England, Frankreich, die osteuropäischen Fantasiestaaten Syldavien und Bordurien, der Nahe Osten, Nord- und Südamerika, Tibet, China, Ägypten, der Kongo, Australien – kein Kontinent, den der junge Reporter Tim, die wohl populärste Figur des 1907 geborenen Comic-Autors und -Zeichners Hergé[1], nicht bereist hätte. Sogar der Nordpol und nicht zuletzt der Mond zählen zu seinen Destinationen. Langweilig ist anders. Dass der Künstler, der Belgien zum ersten Mal 1925 mit den Pfadfindern verlassen hat, Zeit seines Lebens wenig verreist ist, mag man kaum glauben. Vor allem dann nicht, wenn man sieht mit welcher Akribie er die verschiedenen Länder, Völker und Kulturen, von der Architektur über die Kleidung, Technik und andere abgebildete Gegenstände bis hin zu kleinsten Details wie einem Zigarettenpapier darzustellen vermag. Natürlich, es gibt Bände, in denen das besser und solche, in denen es schlechter gelungen ist. Zu letzteren zählt etwa »Tim im Kongo[2]« (1930-1931 erstmals erschienen), für den Hergé stark kritisiert worden ist:

Wie bei Tim im Lande der Sowjets war ich auch beim Kongo voller Vorurteile, die aus dem bürgerlichen Milieu stammten, in dem ich verkehrte… 1930 wusste ich über diese Länder nur das, was sich die Leute zu jener Zeit erzählten: >Die Afrikaner sind wie große Kinder … Sie können sich glücklich schätzen, dass wir jetzt da sind!< usw. Und so habe ich diese Afrikaner gezeichnet, im reinsten paternalistischen Geist, ganz so, wie er in jenen Jahren in Belgien vorherrschte.[3]

An diesem Beispiel zeigt sich (wieder), dass man jedes künstlerische Werk immer in seinem Entstehungs-zusammenhang betrachten und nicht nach heute gültigen Maßstäben und Werten beurteilen sollte. »Tim im Kongo« liefert, »so falsch Afrika über weite Strecken auch dargestellt wird, immerhin ein Abbild der Vorurteile, die die Europäer damals den Afrikanern gegenüber hegten«[4]. Der Band ist hinsichtlich der für Hergé sonst typischen Präzision eine Ausnahme. Gegenbeispiele gibt es viele, etwa das nur drei Jahre später erschienene Album »Der Blaue Lotus«, das als »Wendepunkt« in seinem Schaffen gilt. Am Anfang dieser Entwicklung stand die Begegnung des 27jährigen Comic-Autors mit Tschang, einem jungen Chinesen, der an der Brüsseler Kunsthochschule Bildhauerei studierte. Durch ihn lernte er ein China kennen, das er bis dahin nicht kannte und aus der Begegnung wurde eine lebenslange Freundschaft. Von diesem Zeitpunkt an war er darum bemüht durch noch umfangreichere Recherche jegliche stereotype Darstellung bei der Beschreibung fremder Völker und Kulturen zu vermeiden, der Beginn seiner »dokumentarischen« Periode, so Hergé selbst.

Er ließ er sich viel Zeit bei der Entstehung seiner Comics und begann eine Materialsammlung mit unzähligen Katalogen, Prospekten und Magazinen, zum Beispiel von Waffenherstellern, Nautik-Messen, Mode oder Möbeln anzulegen. Und er hob Zeitungsartikel zu den verschiedensten Themen auf. Er sammelte alles, von dem er dachte, es könnte einmal nützlich sein. Dass seine Aktenschränke Erzählungen nach übergequollen sein sollen, ist angesichts dieser Sammelleidenschaft kaum verwunderlich.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dann das Studios Hergé gegründet. Hier arbeitete ein Team junger Künstler, von denen jeder ein Spezialgebiet hatte und etwa auf die korrekte Abbildung von Flugzeug- oder Schiffsmodellen achtete.

Aber natürlich ist es nicht nur diese Genauigkeit, die die Abenteuer von Tim (und Struppi!) ausmachen. Es sind auch die Inhalte, die die Comics, insbesondere seit Erscheinen des gerade erwähnten Bandes »Der Blaue Lotus«, so lesens- und betrachtenswert machen. Weil es verschiedene Ebenen gibt, sind sie spannend für Kinder und Erwachsene: Während Kinder von den Abenteuern, der Situationskomik und dem Humor fasziniert sind, können Erwachsene darüber hinaus in vielen Bänden die politische Satire erkennen.

Bis zu Hergés Tod im Jahr 1983 haben Tim und seine Mitstreiter 25 Abenteuer erlebt, der letzte Band, »Tim und die Alphakunst«, blieb unvollendet, da Hergé in seinem Testament verfügte, dass niemand die Serie weiterführen sollte.

Und wie könnte man der Biographie eines Comic-Autors und -Zeichners besser gerecht werden als mit einem Comic? Die Comic-Biographie mit dem Titel »Die Abenteuer von Hergé« ist 2001 zum ersten Mal erschienen. In diesem Jahr hat der Carlsen Verlag eine Neuausgabe als Hardcover herausgebracht. Sie beleuchtet das Leben des Künstlers in neunzehn Episoden. Die Autoren Jose-Louis Bocquet und Jean-Luc Fromental haben sich dabei an den Wendepunkten in Hergés Leben orientiert und viel Wert auf kleine Details gelegt. Dank des Index am Ende des Comics ist dieser auch ohne Vorkenntnis verständlich. Auf optischer Ebene sind »Die Abenteuer von Hergé« ebenfalls ein wahrer  Gewinn: Die Bilder von Stanislas, natürlich im Stil der »Ligne claire«, würden Hergé bestimmt gefallen …

Bocquet/Fromental/Stanislas: Die Abenteuer von Hergé. Aus dem Französischen von Marcel Le Comte. Erweiterte Neuausgabe. Carlsen Verlag: Hamburg 2013.


[1] Ein Pseudonym, das sich aus den französisch ausgesprochenen und umgedrehten Initialen seines »richtigen« Namens Georges Remi ergibt.

[2] Der Kongo war bis 1960 belgische Kolonie.

[3] Michael Farr: Auf den Spuren von Tim und Struppi. Carlsen Verlag: Hamburg 2006, S. 22.

[4] Ebd.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.