Bald ist es wieder soweit. Die Tagen werden kalt, kurz und grau. Blätter fallen von den Bäumen und das Singen der Vögel ist seit Wochen schon verstummt. Menschen verwandeln sich in getriebene, rücksichtslose Zombies, denen Freundschaft und Liebe nichts mehr bedeutet. Und über alle Städte und Dörfer legt sich ein schleimiger Film aus Kitsch und Konsum.

Willkommen, Adventszeit! Weiterlesen

hilfmirjacquescousteau

Machen wir uns einmal nichts vor: Seitdem »Die fabelhafte Welt der Amelie« in den Kinos lief, gibt es immer wieder sowohl Bücher als auch Filme, die zufälligerweise auch von kleinen aufgeweckten und zugleich träumerischen Mädchen erzählen, die sich ihren Weg durch die meist ebenfalls sehr skurril dargestellte Welt bahnen. Das ist an sich nicht weiter schlimm, schließlich geht es in der Literatur ja meistens um das Erschaffen und Recyceln von Prototypen. Auf die Dauer schmälert sich jedoch das Interesse des Lesers, wenn man in einem Klappentext zum wiederholten Mal von »einer unkonventionellen Familie« liest, »deren Tricks und Macken einem noch lange in Erinnerungen bleiben«. Weiterlesen

Foto: Thienemann Verlag

Jonas und Philip, genannt Nase und Lippe, staunen nicht schlecht, als sie bei einem Streifzug durch die örtliche Kanalisation einen Tiger, garniert mit Essenresten, Klopapier und Ähnlichem, aus dem Abwasser fischen. Es handelt sich jedoch keinesfalls um einen gewöhnlichen Tiger, sondern um einen der sprechen kann und von sich behauptet, eine alte Dame aus der Nachbarschaft zu sein:

»Ich heiße Kunigunde Ohm, bin achtundsiebzig Jahre alt und wohne in der Keunerstraße.«

Genauso selbstverständlich wie die Raubkatze dies behauptet, beschließen die beiden elfjährigen Protagonisten in Kilian Leypolds Roman »Der Tiger unter der Stadt«, sich um den Tiger, pardon, um Frau Ohm, zu kümmern. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass es sich um einen ausgewachsenen sibirischen Tiger handelt, der der größte seiner Art ist. Ihre anfänglichen Berührungsängste vor dem mächtigen Tier erweisen sich allerdings schnell als unbegründet:

»Ich kann Fleisch nur noch kauen, wenn es ganz klein geschnitten ist«, knurrte der Tiger.

»Auf was haben Sie denn Lust?«, fragte er.

»Kartoffeln mit Quark …? und später vielleicht ein Stück Kuchen oder noch besser Torte«, sagte der Tiger und blinzelte in die Sonne.

Während Tante Tiger – so nennen Philip und Jonas die alte Dame im Tigerkörper – anfangs noch nach altersgerechtem Essen und ihren zahlreichen Medikamenten verlangt, merkt sie nach und nach, dass ihr neuer Körper andere Dinge braucht – etwa rohes Fleisch statt Torte. Und sie spürt, dass sie Manches, zum Beispiel ihre Medikamente, gar nicht mehr benötigt.

 » […] die Klagen wurden weniger. Zuerst verschwanden die Knie- und Gelenkschmerzen, dann die Kreislaufbeschwerden und als Letztes der Kopfschmerz.«

Der Wegfall der physischen Beschwerden ist nur ein Vorzug ihres neuen Körpers. Im Gespräch mit Jonas und Philip wird ihr klar, dass er auch ein neues Lebensgefühl mit sich bringt. Ein Lebensgefühl, das nicht mehr von Angst, Einsamkeit und Traurigkeit dominiert ist:

 »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie gut es tut, keine Angst mehr zu haben.«

»Wovor hatten Sie denn Angst?«, fragte Lippe.

»Vor Treppen. Dass ich sie nicht mehr hinaufkomme oder hinunterpurzle. Überhaupt zu stürzen, in meiner Wohnung hilflos am Boden zu liegen und nicht mehr ans Telefon zu kommen. Angst, keine Dose und kein Einmachglas mehr aufzubekommen, und dann, wenn man zu nichts mehr Kraft hat … vor dem Ende.«

Kilian Leypold ist es mit seinem ungewöhnlichen Roman gelungen, auf amüsante, einfühlsame  und intelligent Art und Weise von dem Miteinander von Jung und Alt und dem Altwerden und Altsein überhaupt zu erzählen. Und das tut er kein bisschen schulmeisterlich, sein Roman erinnert vielmehr an ein modernes Großstadtmärchen.

Die entscheidende, omnipräsente Frage, die es vermag, die Spannung bis zum Schluss aufrecht zu erhalten, ist: Wie konnte Kunigunde Ohm in den Körper des Tigers gelangen? Doch das verraten wir an dieser Stelle natürlich nicht. Wir empfehlen: Roman kaufen und nachlesen. Es lohnt sich.

Kilian Leypold: Der Tiger unter der Stadt. Aufbau Verlag: Berlin 2010.

Nora Bossong (Foto: Erwin Elsner)

Handtücher kann man noch nicht aus dem Internet herunterladen. Und trotzdem steht die Frottee-Firma »Tietjen & Söhne« vor dem Aus. In ihrem dritten Roman erzählt Nora Bossong schwungvoll vom Aufstieg und Fall eines Essener Familienunternehmens. Einem Unternehmen, dem es nicht gelingen will, in dieser globalisierten Welt Fuß zu fassen.

Rund 100 Jahre hat die Firma auf dem Buckel, der Gründer Justus Tietjen konnte einst das kaiserliche Heer mit Handtüchern aus dem Hause »Tietjen & Söhne« versorgen. Es war der größte Triumph der Firmengeschichte. Die Nachfahren Justus Tietjens verwalten die Firma, machen aus ihr sogar kurzzeitig eine Luxus-Marke. Welche Rolle »Tietjen & Söhne« bei den Nazis spielte, das wird innerhalb der Familie verschwiegen. Ein Handtuch, auf dem ein kleines Hackenkreuz gestickt ist, verschwindet still und leise. New York will die Firma ab den Fünfzigern erobern. Ein Plan, an dem die jeweiligen Geschäftsführer kläglich scheitern. Auch Kurt Tietjen, der den Laden in den Achtzigern übernimmt, wird an der Metropole scheitern.

Es klang wie ein leiser Zweifel, aber Kurt wusste, dass es mehr als das war.

Nora Bossong erzählt in »Gesellschaft mit beschränkter Haftung« von einer Welt, die nahe zusammengerückt ist und keine Schwachen, Zweifler, Abwägenden gebrauchen kann. Es ist ein Generationen-, ein Bildungs-, ein Firmen-Roman. Es ist ein Buch, einmal angefangen zu lesen, das man nicht aus der Hand legen wird.

Die Crux der Determination: Kurt Tietjen will sich in der Rolle als Chef von knapp 250 Mitarbeitern nicht gefallen. Er ist hineingeboren, in diese harte Hierarchie und sein Vater macht ihm stets deutlich: »Ohne die Firma gäbe es weder dich noch mich!« Die Firma wird auch zum Mittelpunkt des Lebens von Kurt, der eine Frau heiratet, für die er zwar keine innige Liebe empfindet, aber immerhin lässt sie ihn in Frieden. Im Laufe der Jahre beginnt Kurt zu grübeln: Was ist Freiheit? Ist dieses Leben überhaupt lebenswert? Trotz des Wohlstands?

Ihm war nicht nach Reisen zumute. Ihm war nicht einmal danach zumute, anwesend zu sein.

Den Verpflichtungen überdrüssig, taucht Kurt am Ende seiner beruflichen Karriere in den dunklen Gassen New Yorks ab. Luise Tietjen, Kurts Tochter, muss nun die Geschäftsführung von »Tietjen & Söhne« übernehmen. Luise, gerade im Begriff, ihr Philosophie-Studium zu beenden, schlägt sich nun mit Gläubigern herum, mit Analysten und selbstgerechten Firmenteilhabern. Stets hat sie ihren Vater für seine Arroganz und sein Desinteresse verachtet, nun stürzt sie selbst kopfüber in die Hölle der Abhängigkeiten und nimmt Charakterzüge des Vaters an.
Nora Bossong erzählt die Geschichte des Unternehmens aus der Perspektive von Luise und ihrem Vater Kurt. Es ist ein mitreißender, ein meisterlicher Roman, den Nora Bossong geschrieben hat. Mit viel Schwung erzählt sie von gescheiterten Lebensentwürfen und Versagensängsten. Das Herbeisehnen der eigenen Kapitulation und die Verdeckung eigener Schwächen.

Doch ist »Gesellschaft mit beschränkter Haftung« auch die Geschichte von »Schlecker«, von »Neckermann«, der »Frankfurter Rundschau«  und den anderen traditionsreichen (Familien-) Unternehmen, die dem rasanten Tempo und den Ansprüchen dieser Welt nicht standhalten konnten.
Dank Nora Bossongs Roman versteht man diesen Wahnsinn ein Stückchen besser.

Nora Bossong: »Gesellschaft mit beschränkter Haftung«. Carl Hanser Verlag: München 2012.

 

9783608501155

Würden Agatha Christie, Franz Kafka und Christian Kracht zusammen auf einem Schiff über die Donau fahren, und würden sich diese drei zusammen an einen Tisch setzen, um ihre jeweiligen Stile zu vereinigen, dann wäre das Ergebnis mit Sicherheit ein bemerkenswertes Werk. Eine Mischung aus Krimi, Abstraktem und gewaltiger Identitätskrise. Leider stehen die Chancen schlecht, ein solches Buch noch in die Händen zu bekommen; Kafka und Christie sind längst auf den literarischen Olymp entschwunden und Christian Kracht hat auch andere Dinge zu tun, als auf einem Schiff die Donau hinunterzufahren. Für diejenigen, die jetzt untröstlich sind, und trotzdem gerne einmal jenes Machwerk lesen würden, bleibt Michal Hvorecky zu empfehlen. Denn dessen Roman »Tod auf der Donau« liest sich in der Tat wie eine bunte Mischung der von Grund auf verschiedensten Genres, eine spiralförmige Höllenfahrt, die Donau hinab. Weiterlesen

Maeve Brennan

Audrey Hepburn wäre die Idealbesetzung für die Rolle der Maeve Brennan. Das Leben der irisch-amerikanischen Schriftstellerin war tragisch und damit bestens für eine glanzvolle Hollywood-Produktion geeignet. Doch steht Audrey Hepburn für eine Verfilmung leider nicht mehr zur Verfügung und Maeve Brennan ist im kollektiven Gedächtnis fast vergessen. Zu Unrecht, natürlich.
Denn wer die Kolumnen von Brennan liest, die sie als Reporterin zwischen 1954 und 1981 für den »New Yorker« verfasste und kürzlich unter dem Titel »New York, New York« vom Göttinger Steidl Verlag in einer Neuübersetzung veröffentlicht wurden, der wird dem Charme und der Prägnanz der Kolumnistin verfallen.

Sie glaubt, dass kleine, preiswerte Restaurants die eigentlichen Herdfeuer der Stadt New York sind.

Maeve Brennan wurde 1917 in Dublin geboren, mittenhinein in die irische Diaspora. 1934 übersiedelte sie gemeinsam mit ihrer Familie nach Washington, D.C. und begann schon bald für den »New Yorker« Kolumnen zu verfassen. Als »Talk of the town« fasst sie ihre Betrachtungen alltäglicher New Yorker Begebenheiten zusammen, in welchen die Kolumnistin von Menschen erzählt, die ihr bei Streifzügen durch die Metropole über den Weg laufen. Es sind kleine Geschichten, manche bizarr und skurril, andere anrührend und traurig, in denen sie Männer und Frauen porträtiert, das Leben auf der Straße, in Parks, Cafés, Hotels. In knappen Worten skizziert Brennan dabei ein unüberblickbares New York, zerrissen zwischen den zu diesen Zeiten herrschenden Rassenunruhen, einer gedeihenden Kriminalität und bitterer Verarmung.

Es ist ein baufälliger, von Bars und kleinen Restaurants gesäumter Straßenzug, und gestern Abend schwärmten Matrosen in weißen Uniformen wie Bienen um die Türen all der Bars…

Brennan bemüht sich, innerhalb ihrer Kolumnen zumeist liebevoll und wohlwollend auf das Treiben der Bürger zu blicken. Doch steht auch sie allzu oft irritiert und mit großen Augen vor den Selbstentlarvungen ihrer Zeitgenossen.
Die Kolumnen heißen »Der Mann, der sich die Haare kämmte«, »Ich schaue aus den Fenstern eines alten Hotels am Broadway« oder »Die neuen Mädchen in der 49. Straße West«. Detailliert werden da die Frisur und die Augen, der Gesichtsausdruck und Handbewegungen der Passanten beschrieben. Es sind feine Charakterstudien, mit wenigen Strichen gezeichnet. Polizisten werden durchleuchtet und Geschäftsmänner verfolgt. Maeve Brennan entgeht nichts. Dabei entsteht ein beeindruckendes zeithistorisches Portrait einer Stadt, die niemals zur Ruhe kommt. So wenig, wie ihre Protagonisten.

Wenn jeder in dieser Stadt zur Raison gebracht und in die richtige Richtung geschickt würde, wäre New York schon bald ein sehr ruhiger Ort.

Man blickt durch die Augen der Autorin auf ein längst vergessenes New York, man kommt dem Mythos dieser unfassbaren Stadt näher. So nahe, wie man ihr als Tourist niemals kommen könnte.
Wie vielschichtig und verzehrend diese Stadt ist, das fasst Brennan bereits im Vorwort dieser Zusammenstellung zusammen: »Selbst nach mehr als fünfundzwanzig Jahren hält sich die langatmige Lady noch immer nicht für eine »echte« New Yorkerin.« Ob das irgendwer irgendwann überhaupt sein kann?

So viele Gesichter. New York von oben, ca. 1960.

Maeve Brennan: »New York, New York«. Aus dem amerikanischen Englisch von Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag: Göttingen 2012.

Klaus Kordon (Foto: Wikipedia)

Klaus Kordons Roman »Das Karussell« ist nach einem einfachen Kinderspielzeug benannt. Aber halt. Ist es das wirklich? Ein einfaches Kinderspielzeug? Steht ein »Karussell« nicht für viel mehr? Ist es nicht eher ein Gegenstand, der uns an die Unbeschwertheit, an die Leichtigkeit der Kindheit zurückdenken lässt? Für Kordon hat mit diesem Karussell angefangen, wovon er in seinem neuen Roman (nach »Das Krokodil« und »Auf der Sonnenseite« sein dritter autobiographischer Roman) schreibt. Als Kind fand er es beim Stöbern in einer alten, verschlossenen Kommode:

[…] zwischen allerlei Krimskrams wie alten Papiertüten, Watteresten und Kerzenstummeln stand ein kleines, bunt angemaltes, blechernes Karussell. Es war sehr verstaubt und an manchen Stellen war bereits der Lack abgeplatzt.

Verständlicherweise wundert es ihn, zwischen all dem anderen Gerümpel ein Kinderspielzeug zu finden, das er nie zuvor gesehen hat. Seine Mutter sagt ihm schließlich, dass das Karussell seinem Vater, der Soldat im Zweiten Weltkrieg war und an der Ostfront verschollen ist, gehört hat. Sie verspricht ihm alles zu erzählen, was sie vom Vater weiß – und Kordon erzählt es uns. »Das Karussell« ist die Geschichte von seinen Eltern, von Herbert Lenz und Lisa Gerber.

Zunächst sind es aber zwei Geschichten: Da ist die Geschichte von Herbert, genannt Bertie, der in einem Berliner  Waisenhaus lebt und zwar eine Mutter hat, aber ohne sie aufwachsen muss. Alles was ihm von ihr bleibt sind mal mehr, mal weniger regelmäßige Besuche im Waisenhaus. Ihn quält in seiner Kindheit vor allem die Frage, warum seine Mutter ihn abgegeben hat und – besonders nachdem sie geheiratet hat, schließlich sogar ein zweites Kind bekommt – nicht zu sich nimmt. Erst Jahre später, Bertie ist inzwischen erwachsen, wird ihm klar, was er schon als Kind geahnt hat:

Er wich zurück. Der Blick, mit dem sie ihn ansah! Ein Blick, der sie endgültig verriet. Sie warf ihm vor, dass es ihn gab! Er, ihr Sohn, hatte sie ins Unglück gestürzt.

Von diesem Augenblick an, ist seine Mutter für ihn nicht mehr existent – späte Annäherungsversuche ihrerseits weist er zurück.

Und da ist die Geschichte von Lisa Gerber, die zusammen mit drei jüngeren Geschwistern eine geborgene Kindheit im Harz erlebt bis der Vater im Ersten Weltkrieg ums Leben kommt. Lotte Gerber, die Mutter, erinnert sich an die Worte des Vaters (»Bier geht immer«) als sie beschließt, einen Neuanfang zu wagen: Ihr Weg führt sie und ihre Kinder von Thale über Zerbst, wo sie drei Jahre lang erfolgreich eine Gastwirtschaft führt, nach Berlin. Hier werden die beiden Erzählstränge miteinander verknüpft, denn Lisa, mittlerweile Anfang 30 und selbst Wirtin in einem Lokal im Prenzlauer Berg, lernt den Maurergesellen Bertie kennen, der bei ihr sein Feierabendbier trinkt. Sie verlieben sich ineinander, doch ihr Glück währt nicht lange, der Zweite Weltkrieg hat bereits begonnen.

In einem Fernseh-Interview erzählt Klaus Kordon, dass er erst recherchieren musste, um diesen Roman zu schreiben. Ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass er darin die eigene Familiengeschichte erzählt, aber verständlich, wenn man diese Geschichte dann kennt. So hat er in der Charité die Geburtsurkunde des Vaters gefunden, der 1908 von einem 16 Jahre alten, ledigen Dienstmädchen zur Welt gebracht worden ist. Und in der Deutschen Dienststelle die Karteikarte, die Auskunft über den Wehrmachtssoldat Herbert Kordon (im Roman »Lenz«) gibt, etwa welche Feldpostnummer er hatte, in welchem Zeitraum er im Lazarett oder auf Fronturlaub war. Nur wie und wo sein Vater gestorben ist, das hat er auch hier nicht erfahren.

Im Interview verrät er einen weiteren Grund, warum sein Roman »Das Karussell« heißt: Ein Karussell drehe sich im Kreis, so Kordon, alles wiederhole sich und auch in seiner Familie haben sich viele Schicksale wiederholt: So habe sich seine Mutter beispielsweise gefragt, ob – nachdem ihr Vater und ihr Mann im Krieg gefallen sind – auch ihre Söhne einem Krieg zum Opfer fallen würden. Und nicht nur Kordons Vater hat viele Jahre im Waisenhaus verbracht, auch Kordon selbst lebte nach dem frühen Tod der Mutter fünf Jahre erst in einem Kinder-, später dann Jugendheim. Sogar seine eigenen Kinder mussten 1972 nach einem missglückten Fluchtversuch aus der DDR zwei Jahre in einem Heim leben, bevor sie zu den Eltern, die vom Westen freigekauft worden waren, zurückkehren durften.

Dass sein Vater so viel Unrecht und soviel Pech in seinem Leben gehabt hat, habe ihn schon als Kind beschäftigt. Mit diesem Roman sagt er, habe er ihm vielleicht ein Denkmal setzen wollen, wollte, dass seine Geschichte nicht vergessen wird. Es ist ihm gelungen.

Klaus Kordon: Das Karussell. Beltz & Gelberg: Weinheim u.a. 2012.

Klaus Kordon im Interview mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg

Sex und Drogen. Krieg und Politik. Zu allem Überfluss auch noch Literatur. Es ist ein Leben wie im Roman, aber Eduard Limonow gibt es wirklich. Als Eduard Weniaminowitsch Sawenko während des zweiten Weltkriegs im sowjetischen Dserschinsk geboren, wächst er in Charkow auf und schlägt sich zunächst als Kleinkrimineller durch. Schnell kommt er mit dem literarischen Untergrund in Berührung und sieht im Schreiben seine Chance auf den Durchbruch, auf Anerkennung, Erfolg und nicht zuletzt auch auf das große Geld. Er wählt den Künstlernamen Limonow, der sowohl auf das russische Wort für Limone als auch auf den Spitznamen der sowjetischen Handgranate F-1 verweist. Und zumindest die Anerkennung ist ihm vergönnt, denn schnell wird der Avantgarde-Lyriker Limonow zum Geheimtip und Mittelpunkt der Charkower Bohème. Das Nötigste zum Überleben verdient der Dandy unterdessen mit dem Schneidern von Hosen. Weiterlesen

Definitiv nicht am Samstag: Buchmesse, fast ganz ohne Menschen.
Definitiv nicht am Samstag: Buchmesse, fast ganz ohne Menschen.

Nach der Party der Independents am Freitagabend im Literaturhaus, wo auch der Hauptpreis der »Hotlist« vergeben wurde, geht es am Samstag mäßig verkatert Richtung Buchmesse. Kaum sind die üblichen Hindernisse (RMW, VGF, immerhin beträgt die Verspätung nur dreißig Minuten) überwunden, zeigt sich schon, dass es mit der Ruhe und Beschaulichkeit endgültig vorbei ist. Samstag ist der erste Besuchertag, und viele nutzen die Gelegenheit zum Erkunden und Stöbern. Auf den Gängen und besonders in den Hallen tummeln sich wahre Menschenmassen, so dass kaum ein Durchkommen ist. Mehr Andrang herrschte wohl nur am Mittwoch bei Arnold Schwarzenegger, als der sein neues persönliches Drei-Schritte-Programm (»Terminator« – »Governator« – »Educator«) vorstellen durfte.

Matthias Matussek haben wir aber leider nicht getroffen.

12.00 Uhr: Milena Michiko Flašar liest aus »Ich nannte ihn Krawatte«, das Publikum hört gebannt zu. Es ist immer wieder erstaunlich, wie ein ohnehin schon guter Text zusätzlich an Reiz gewinnt, sobald er nur richtig gelesen wird. Und richtig heißt soviel wie: adäquat, der Stimmung des Textes und seiner sprachlichen Gestaltung angemessen. Diktion, Phrasierung, hier passt einfach alles. Gibt‘s schon ein Hörbuch?

13.00 Uhr: Interview mit Milena Michiko Flašar. Wird hier in Kürze zu lesen sein!

Menschen

In einem Pavillon im Innenhof signiert irgendein skandinavischer Krimiautor (vielleicht Thomas Steinfeld) seine Bücher. Vor dem Pavillon ist eine rund fünfzig Meter lange Schlange, viel länger als vor den wenigen Fressbuden. Vielleicht liegt das daran, dass vornehmlich ältere Messebesucher sich mit einem solchen Eifer auf das rare Gratisessen in den Hallen stürzen, dass man den unwillkürlich Eindruck bekommt, es wäre die letzte Mahlzeit vor der Apocalypse.

Mehr Menschen

Auch in diesem Jahr war die Frankfurter Buchmesse Treffpunkt vieler Cosplayer. Das sind überwiegend junge Menschen, die »einen Charakter – aus Manga, Anime, Computerspiel oder Film – durch Kostüm und Verhalten möglichst originalgetreu darstellen«. Scheint ihnen Spaß zu machen, ist aber für Außenstehende weder besonders spektakulär noch ein Grund zur Ärgernis. Davon abgesehen wird Frankfurt das ganze Jahr über von Menschen in lustiger Verkleidung heimgesucht (Banker, Eintracht-Fans, Studenten).

Der zweitliebste Österreicher des Tages nach Milena Michiko Flašar ist der Mann vom Septime Verlag. Dem Wiener Dialekt möchte man den ganzen Tag lauschen, auch wenn für ungeübte Ohren bei weitem nicht alles verständlich ist. Macht aber nichts, entscheidend sind Charme und Herzlichkeit. Außerdem ist da noch das tolle Verlagsprogramm. Unbedingt merken.

Später Nachmittag, die Kräfte lassen nach. Wir sagen Adieu! Es war sehr schön, bis zur Buchmesse 2013.

Von Außen sehen die Messehallen auch ganz schön aus.

 

Weltentdecker

Heute ist der letzte Fachbesuchertag, schon am späten Vormittag drängen sich ebenjene und die Pressevertreter durch die Messehallen. Während gestern eines der kulinarischen Highlights in Halle 3 der Popcorn-Stand vom Brockhaus-Verlag war, scheint es heute die Gratissuppe im essbaren Schälchen zu sein, die am Stand eines Kochbuch-Verlages an hungrige Messebesucher verteilt wird.

Neben den aufwendig gestalteten Ständen der großen Verlage sind auch kleine, weniger bekannte Verlage vertreten – viele mit einem tollen Programm und einige etwas kuriose Verlage, in der spirituellen Ecke in Halle 3.1 etwa »Happy Science Deutschland«, dessen japanischer Messias (für alle die es noch nicht wissen: der lebende Buddha des 21. Jahrhunderts!) seinen Rezipienten Erleuchtung verspricht … Besonders gut gefällt uns der Stand von »Kein & Aber«, der mit Wohnzimmer-Atmosphäre zum Aufenthalt einlädt.

Das Sofa sieht gemütlich aus. (Messestand von »Kein & Aber«)

Verweilen kann man auch ganz gut im Neuseeland-Pavillon, in dem das diesjährige Gastland seine Bücher ausstellt (wobei man die hier eher suchen muss). Am Eingang weisen freundliche Messe-Mitarbeiter darauf hin, dass man auf die Wasserflächen Acht geben soll. Hinter der Tür empfängt uns dann Dunkelheit und ein sich im Wasser spiegelnder Mond – ganz nach dem Motto des Gastlandes »While you were slepping« (Andrea Diener  hat in einem Beitrag der FAZ-Messezeitung vom Donnerstag interessante Theorien darüber aufgestellt, was nachts wohl im Neuseeland-Pavillon passiert, dann müsste es dort schließlich hell sein: FAZ-Artikel von Andrea Diener

»Dunkel war’s, der Mond schien helle« (Neuseeland-Pavillon)

Ach ja, und die Bücher, die hängen an Drahtseilen in vielen kleinen Zelten, deren Eingang von folkloristischen Masken gesäumt ist. Dazwischen bieten zahlreiche Sitzflächen die Möglichkeit sich auszuruhen und dabei einer der vielen „Performances“ mit singenden und tanzenden Maori beizuwohnen, die mehrmals am Tag stattfinden.

Bücherzelt (Neuseeland-Pavillon)

Nach der Mittagspause läuft uns am Stand von Klett-Cotta eine der ersten Cos-Playerinnen über den Weg. Ein Zeichen dafür, dass das Wochenende und damit die Besuchertage nahen? Wir schlendern weiter durch Halle 4 und treffen auf einen netten Herrn beim »Bollmann Bildkarten Verlag«. Er erzählt uns, dass man seinen Großvater den »Merian des 20. Jahrhunderts« nannte und zeigt uns die Stadtkarten, die der Verlag seit 1948 vertreibt. Auf den ersten Blick erinnern sie an neuzeitliche Stiche, aber die Wolkenkratzer auf der Karte Frankfurts sind ein eindeutiges Indiz dafür, dass die Karte doch jüngeren Datums sein muss. Ein paar Schritte weiter werden an einem Stand (interaktive) Globusse ausgestellt, leider funktioniert der Stift für die interaktiven Funktionen gerade nicht …

Weltentdecker

Wir bleiben kurz bei der Lesung eines neuseeländischen Autors stehen, gehen dann aber doch weiter, denn gleich fängt die Verleihung des Jugendliteraturpreises an. Deswegen können wir auch leider nicht auf einem der Massagestühle Platz nehmen, wo geschultes Personal auf verspannte und gestresste Literaturkritiker wartet.

Neuseeländischer Autor bei einer Lesung

Nachdem wir das Congress-Centrum und den »Saal Harmonie« gefunden haben, sind wir erstaunt über die Größe der Veranstaltung (der Deutsche Jugendliteraturpreis wurde in diesem Jahr zum 57. Mal verliehen, seit sieben Jahren findet er in diesem großen Rahmen statt), der Moderator verrät später, dass im Publikum 1200 Gäste sitzen (und stehen!).

Gleich geht’s los …

Den üblichen Grußworten, heute von Stephanie Jentgens, Alexander Skippies, Jürgen Boos und Lutz Stroppe, folgt die Bekanntgabe der Jury-Entscheidung

Kinderbuch: »Frerk, du Zwerg!«

Bilderbuch: »Mia schläft woanders«

Jugendbuch: »Es war einmal Indianerland«

Sachbuch: »Was, wenn es nur so aussieht, als wäre ich da? «

Preis der Jugendjury: »Sieben Minuten nach Mitternacht«

Sonderpreis Gesamtwerk Illustration: Norman Junge

Die Preisträger auf dem Sofa

Ein kleiner Höhepunkt während der bisweilen etwas synthetisch wirkenden Veranstaltung (eine Stimme aus dem Off führte zusammen mit dem Moderator durch den Abend) ist die Übergabe des Preises in der Sparte Sachbuch an Oscar Brenifier, den Autor von »Was wäre, wenn es nur so aussieht, als wäre ich da?«: Als der Moderator ihm den Preis überreichen will behauptet er

I’m not the author of this book.

und verweist auf eine Dame im Publikum, die, wie sich herausstellt als sie auf die Bühne kommt, seine deutsche Verlegerin ist. Sie klärt schließlich auf:

Er ist der Autor des Buches, er macht bloß immer Witze …

Zwischendurch sorgt das Ensemble »Ritmatak!« für Unterhaltung: Ihr Programm besteht daraus, dass sie mit »scheinbar banale[n] Alltagsgegenständen« (heute natürlich Bücher) Klänge erzeugen. Ihr Auftritt kommt im Allgemeinen gut an, allerdings nicht bei allen (dem Autor von »Es war einmal Indianerland« scheint die Zweckentfremdung nicht zuzusagen). Sekt und Häppchen im Anschluss an die Preisverleihung lassen wir aus und machen uns auf den Weg nach Hause – für heute haben wir genug gesehen, gehört und gelesen …

 

 

Ganz entspannt: Christian Preußer ist am Morgen frohen Mutes
Ganz entspannt: Christian Preußer ist am Morgen frohen Mutes

Die Lehre der diesjährigen Buchmesse ist klar verständlich und erbauend: Jeder ist ein Autor, er muss nur mindestens im Internet einen Blog unterhalten. Wo einst das Sterben der Musikbranche feierlich ignoriert wurde, wird heuer der anstehende Tod des Buchhandels thematisiert: auf dem Frankfurter Messegelände. Die Verlage sind nervös, die Autoren gelassen. Mit Jussi Adler-Olsen im Geiste treffen wir uns zur Mittagszeit vor dem Bratwurststand und untermauern unsere eigenen Visionen mit »Pommes Rot-Weiß«.

Mit großen Augen irren wir durch den Bücherwald der Verlagsgruppe Random House. Eine blonde Medienfrau (die eigentlich gerade über einen Witz von Elke Heidenreich lachen wollte) klärt uns auf: »Die Verlagsgruppe Random House, Inc. inklusive der zugehörigen Dachmarke Random House befindet sich im Besitz der Bertelsmann AG und fungiert als Dachgesellschaft für alle Bertelsmann-Verlage.« Als ob wir das nicht schon von Wikipedia wissen würden. Das ausgestellte Programm dieses Verlags-Kolosses lässt uns ratlos zurück. Wir fragen uns, ob denn nicht schon viel zu viele Menschen »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand« gekauft und womöglich auch gelesen haben. Zügig bahnen wir uns unseren Weg durch die Gassen. Auf den überfüllten Toiletten schütteln wir uns kräftig durch. Es wird besser, denn bald schon kommen wir am Stand unseres heimlichen Lieblingsverlages liebeskind an. Die Auswahl der Bücher ist herrlich. Die Gruppe einigt sich: Das gesamte Programm ist toll. Wir reißen uns schweren Herzens los. Wir haben Termine.

Irgendwo auf diesem Bild hat sich Lothar Matthäus versteckt (Foto: Vox)

Zur Verabredung mit Andreas Stichmann treffen wir pünktlich am geschniegelten Rowohlt-Stand ein. Wir wollen über seinen gefeierten Debüt-Roman »Das große Leuchten« sprechen, haben aber ganz vergessen, dass Lothar Matthäus zeitgleich seine Autobiographie auf der Messe vorstellen will. Ein mittelschwerer Fauxpas, der uns bei der Messevorbereitung unterlaufen ist. Immerhin haben wir das Gelände nun für uns alleine: Die Polizisten sind beschäftigt, die Fotografen abgestellt und der Hof ist leer. In entspannter Atmosphäre plaudern wir mit Andreas Stichmann über die Vorzüge und Gefahren des Reisens. Wir beschwören unsere gemeinsame Bewunderung für Leif Randts »Schimmernder Dunst über CobyCounty« herauf und verabreden uns »auf bald!«

Heim geht's!

Kaum haben wir uns umgedreht, läuft uns die wunderbare, talentierte, anmutige Olga Grjasnowa über den Weg. Schnell ist ein Termin fürs ungezwungene Plaudern gefunden, abseits des großen Auflaufs. Noch bevor wir uns verabschieden, haben wir uns heimlich verliebt.
Während die Bestellung des ersten Bieres auf sich warten lässt, rattert Burkhard Spinnen an uns vorbei. Auf unseren flotten Anmachspruch von der Seite geht er nicht ein – er ist im Gespräch mit seiner Frau. Das Bier ist Essig. Wir trinken lieber Wein – und das am Abend in unserem Stammlokal im Frankfurter Nordend. Die trockene Luft in den Messehallen ist nicht jedermanns Geschmack.

Franziska Vorhagen und Emil Fadel warten auf Klett-Cotta
Franziska Vorhagen und Emil Fadel warten auf Klett-Cotta

Wenn auf einmal hunderttausende Menschen aus aller Welt zusammenströmen, um sich mit Büchern zu befassen, dann dreht es sich entweder um Mitternachtsverkäufe und Zauberschulen, oder die Frankfurter Buchmesse hat wieder ihre Pforten geöffnet. Derselbe Ort, derselbe Wahnsinn, ein neues Jahr: Auf mehreren tausend Quadratmetern Ausstellungsfläche konnte man wieder alles betrachten, was einem Verlage, Druckereien und sonstige Aussteller feilboten. 2012 war das Octopus-Magazin an jedem Messetag vor Ort, um dem geneigten Leser ein möglichst akkurates Bild von den diesjährigen Höhen, Tiefen und Überraschungen zu vermitteln. Weiterlesen