Zwei Männer sitzen auf einer Parkbank irgendwo in Japan. Zuerst beobachten sie einander, dann lernen sie sich kennen, schließlich wird der einen des anderen Rettung. Ganz verschieden sind sie doch beide Außenseiter, die sich von der Welt zurückgezogen haben, Verlierer, die nicht länger fähig sind in der Gesellschaft zu funktionieren. So erzählt »Ich nannte ihn Krawatte« nicht nur eine berührende Geschichte über eine ungewöhnliche Männerfreundschaft, sondern streift elegant und unaufgeregt auch von Anfang an die ganz fundamentalen Fragen des Menschseins. Ein kleiner Roman, aber eine große Sensation. 

Milena Michiko Flašar beim Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse über Japan, private Rebellionen und den unverhofften Erfolg.  

Liebe Milena Michiko Flašar, Ihr erster Roman trägt den Titel »Okaasan«, das ist das japanische Wort für Mutter. Ihr aktueller Roman »Ich nannte ihn Krawatte« spielt in Japan. Als Leser hat man das Gefühl, dass Sie sich dort sehr gut auskennen. Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zu Japan?

Mein persönliches Verhältnis begründet sich auf die Beziehung, die ich zu meiner Mutter habe. Es ist ein sehr emotionales Verhältnis zu dem Land und den Menschen. Japan ist eine Heimat für mich, so wie es auch Österreich ist. Das spielt sich für mich auf einer intuitiven Ebene ab. Es ist kein faktisches Wissen, das ich über Japan habe, sondern ein emotionales Wissen. Ich weiß um Haltungen, ich weiß um Gesten, ich weiß um innere Einstellungen, um Glaubenswerte. Ich habe das verinnerlicht und inwendig in mir.

War es von Beginn an klar, dass »Ich nannte ihn Krawatte« in Japan spielen soll, oder hätten sich die zwei Protagonisten auch in einem Wiener Kaffeehaus treffen können?

Nein, für mich war klar, dass ich die Geschichte in Japan ansiedeln würde. Gerade auch, weil das letzte Buch schon andeutungsweise mit Japan zu tun hatte und damit geendet hat, dass die Protagonistin nach Japan gereist ist, beziehungsweise reisen wollte. Ich fand es gedanklich sehr schön, auch mit dem nächsten Buch nach Japan zu gehen und die Handlung dort spielen zu lassen. Ob das funktioniert, ob ich das als Schriftstellerin überhaupt kann – das hat mich auch sehr interessiert.

Ihrem Blick auf Japan haftet nichts Voyeuristisches an. Das Exotische und Fremde, das bei der Betrachtung von Japan durch einen Mitteleuropäer häufig mitschwingt, wird nicht herausgekehrt. War es Ihnen wichtig, die kulturellen Unterschiede zwischen Japan und Europa nicht so grell herauszuarbeiten? 

Das war mir tatsächlich sehr wichtig. Natürlich – die Geschichte hat einen Ort, sie spielt in Japan. Mir war jedoch wichtig, dass die Handlung des Buches nicht nur in Japan spielen kann. Sondern dass es auch prinzipiell möglich ist, dass sich ein europäischer Leser in der Geschichte wiederfinden und sie in seine eigene Lebenswelt transportieren kann. Es ist ja auch so: Wenn etwas fremd ist, auf den ersten Blick, kann man näher ran, weil man weniger darüber weiß. Wenn man zu viel weiß über etwas, schafft das oft Distanz, weil man erst gar nicht hinschaut, weil man sich eh sicher ist, es zu kennen.

Taguchi Hiro, einer der beiden Protagonisten und zugleich der Erzähler des Romans, ist ein so genannter Hikikomori. Das ist ein japanischer Begriff für ein Phänomen, dass hauptsächlich junge Menschen betrifft. Diese Menschen ziehen sich komplett zurück und verlassen ihr Zimmer nicht mehr. In Ihrem Buch deckt dieses Phänomen nun verschiedene Ebenen ab: Es ist zwar ein spezifisch japanisches Phänomen, doch wird auch deutlich, dass jeder Mensch auf der Welt einen Hikikomori-Anteil in sich trägt.

Darum ging es mir vornehmlich. Zwar spielt die Handlung in Japan, doch ist das auch exemplarisch für das, was sich bei uns in Österreich oder Deutschland abspielt oder abspielen könnte.

Hikikomori ist ein Typus, aber auch eine Figur, die existentielle Themen in sich trägt.

Wie etwa sich zu scheuen, Verantwortung für jemand anderen zu übernehmen. Oder überhaupt aktiv in der Welt eine Rolle zu spielen, Angst davor zu haben oder unsicher zu sein. Und das sind wiederum Dinge, die jeder nachvollziehen kann. Diese zweite Ebene finde ich weitaus interessanter als die vordergründige Fassade.

Bevor sich Taguchi zurückzieht, fällt der zentrale Satz: „Ich kann nicht mehr.“ Ein Satz, den wohl jeder schon einmal sagen wollte oder sogar schon gesagt hat. In dem Roman gewinnt der Satz für Taguchi aber eine ganz besondere Bedeutung.

Es ist auch der Satz, den Yukiko, Taguchis Jugendfreundin, zu ihm sagte, als sie den Kontakt zu ihm abgebrochen hat. Er wiederholt das. Und wiederholt auch ihr Zurückziehen. Sie hat sich ja auch vor ihm zurückgezogen, sich ihm verweigert, war nicht mehr offen für Freundschaft. Bei ihm ist das „Ich kann nicht mehr“ gleichzeitig ein »Ich will nicht mehr«, »Ich will nicht mehr funktionieren«. »Ich will nicht in so einen Anzug herein wachsen«, sagt er an einer Stelle des Buches. Es ist beides: Nicht können und nicht wollen. Daher nimmt man auch an, dass dieses Hikikomori-Dasein eine Rebellion ist, eine Verweigerung. Ich würde nicht soweit gehen. Ich glaube, eine Rebellion hat immer eine politische Dimension.

Hikikomori ist eher eine innere, eine private Rebellion. Sehr leise, aber doch auch recht laut.

»Leise« ist ein gutes Stichwort. Man weiß ja nicht genau, wie viele Hikikomori es tatsächlich gibt. In Ihrem Buch wird Taguchis Schicksal auch nicht nach draußen getragen, es wird von den Eltern sorgsam verschwiegen. Sie erfinden sogar eine Lügengeschichte, damit die Nachbarn nichts davon mitbekommen. 

Es kommt auch einmal die Phrase vor: »Die Augen der Nachbarn«. Diese Augen der Nachbarn sind in Japan durch die Wohnbedingungen gegeben. Man lebt dort sehr eng aneinander. Es sind kleine Häuser, dünne Wände. Man hört sehr genau, was der Nachbar tut und hört was er sagt. Umso wichtiger ist es, sich abzugrenzen und bloß nichts nach draußen dringen zu lassen. Das hat sicherlich auch mit diesen Gegebenheiten zu tun. Und auch die Angst vor Stigmatisierung spielt eine große Rolle. Doch ich denke, dass dies alles auch auf uns zutrifft. Auch in europäischen Familien gibt es viele Geheimnisse, die nur ganz selten an die Öffentlichkeit drängen. Es ist Teil des Systems Familie, solche Dinge in sich zu halten und dem keine Luft zu geben.

Taguchi überwindet seine Isolation, indem er einem anderen Isolierten trifft. Es deutet sich auch bald eine zarte Freundschaft an. Im Verlauf der Geschichte wird der Kontakt intensiver. Es das die Bedingung, um den Weg zurück ins Leben anzutreten: Ein anderen Leidensgenossen zu finden. Denn von der Familie erfährt er ja keine direkte Hilfe. 

Das ist das Paradoxe dieser Situation. Auch beim Schreiben habe ich mir die Frage gestellt, wie Taguchi aus seiner Situation herauskommen könnte. Das hat mich auch am meisten interessiert und nicht so sehr, wie es ihm im Zimmer geht. Spannend war für mich die Frage, wie er es schaffen würde, diese Wände zu durchbrechen. Die paradoxe Antwort darauf war, dass er es mit Hilfe einer Begegnung schafft. Es waren ja auch schmerzhafte Begegnungen, die dazu geführt haben, dass sich Taguchi zurückgezogen hat.

Aber letztlich geht er nach draußen, weil er sich nach der Berührung der Sonne sehnt. Das Bedürfnis, berührt zu werden, ist etwas sehr menschliches.

Das ist es auch, was einen antreibt und weitermachen lässt. Auch das ist ein menschliches Bedürfnis: weiterzukommen, etwas zu lernen. Sonst wären wir nicht die Menschen, die wir sind. Innerhalb der zwei Jahre in seinem Zimmer lehnt Taguchi all das ab: Entwicklung, Zeit.

Da Sie gerade von „Weiterentwicklung“ sprechen: „Ich nannte ihn Krawatte“ ist Ihr drittes Buch und Ihr zweiter Roman. Sie sind damit auf die Longlist des Deutschen Buchpreises gekommen und haben allenthalben furiose Kritiken erhalten. Kam das überraschend, oder ahnten Sie während des Schreibens schon, dass das ein Buch ein Erfolg werden würde?

Für mich war das, ganz im positiven Sinne, eine Überraschung. Ich war natürlich auch begeistert von dem, was ich da geschrieben hatte. Das gehört auch dazu, sonst würde man es nicht aus der Hand und einem Verlag geben. Mir hat das schon sehr gut gefallen, aber ob das auch anderen gefallen würde, das ist eine ganz andere Frage. Es war schon ein Zittern und Bangen, bevor die ersten Rezensionen herauskamen. Denn das sind oft die entscheidenden, so ist zumindest mein Eindruck. Ich habe mich dann einfach nur gefreut, dass das Buch so gut ankam und aufging. Und was mich am meisten gefreut hat, ist, dass es so viele unterschiedliche Menschen anspricht. Ob jung, alt, Mann, Frau – es ist gleichmäßig verteilt auf die unterschiedlichsten Gruppen. Für mich ist das sehr schön. Das freut mich am meisten.

Können Sie uns zum Schluss noch eine Literaturempfehlung geben? Was sollte man in dieser Saison unbedingt gelesen haben? 

Ich empfehle »Wovon wir träumten« von Julie Otsuka im Mare Verlag. Sie ist eine japanischstämmige Amerikanerin und beschreibt, in der »Wir-Form«, ganz poetisch, zerbrechlich und wunderschön das Los der Japanerinnen, die vor dem zweiten Weltkrieg nach Amerika ausgewandert sind. Sie hat viele individuelle Schicksale in ein kollektives »Wir« verpackt und es ist ihr so toll gelungen. Es ist eines der besten Bücher, das ich in diesem Jahr gelesen habe.

Milena Michiko Flašar (geb. 1980) studierte Komparatistik, Germanistik und Romanistik in Wien und Berlin. Die Tochter eines Österreichers und einer Japanerin lebt heute als Schriftstellerin in Wien und unterrichtet nebenbei Deutsch als Fremdsprache. »Ich nannte ihn Krawatte« wurde mit dem Literaturpreis Alpha 2012 ausgezeichnet.  

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