Zwei junge Mädchen lernen sich kennen, freunden sich an und schwören sich ewige Treue. Aber nur in schlechten Romanen ist Ewigkeit mehr als die Hoffnung bemitleidenswerter Optimisten. Und nur in schlechten Romanen ist die Kindheit ein Hort unbeschwerter Glückseeligkeit, wo das Böse nur in Erzählungen lauert. »Nachhinein« von Lisa Kränzler ist alles andere als ein schlechter Roman. Die Geschichte der zwei anfänglichen Freundinnen ist in ihrer Konsequenz so schonungslos wie wahrhaftig. Und ja, die Wahrhaftigkeit, die in diesem Roman steckt, ist mitunter schwer zu ertragen. Eben weil am Ende, im Nachhinein, alles ganz anders kommt, als die Freundinnen es sich erhofft hatten. Im Nachhall klingt der hehre Schwur, mit dem alles seinen Anfang genommen hat, so hohl und leer, dass es beinahe schmerzt. Weiterlesen

Man muss sich Thomas Bernhard als humorvollen Menschen vorstellen. Die Grantelei als höchstes, vollendetes Mittel der Komik, nirgends kommt sie besser zur Geltung. Vielleicht ist Bernhard doch ein »Alpen-Beckett«, wie ein Literaturkritiker schrieb. Aber auch im österreichischen Flachland treiben sich seine Figuren um, namentlich in der Bundeshauptstadt. Etwa in dem Roman »Holzfällen«. Da sitzt einer stundenlang im Ohrensessel, inmitten einer vornehmen Wiener Abendgesellschaft, und überzieht die anwesende Entourage in seinen mäandernden Gedankenspiralen mit Hass, Spott und Häme. Das präpotente Gastgeberehepaar, der narzisstische Burgschauspieler, der ganze unwichtige Anhang: alle sind sie zutiefst niederträchtig, stumpfsinnig, abstoßend. Als der Komponist Gerhard Lampersberg, ein früherer Freund Bernhards, sich in der Figur des Auersberger zu erkennen glaubte, kam es zum Skandal: Beschlagnahmung des Romans, Gerichtsverfahren, Justizdummheit. Komisch sind scheußliche Menschen nicht nur in der Literatur, sondern auch in Wirklichkeit.

Ist über dieses leidige Thema nicht schon alles gesagt? Haben nicht beide Seiten ihre Argumente oder das, was sie dafür halten, ausgetauscht? Es wurde in der Tat viel gesagt und geschrieben, allein eine neue Erkenntnis hat sich bisher nicht eingestellt. Schluss, aus, Ende – nichts lieber als das! Doch bevor Geist und Sinne sich anderen Dingen zuwenden, bitte noch einen kurzen Moment die Aufmerksamkeit bewahren. Denn plötzlich kommt da einer, der bringt es so schön und treffend auf den Punkt. Von Feridun Zaimoglu stammt der bisher wohl beste Beitrag zur Debatte um die Ankündigung des Thienemann Verlags, diskriminierende Bezeichnungen wie »Neger« und »Zigeuner« in der Neuausgabe des Kinderbuchklassikers »Die kleine Hexe« zu ersetzen. Schade, dass er kaum Beachtung fand. Weiterlesen

Dorothee Coppe ist eine erfolgreiche Künstlerin, aber der Erfolg macht ihr Leben weder einfacher noch besser. Ein kleines Mädchen entkommt seinen Verfolgern, findet Unterschlupf bei einem Kriegsveteran namens Gunter und wird schließlich selbst zur Polizei. Adrians erste und einzige Liebe ist die quantenmechanische Wellenfunktion. Die Medienbranche ist vollends auf den Hund gekommen. Josef Stasi hat Eheprobleme, seine Frau hat darunter besonders zu leiden. Ein Aktivist verwandelt sich als letzte Form des Protests in eine lebende Fackel, »weil die Leute sich unter Unglück mehr vorstellen können als unter Unrecht«. Derweil lauert am Horizont eine Katastrophe mit dem merkwürdigen Namen Kammonikutain. Und im Jahr Zweitausenddreißig sind Identitäten nur mehr elektronisch gespeicherte Datensätze und fassen einander trotzdem an der Hand. Weiterlesen

Der Streit um Suhrkamp und die dazugehörige mediale Berichterstattung haben bei aller Tragik um das mögliche Ende eines traditionsreichen Verlagshauses unbestreitbar einen gewissen Unterhaltungswert. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendein Feuilletonschreiberling sich mal mitleidig, mal hämisch zum Thema auslässt. Doch die wirklichen Höhepunkte werden von Autorenseite gesetzt. Schon jetzt muss man Hans Barlach dankbar sein, dass er Peter Handke zu einer Anklageschrift von solchem Furor, aber auch von solch sprachlicher Schönheit animierte. Und im Interview mit der SZ ließ sich jetzt Rainald Goetz zu einem Porträt des Investors hinreißen, das zwar wenig schmeichelhaft, dafür aber umso aufschlussreicher ist:

Es gibt nur schlimme Geschichten über ihn, und wenn man ihn sieht, glaubt man sie alle. Die blaue Blumenhändler-Rolex, das schütter gewellte, mittelbraun getönte Haar, die dicke, glasig gespannte Sonnenstudiohaut im Gesicht. Ich habe ihn in einer Prozesspause angesprochen, was er seine Anwälte da für einen wahrheitswidrigen Unsinn erzählen lässt. Da reagiert er wie ein stumpfer Automat, redet sofort von seinen Rechten, die er ja nur in Anspruch nimmt. Er ist auch noch ein Wimp, nicht nur ein Rechtsquerulant, ein Feigling, ein unsicherer Mensch.

Weiterlesen

Zu den einfachsten Grundübungen liberaler Sophistik gehört das Herausstellen der tatsächlichen oder vermeintlichen Ähnlichkeiten zwischen faschistischen und sozialistischen, respektive »rechten« und »linken« Systemen. Denn die Fakten liegen ja scheinbar auf der Hand. Haben Stalin und Mao nicht weit mehr Menschen auf dem Gewissen als Hitler und Mussolini? Und ist der Nationalsozialismus nicht in erster Linie ein national verbrämter, mit Antisemitismus und Rassenwahn angereicherter Sozialismus? Wer so »argumentiert«, kann sich in Deutschland, wo der Antikommunismus von jeher zum guten Ton gehört, des Beifalls sicher sein. Für Fortgeschrittene empfiehlt es sich indes, dem Ressentiment einen wissenschaftlichen Anstrich zu verpassen. Ein ganzer Zweig der politischen Theorie lebt davon, ausgehend von Hannah Arendt auf die strukturelle Homologie zwischen den beiden politischen Extremen hinzuweisen. Das Zauberwort dafür heißt »Totalitarismus«, und der ist, das weiß heute jedes Kind, böse. Womit wir das Feld der politischen Auseinandersetzung verlassen haben und uns nunmehr im Sumpf der Moral befinden. Die Chancen, da wieder herauszukommen, stehen schlecht. Weiterlesen

Zwei Männer sitzen auf einer Parkbank irgendwo in Japan. Zuerst beobachten sie einander, dann lernen sie sich kennen, schließlich wird der einen des anderen Rettung. Ganz verschieden sind sie doch beide Außenseiter, die sich von der Welt zurückgezogen haben, Verlierer, die nicht länger fähig sind in der Gesellschaft zu funktionieren. So erzählt »Ich nannte ihn Krawatte« nicht nur eine berührende Geschichte über eine ungewöhnliche Männerfreundschaft, sondern streift elegant und unaufgeregt auch von Anfang an die ganz fundamentalen Fragen des Menschseins. Ein kleiner Roman, aber eine große Sensation. 

Milena Michiko Flašar beim Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse über Japan, private Rebellionen und den unverhofften Erfolg.   Weiterlesen

Sex und Drogen. Krieg und Politik. Zu allem Überfluss auch noch Literatur. Es ist ein Leben wie im Roman, aber Eduard Limonow gibt es wirklich. Als Eduard Weniaminowitsch Sawenko während des zweiten Weltkriegs im sowjetischen Dserschinsk geboren, wächst er in Charkow auf und schlägt sich zunächst als Kleinkrimineller durch. Schnell kommt er mit dem literarischen Untergrund in Berührung und sieht im Schreiben seine Chance auf den Durchbruch, auf Anerkennung, Erfolg und nicht zuletzt auch auf das große Geld. Er wählt den Künstlernamen Limonow, der sowohl auf das russische Wort für Limone als auch auf den Spitznamen der sowjetischen Handgranate F-1 verweist. Und zumindest die Anerkennung ist ihm vergönnt, denn schnell wird der Avantgarde-Lyriker Limonow zum Geheimtip und Mittelpunkt der Charkower Bohème. Das Nötigste zum Überleben verdient der Dandy unterdessen mit dem Schneidern von Hosen. Weiterlesen

Definitiv nicht am Samstag: Buchmesse, fast ganz ohne Menschen.
Definitiv nicht am Samstag: Buchmesse, fast ganz ohne Menschen.

Nach der Party der Independents am Freitagabend im Literaturhaus, wo auch der Hauptpreis der »Hotlist« vergeben wurde, geht es am Samstag mäßig verkatert Richtung Buchmesse. Kaum sind die üblichen Hindernisse (RMW, VGF, immerhin beträgt die Verspätung nur dreißig Minuten) überwunden, zeigt sich schon, dass es mit der Ruhe und Beschaulichkeit endgültig vorbei ist. Samstag ist der erste Besuchertag, und viele nutzen die Gelegenheit zum Erkunden und Stöbern. Auf den Gängen und besonders in den Hallen tummeln sich wahre Menschenmassen, so dass kaum ein Durchkommen ist. Mehr Andrang herrschte wohl nur am Mittwoch bei Arnold Schwarzenegger, als der sein neues persönliches Drei-Schritte-Programm (»Terminator« – »Governator« – »Educator«) vorstellen durfte.

Matthias Matussek haben wir aber leider nicht getroffen.

12.00 Uhr: Milena Michiko Flašar liest aus »Ich nannte ihn Krawatte«, das Publikum hört gebannt zu. Es ist immer wieder erstaunlich, wie ein ohnehin schon guter Text zusätzlich an Reiz gewinnt, sobald er nur richtig gelesen wird. Und richtig heißt soviel wie: adäquat, der Stimmung des Textes und seiner sprachlichen Gestaltung angemessen. Diktion, Phrasierung, hier passt einfach alles. Gibt‘s schon ein Hörbuch?

13.00 Uhr: Interview mit Milena Michiko Flašar. Wird hier in Kürze zu lesen sein!

Menschen

In einem Pavillon im Innenhof signiert irgendein skandinavischer Krimiautor (vielleicht Thomas Steinfeld) seine Bücher. Vor dem Pavillon ist eine rund fünfzig Meter lange Schlange, viel länger als vor den wenigen Fressbuden. Vielleicht liegt das daran, dass vornehmlich ältere Messebesucher sich mit einem solchen Eifer auf das rare Gratisessen in den Hallen stürzen, dass man den unwillkürlich Eindruck bekommt, es wäre die letzte Mahlzeit vor der Apocalypse.

Mehr Menschen

Auch in diesem Jahr war die Frankfurter Buchmesse Treffpunkt vieler Cosplayer. Das sind überwiegend junge Menschen, die »einen Charakter – aus Manga, Anime, Computerspiel oder Film – durch Kostüm und Verhalten möglichst originalgetreu darstellen«. Scheint ihnen Spaß zu machen, ist aber für Außenstehende weder besonders spektakulär noch ein Grund zur Ärgernis. Davon abgesehen wird Frankfurt das ganze Jahr über von Menschen in lustiger Verkleidung heimgesucht (Banker, Eintracht-Fans, Studenten).

Der zweitliebste Österreicher des Tages nach Milena Michiko Flašar ist der Mann vom Septime Verlag. Dem Wiener Dialekt möchte man den ganzen Tag lauschen, auch wenn für ungeübte Ohren bei weitem nicht alles verständlich ist. Macht aber nichts, entscheidend sind Charme und Herzlichkeit. Außerdem ist da noch das tolle Verlagsprogramm. Unbedingt merken.

Später Nachmittag, die Kräfte lassen nach. Wir sagen Adieu! Es war sehr schön, bis zur Buchmesse 2013.

Von Außen sehen die Messehallen auch ganz schön aus.

 

Die »Hotlist« prämiert auch in diesem Jahr die zehn besten Bücher von unabhängigen Verlagen. Als wäre das allein aber nicht genug, wurden gestern im Literaturhaus Frankfurt noch zwei Preise vergeben. Für den Literaturverlag Droschl hat sich das Wagnis gelohnt: Tor Ulvens Erzählband »Dunkelheit am Ende des Tunnels« wurde mit dem Hauptpreis der »Hotlist« ausgezeichnet. »Dunkelheit am Ende des Tunnels« ist das erste Buch des 1995 verstorbenen Norwegers, das ins Deutsche übersetzt wurde.

An Tor Ulven fasziniert, dass uns hier ein Autor mit hinein in den finstern Tunnel der Depression nimmt, in dem es unbehaglich zu leben ist. Er macht uns das, was vielen bestenfalls in Ansätzen bekannt ist, fühlbar und vielleicht sogar ein wenig nachvollziehbar. Dass er das mit finsterer Konsequenz und zugleich in einer Art tut, die Formbewusstsein und literarische Kraft, ja zuweilen sogar lichte Momente verrät, das beeindruckt. In dieser Prosa steckt eine Kraft, die authentisch wirkt. Ihr fehlt das ,Gemachte’, Konstruierte.

(Jurymitglied Beat Mazenauer)

Den »Melusine-Huss-Preis« erhält der Peter Hammer Verlag für das Kinderbuch »Der Pirat und der Apotheker« von Robert Louis Stevenson, übersetzt und liebevoll illustriert von Henning Wagenbreth.

Angesichts der Inflation der Literaturpreise ist es fast schon eine Auszeichnung, keine Auszeichnung zu erhalten. Zur kleinen Riege der Verschmähten zählte bislang auch Christian Kracht, der nicht zuletzt mit seiner Erfolglosigkeit im Trophäenkampf auch offensiv kokettierte. So ganz stimmte das zwar nicht, immerhin verstaubt der Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar schon drei Jahre im Regal, doch die wichtigen (soll heißen: hoch dotierten) Literaturpreise sind an Kracht bisher tatsächlich vorübergegangen. Von nun an ist es mit der Unschuld allerdings vorbei, denn Krachts Roman »Imperium«  um den Aussteiger und Kokovoren August Engelhardt wird mit dem renommierten Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet. In der Begründung der Jury heißt es, »Imperium« entwerfe ein »groteskes Sittenbild des frühen 20. Jahrhunderts, in dem Lebensbewegte, Lebensreformer, bärtige Bohemiens und aufbegehrende Aussteiger ihren privaten Wahnsinn zu Welterlösungsideen ausweiteten, übers Meer fuhren, um Land zu gewinnen, und Wahnsinn fanden, den lachenden Tod«. Der Roman balanciere  auf »der Grenze zwischen Komik und Schrecken […] mit großer Sicherheit und bildet so einen bedeutenden Knoten im Gewebe der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur«. Ob das Preisgeld in Höhe von dreißigtausend Euro über den Verlust der literaturpreislichen Jungfräulichkeit hinweg zu trösten vermag?

Neben dem Deutschen Buchpreis wird auf der Frankfurter Buchmesse auch dieses Jahr wieder das beste Buch eines unabhängigen Verlags ausgezeichnet. Noch stehen zehn Titel auf der »Hotlist«, wobei nur sieben von der Jury vorgeschlagen wurden. Ein Publikumsvoting im Internet ermittelte die übrigen drei Nominierten. Eine weitere Besonderheit: Das Preisgeld in Höhe von fünftausend Euro »geht an den Verlag des ausgezeichneten Titels und würdigt damit die verlegerische Leistung«. Das gilt ebenfalls für den »Melusine-Huss-Preis« in Höhe von viertausend Euro, der von den Buchhändlerinnen und Buchhändlern bestimmt wird.

Seit 2009 setzt die »Hotlist« der Dominanz der großen Verlage beim Deutschen Buchpreis ein wirksames Korrektiv entgegen. Vorrangiges Ziel ist es, den kleinen und unabhängigen Verlagen eine Plattform zu bieten, Aufmerksamkeit zu generieren und dadurch langfristig die Vielfalt der Verlagslandschaft zu erhalten und zu stärken. Denn die Existenz unabhängiger Verlage sei »für die deutschsprachige Bücherlandschaft die Garantie von Würze, Farbigkeit und Vielfältigkeit, für verlegerischen Mut, neue Ideen, die Bewahrung von Schätzen, hartnäckige Qualität oder auch aufrechte Pflege des Leisen und Feinsinnigen und von vielem mehr«.

Die Preisverleihung findet am 12. Oktober bei der Party der Independents im Literaturhaus Frankfurt statt.

 

Die »Hotlist« 2012:

  • Jeffrey Yang: Ein Aquarium. Gedichte. Berenberg Verlag.
  • Miklós Vajda: Mutterbild in amerikanischem Rahmen. Roman. Braumüller Verlag.
  • Angelika Meier: Heimlich, heimlich mich vergiss. Roman, Diaphanes.
  • Tor Ulven: Dunkelheit am Ende des Tunnels. Geschichten, Literaturverlag Droschl.
  • Michèle Roten: Wie Frau sein. Protokoll einer Verwirrung. Echtzeit Verlag.
  • Lukas Meschik: Luzidin oder Die Stille. Roman. Jung und Jung.
  • Peter Gizzi: Totsein ist gut in Amerika. Gedichte. luxbooks.
  • Robert Louis Stevenson / Henning Wagenbreth: Der Pirat und der Apotheker. Eine lehrreiche Geschichte. Peter Hammer Verlag.
  • Tamta Melaschwili: Abzählen. Roman. Unionsverlag.
  • Helon Habila: Öl auf Wasser. Roman. Verlag Das Wunderhorn.