Erstmals für größeres Aufsehen sorgte er mit der Erzählung »Diesseits des Van-Allen-Gürtels«, die 2004 beim Wettlesen in Klagenfurt überraschend mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Es folgte der Bestseller »Tschick« über zwei Jugendliche, die sich in einem alten Lada aufmachen zu einer Reise durch die ostdeutsche Provinz. Zuletzt erschien der furiose Agenten-Roman »Sand« und gewann prompt den Preis der Leipziger Buchmesse 2012.

Gestern ist Wolfgang Herrndorf im Alter von 48 Jahren verstorben. Wie Kathrin Passig via Twitter mitteilt, hat er sich »in den späten Abendstunden am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen«. Seit 2010 litt Herrndorf an einem bösartigen Hirntumor. Das Leben mit der Krankheit hat er in seinem Blog »Arbeit und Struktur« dokumentiert und reflektiert.

Mit Wolfgang Herrndorf verliert die deutschsprachige Gegenwartsliteratur zweifellos eine ihrer interessantesten und besten Stimmen. Nicht auszudenken, was du noch hätte kommen können. Aber es hat nicht sollen sein. Darum sagen wir ganz still und leise danke – für die schönen Stunden mit »Tschick« und mit »Sand«.

friedrich_kittler_philosophien_der_literaturZum Abschied waren sich ausnahmsweise alle einig. Als der Literaturwissenschaftler, Medientheoretiker und Philosoph Friedrich Kittler im Oktober 2011 verstarb, erinnerten zahllose  Nachrufe an einen großen, unkonventionellen Denker. Und niemand versäumte es, auf den anfangs steinigen Weg hinzuweisen, den Kittler nehmen musste. Man kann sich heute nur schwer vorstellen, welche Provokation es für die geisteswissenschaftliche Zunft hier zu Lande darstellte, als Kittler mit allerhand französischen Poststrukturalismen bewaffnet die »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« forderte. Das war neu, das war unerhört – zumal von einem, der noch nicht einmal einen Lehrstuhl inne hatte. Der Sammelband über die »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« erschien 1980, Kittler war nur Assistent am Deutschen Institut an der Universität Freiburg. Erst vier Jahre später erfolgte die Habilitation – nach einem Habilitationsverfahren, das in der deutschen Universitätsgeschichte wohl einmalig ist. Anstelle der üblichen drei brauchte es dreizehn Gutachten bis Kittlers Studie »Aufschreibesysteme 1800/1900« endlich akzeptiert wurde. Auch diese Schrift eine Provokation, inhaltlich wie stilistisch: In der Deduktion der Schreibweisen einer Epoche aus den dominierenden Medientechnologien sahen manche Kritiker einen unheilvollen Mediendeterminismus am Werk. Andere monierten Kittlers apodiktischen Duktus und die mitunter raunende Sprache. Weiterlesen

Man könne, schreibt David Wagner, »mit diesem Büchlein in der Hand auch sehr bequem auf dem Sofa liegend durch Berlin spazierengehen«. Das stimmt. »Welche Farbe hat Berlin« (ohne Fragezeichen!) ist ein so großartiger Reiseführer, dass er das Reisen selbst beinahe überflüssig macht. Wie Wagner mit wachem Auge und noch wacherem Geist die Straßen der bundesdeutschen Hauptstadt durchwandert und Eindrücke und Erlebnisse sammelt, ist von einer vordergründigen Einfachheit, hinter der sich aber großes Können verbirgt. Mag man anfangs noch denken, all die Skizzen, Notizen, Miniaturen und Anekdoten seien so schnell wieder vergessen, wie sie gelesen sind – bereits noch wenigen Seiten wird man den eigenen Irrtum erkennen. Dann nämlich hat einen das Buch schon um den Finger gewickelt – und man möchte auch gar nicht mehr davon loskommen, sondern kommt der Einladung zur literarischen Erkundungsreise freudig und gespannt nach. Weiterlesen

Michael Hardt und Antonio Negri sind neben Slavoj Žižek und Alain Badiou so etwas wie die Superstars der radikalen Linken. Bekannt wurden der US-amerikanische Literaturwissenschaftler und der italienische Politologe mit ihrer Analyse der Herrschaftsverhältnisse im gegenwärtigen Kapitalismus. »Empire – die neue Weltordnung«, 2000 erschienen und 2002 ins Deutsche übersetzt, wurde kontrovers diskutiert und übte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die globalisierungskritische Bewegung und andere linke Strömungen aus. Es folgten dann binnen weniger Jahre zwei weitere Schriften, »Multitude« und »Commen Wealth«, die den mit »Empire« eingeschlagenen Weg fortzuführen versuchten. In »Multitude« konkretisieren die Autoren ihre Vorstellung einer Vielfalt (Multitude) von Singularitäten, die sie den vermeintlich homogenen Kollektiven der Vergangenheit entgegen setzen. »Common Wealth« plädiert für eine Auflösung des Privateigentums und die Schaffung von demokratisch verwalteten Kollektivgütern, so genannten Commons. Und nun: »Demokratie! Wofür wir kämpfen«, eine 120 Seiten umfassende Streitschrift, die auf Englisch und unter dem schlichten Titel »Declaration« zuvor schon einige Zeit im Internet kursierte. Weiterlesen

Vor einem fremden Bücherregal, in einer hippen Berliner Wohnung, perfekt eingerichtet und doch oder gerade deshalb eine »aufdringliche Langweile« verströmend, nimmt die Liebe ihren Anfang. Sie, Philosophin und somit qua Profession Bescheid wissend, korrigiert seine Aussprache des Neuplatonikers Plotin – »Plo-tiehn!« – , den er in seiner Unwissenheit für einen Vorsokratiker hält. Er, erfolgreicher Modejournalist (»Ich habe den absurdesten Beruf der Welt«) und über weite Strecken Erzähler dieses großartigen Romans, ist darüber so entzückt, dass er sich auf der Stelle in Julia Speer verliebt. Dann geht alles ganz schnell. Knutschen. SMS. Nächstes Treffen am darauf folgenden Tag. Wieder Knutschen. Noch mehr SMS. Und so weiter, und so fort. Aber: kein Sex. Das ist ungewöhnlich, aber dann wiederum auch nicht so ungewöhnlich. Immerhin geht es um Liebe. Reine, pure Liebe, (neu-)platonisch sozusagen. Weiterlesen

Noch zu Schulzeiten schrieb und veröffentlichte dieser genialische junge Mann sein erstes Buch, das zeit seines viel zu kurzen Lebens auch sein einziger großer literarischer Erfolg bleiben sollte. Ronald M. Schernikaus »Kleinstadtnovelle«, 1980 erschienen, handelt vom Coming-out in der deutschen Provinz und davon, wie schwierig es ist, im pseudoliberalen Mief der Post-Hippie-Ära politisch Haltung zu bewahren. Der Protagonist ist Schüler am Gymnasium, homosexuell, Kommunist und klüger als alle Mitschüler und Lehrer sowieso. Unverkennbar stand die eigene Person der Literatur Pate, doch trübt die biographische Fokussierung auch hier den Blick auf das Wesentliche, nämlich auf die ungeheuren literarischen Qualitäten dieses doch so kurzen Textes, auf die sprachliche Eleganz wie die stimmungsvolle Komposition. »Kleinstadtnovelle« ist, was der Titel verspricht – eine Novelle, die in ihrer Formstrenge und ihrem unbedingten Kunstwillen nicht ganz zufällig an das große Vorbild Peter Hacks erinnert. In einer besseren Welt wäre »Kleinstadtnovelle« Pflichtlektüre an allen Schulen in diesem Land.

Taufrisch ist sie nicht mehr, Tzvetan Todorovs »Einführung in die fantastische Literatur«, und wer hier einen Überblick über Motive und Tendenzen der fantastischen Literatur der vergangenen Jahre erwartet, launig und gut lesbar aufbereitet, ist klar an der falschen Adresse. Aber eine solch zusammenfassender Abriss mit Anspruch auf Unterhaltung wie auf Information war auch schon bei Erscheinen nicht das Ziel der knappen Studie. Stattdessen betreibt Todorov Literaturwissenschaft mit Betonung auf Wissenschaft, und das wirkt in einer Zeit, in der die Grenzen zwischen wissenschaftlichem Schreiben und quasi-literarischer Essayistik zunehmend verschwimmen, in höchstem Maße unzeitgemäß. Der analytische Rigorismus, mit dem hier der Literatur auf den Leib gerückt wird, ist heute kaum mehr zu finden. Er gehört ganz einer Epoche an, in welcher der Strukturalismus das maßgebliche Paradigma der Literaturwissenschaft war, verbunden mit bis heute klingenden Namen: Roland Barthes, Umberto Eco, Julia Kristeva. Und nicht zuletzt: Tzvetan Todorov. Weiterlesen

Die Frankfurter Buchmesse naht mit großen Schritten und folglich rückt auch die Verleihung des Deutschen Buchpreises, der sich in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Literaturpreise in Deutschland gemausert hat, immer näher. Die interessanteren literarischen Gewächse gedeihen jedoch oft abseits der bekannten Pfade. Damit der Leser sie nicht übersieht, prämiert die Hotlist auch in diesem Jahr wieder die zehn besten Bücher aus unabhängigen Verlagen – ein hilfreicher Wegweiser durch das Dickicht der Gegenwartsliteratur. Weiterlesen

Wer hat sich das bloß ausgedacht? Es gibt Dinge auf der Welt, die scheinen leider so selbstverständlich, dass man sich nur noch selten daran stößt. Zum Beispiel fünf Tage im Büro, auf dem Bau oder woauchimmer schuften – für ein läppisch kurzes Wochenende. Und wer hat gesagt, dass nur die runden Geburtstage gefeiert gehören oder dass es für Ausgelassenheit und Exzess überhaupt einen Anlass braucht? Dem tristen Alltag aus Lohnarbeit, Familienstumpfsinn und Hochkulturblödheit, all den offenen und verborgenen Zwängen und Forderungen das Versprechen von Befreiung und Glück entgegensetzen, das war und ist ein Anliegen von Pop. Und vielleicht ist das auch einer der Gründe, weshalb die Spex, das Zentralorgan der deutschen Popintelligenzija, einfach so zwischendurch feiert. Jedenfalls hat man sich selbst und der Leserschaft ganz unrunde 33 1/3 Jahre nach Gründung nun ein Geschenk dargebracht. »Spex – Das Buch« versammelt Texte aus mehr als drei Jahrzehnten, verfasst von einer höchst illustren Riege von Autorinnen und Autoren: Tobias Levin, Jens Balzer, Christoph Gurk, Eric Pfeil, Tobias Rapp – um nur einige zu nennen. Weiterlesen

Als John F. Kennedy fliegen ihm die Herzen der Fans zu, als Lawinenhund wird er zum Retter in größter Not und manchmal möchte er auch einfach nur weinend zum Auto gebracht werden oder über das deutsche Kino lästern. Der Musiker und Sänger Jens Friebe verbindet die ganz großen Gesten des Pop mit deutschsprachigen Texten, die immer eingängig und manchmal albern, aber niemals banal sind. Freundinnen und Freunden guter Popliteratur ist Friebe zudem durch sein Buch »52 Wochenenden« ans Herz gewachsen. Ein Gespräch über Schlager, Protest und das Faszinosum Ronald M. Schernikau. 

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In Zeiten einer scheinbar grenzenlosen Liberalität gehört schon einiges dazu, dass ein Roman auf dem Index landet. So geschehen mit »American Psycho« von Bret Easton Ellis, den die Damen und Herren der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien aufgrund detaillierter Schilderung verschiedenster Gewalttaten immerhin für sechs Jahre aus dem Verkehr zogen. Eine absurde Begründung, denn schließlich wird der Roman doch immer dann besonders eklig, wenn der sympathische Patrick Bateman seitenweise von Phil Collins und Whitney Houston schwärmt. Verglichen mit diesen Höhepunkten der Scheußlichkeit können die Morde, Vergewaltigungen und Folterungen, durch die Bateman die saturierte Langeweile seines Yuppie-Daseins aufzupeppen versucht, kaum noch schockieren. Und davon, dass die Damen und Herren Zensoren die literaturgeschichtliche Bedeutung dieses großen Romans, der die ästhetischen Ansätze der Popliteratur gekonnt mit Schreibweisen der Décadence (Huysmans, you know?) verbindet, wahrscheinlich nicht einmal erahnten, wollen wir an dieser Stelle besser gar nicht erst anfangen.

Schöpfung, geboren aus Wahn, Furcht und Ohnmacht. Die Angst vor dem unendlichen, grauenerregenden Abgrund, der hinter der brüchigen Fassade der modernen Welt lauert, hat ihn zeit seines kurzen Lebens umgetrieben. Und sie hat Seltsames, gar Widersprüchliches hervorgebracht. Im Privaten war Howard Phillips Lovecraft ein weltfremder Sonderling mit zum Teil fragwürdigen politischen Ansichten. Im Künstlerischen hat er weit mehr geschaffen als ein umfangreiches und einzigartiges literarisches Werk – er hat einen Mythos ins Leben gerufen, der bis heute in Literatur, Musik und Popkultur fortwirkt. Das fiktive Buch Necronomicon, das etwa Tocotronic auf ihrem 2002er Album besingen, geht ebenso auf Lovecraft zurück wie die vielfach kolportierte Vorstellung einer mysteriösen außerirdischen Rasse, genannt »die Großen Alten«. Wichtiger als der Nachruhm und die Nachahmer ist aber, dass Lovecrafts Romane, Erzählungen und Kurzgeschichten auch heute noch unbedingt lesenswert sind. Genauso wie der grandiose Lovecraft-Essay von Michel Houellebecq, »Gegen die Welt, gegen das Leben«.