser Stelle auch nicht verraten werden, alles was der geneigte Leser durch diese Rezension erhalten soll, ist lediglich »Eine Ahnung vom Anfang«, mehr nicht.
Norbert Gstrein: Eine Ahnung von Anfang. Hanser: München 2013.