Zwei junge Mädchen lernen sich kennen, freunden sich an und schwören sich ewige Treue. Aber nur in schlechten Romanen ist Ewigkeit mehr als die Hoffnung bemitleidenswerter Optimisten. Und nur in schlechten Romanen ist die Kindheit ein Hort unbeschwerter Glückseeligkeit, wo das Böse nur in Erzählungen lauert. »Nachhinein« von Lisa Kränzler ist alles andere als ein schlechter Roman. Die Geschichte der zwei anfänglichen Freundinnen ist in ihrer Konsequenz so schonungslos wie wahrhaftig. Und ja, die Wahrhaftigkeit, die in diesem Roman steckt, ist mitunter schwer zu ertragen. Eben weil am Ende, im Nachhinein, alles ganz anders kommt, als die Freundinnen es sich erhofft hatten. Im Nachhall klingt der hehre Schwur, mit dem alles seinen Anfang genommen hat, so hohl und leer, dass es beinahe schmerzt.

Heute werden wir das Ritual vollziehen, den heiligen Akt, der uns endgültig und für alle Zeiten in ewiger Schwesternschaft aneinanderschweißen wird.

Die elegante und raffinierte Sprache, die dem Leser auf jeder einzelnen Buchseite entgegen schlägt und die selbst der Schilderung trostlosester Situationen einen literarischen Zauber verleiht , ist eine Sache. Die überaus gelungene Komposition des Romans eine andere. Dass das individuelle Schicksal in »Nachhinein« einen über das Konkrete hinaus weisenden exemplarischen Charakter erlangt, deutet bereits der ungewöhnliche Umgang mit Namen an. Die beiden Freundinnen sind nicht vollkommen namenlos, die eine heißt «vielleicht« JasminCelineJustine, die andere hört auf LottaLuisaLuzie. So wird einerseits ein Moment der Vagheit und des Ungefähren eingeführt, andererseits sind beide Namensreihen aber schon mit eben den sozialen Schichten und Mileus assoziativ verbunden, denen die zwei Mädchen ja tatsächlich entstammen.

JasminCelineJustine ist ein Kind der Unterschicht und wächst in so verwahrlosten wie grausamen Verhältnissen auf. Dass der Vater an der Flasche hängt und der Bruder ein sadistisches Arschloch ist, gehört da noch zu den kleineren Problemen. Vergewaltigung, sexueller Missbrauch – die schlimmsten Taten, die Menschen einander antun können, werden mit einer derartigen sprachlichen Wucht geschildert, dass es dem Leser schier den Magen umdreht.

Liegen bleiben. Immer nur liegen bleiben, auf feuchten Laken, vollgesogen mit FALSCH, angstverklebt, hassverkrustet. Glibbern zwischen ihren Beinen. Wunde, dunkle Gänge, angefüllt mit tausend Sporen. Sporen, die ihr Inneres befallen, die vielleicht Schichten bilden, grau-grüne, flaumige Schichten, wer weiß.

Hingegen wächst LottaLuisaLuzie in einem behüteten, bürgerlichen Elternhaus auf und erfährt dort durchaus so etwas wie Geborgenheit und Liebe. Sie entwickelt eine eigentümliche und doch ungemein starke Zuneigung zum Klavierspiel und fährt den Sommer über mit der Familie nach Spanien. Und doch verbringen die beiden Freundinnen unzählige gemeinsame Nachmittage mit dem Videospiel »Street Fighter« und stellen sich der Herausforderung des Älterwerdens, nicht ahnend, was da folgen wird: Aufgabe, Verrat, Enttäuschung – schmerzlicher als die kleinen und größeren Schweinereien der Erwachsenen sind nur die Grausamkeiten, die Kinder einander zufügen.

An manchen Tagen könnte ich schwören, dass ich das Gesicht, das mir aus dem Glas entgegenstarrt, niemals zuvor gesehen habe. Offenbar befinde ich mich mitten in einer Metamorphose zu – ja, zu was eigentlich?

Nun ist Älterwerden nicht gleich Älterwerden. Unterschiedlicher könnten die Vorrausetzungen ja kaum sein, und der Clou besteht eben darin, dass dieser Ausgangslage das spätere Unglück und das Versagen im Angesicht dieses Unglücks bereits von Anfang an eingeschrieben sind. Das Panorama der sozialen Verwerfungen wird der Entwicklung der beiden Freundinnen also nicht einfach so übergestülpt. Stattdessen verknüpft »Nachinein« allgemeinmenschliche Fragen nach der eigenen Identität und Zugehörigkeit mit den Besonderheiten gesellschaftlicher Situationen und verleiht der Coming-of-Age-Geschichte eine materialistische Wendung. Von Wohlfühlliteratur à la Wolfgang Herrndorfs »Tschick« ist der Roman damit mindestens ebenso weit entfernt wie von der melancholischen Mitleidsprosa eines Hermann Hesse. Nichts Verklärendes haftet ihm an, nur Wahrhaftigkeit und Schönheit, trotz allem.

Lisa Kränzler: Nachhinein. Verbrecher Verlag: Berlin 2013.

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