lärm und wälderDie Angst ist in diesem Roman allgegenwärtig. Und haben die Bewohner dieser unheilvollen Orte nicht allen Grund sich zu fürchten? Um sie herum herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Überfälle und Sabotageakte sind an der Tagesordnung, die staatliche Ordnung wird mit jedem Tag brüchiger. Juan S. Guses »Lärm und Wälder« erzählt von einer Welt, in welcher der Ausnahmezustand längst zur Normalität geworden ist, wo Furcht und Paranoia ständige Begleiter sind. Es ist eine Welt am Abgrund, in der sich das saturierte Bürgertum hinter meterhohen Mauern und Stacheldrahtzäune verschanzt, bewacht von der Polizei und privaten Sicherheitsdiensten. Aus Angst vor denen, die nichts haben, haben sich die Besitzenden mit ihrem ganzen Hab und Gut an die letzten vermeintlich sicheren Orte zurückgezogen. Doch die Einschläge kommen immer näher. Das Kapitalverhältnis, hier ist es auf seinen Kern reduziert − auf nackte Gewalt, die schließlich in Gegengewalt umschlägt.

Vielleicht kommt er doch schneller als erwartet, der große Aufstand, die Eskalation der Gewalt.

Eine dieser abgeriegelten Siedlungen trägt den Namen Nordelta und stellt so etwas wie eine idyllische Insel inmitten des Chaos dar, mit gepflegten Vorgärten hier und künstlichen Seen dort. In Nordelta hat sich auch Hector mit seiner Frau Pelusa, dem gemeinsamen Sohn Ignacio und Stiefsohn Henny niedergelassen. Für Pelusa ist es der zweite Rückzugsversuch, nach einer gescheiterten Flucht aufs Land mit einem Namenlosen, der sich mehr und mehr zum misstrauischen und manipulativen Tyrannen wandelte. Schließlich wurde die Situation so unerträglich, dass auch Pelusas geliebte Bücher ihr keine Zuflucht und keinen Trost mehr bieten konnten. Pelusa kommt nach Nordelta, um ein neues Leben anzufangen, doch Frieden und Ruhe − das wird bald klar − wird sie auch hier kaum finden.

Die Geschichte, in »Lärm und Wälder« wiederholt sie sich. Zunächst ist es ein mysteriöser Trappistenmönch, dessen Eindringen in die abgeschiedene Einsamkeit die fragile Balance des Aussteigerpaares zerstört. Der Argwohn wächst, das Ende der Beziehung scheint nur mehr eine Frage der Zeit. Später dann die nahenden Unruhen und Aufstände außerhalb Nordeltas, die Familienvater Hector zu einem ebenso verzweifelten wie absurden Rettungsversuch verleiten − mit fatalen Folgen. Und schließlich ist da noch Henny, schon aufgrund seiner Behinderung und seiner eigenwilligen Verhaltensweisen ein Außenseiter, der ein Raumschiff bauen will, denn »er allein», so glaubt er, »kann seine Familie in ein besseres Leben hineinführen«. Selbst ein Heranwachsender ist somit von der Furcht beherrscht, doch wirkt seine kindlich-fantastische Fluchtfantasie im Vergleich zu den neurotischen Verhaltensweisen der Erwachsenen noch am wenigsten verhängnisvoll.

Für die Menschen außerhalb der Mauern interessiert sich der Roman nur am Rande, es zählt das Innenleben. Eine Ignoranz, die zunächst befremden mag, aber zunehmend an Plausibilität gewinnt. Auch so bleibt genug zu erzählen − und dass bei all den Sprüngen zwischen Orten und Zeiten, den Wechseln in der Erzählperspektive und den Einschüben die Übersicht nicht verloren geht, dafür sorgt auch die präzise und kraftvolle Sprache. So stört es auch nicht, dass manches ausgelassen oder nur vage angedeutet wird, stiftet doch im Gegenteil erst die daraus resultierende Unbestimmtheit jene Gleichheit, die für den Roman so entscheidend ist. Denn der Leser weiß im Grunde so wenig wie die Bewohner von Nordelta, was vor den Mauern der Siedlung tatsächlich vor sich geht. Die Angst vor dem Fall des sicher geglaubten Zufluchtsorts, für alle ist sie genährt aus ungesicherten Medienberichten und Gerüchten. In diesem Klima der Hysterie gerät aber die kleinste Abweichung oder Ungewöhnlichkeit gleich zum Indiz für das Schlimmste. Und dadurch, dass die Bedrohung in kafkaesker Manier kaum zu lokalisieren ist und fast bis zum Schluss diffus bleibt, entfaltet sie erst ihre Wirkung. Wo ist sie real? Und wo nur eingebildet? »Lärm und Wälder« spielt gekonnt mit dieser spannungsvollen Ambivalenz, ohne sie je vollständig aufzulösen.

So undurchsichtig wie der wirkliche Grad der Gefährdung, so kopflos die Reaktionen der Eingeschlossenen. Während etwa Pelusas Schwester Sara als Anhängerin einer aufstrebenden Freikirche um die protestantische Predigerin Joyce Meyer auf Wohltätigkeit und Barmherzigkeit setzt, legt Hectors Kumpel Alvaro eine zynischere Sicht der Dinge an den Tag. Von derlei »Wohltätigkeitshomöopathie« will er nichts wissen. Er bekennt frei heraus, dass man als Bewohner von Nordelta mit dem tobenden Mob auf der anderen Seite der Mauer nichts gemeinsam habe. Man müsse sich daher schon selbst rüsten für die Zeit nach dem großen Zusammenbruch, wenn Recht und Ordnung aufgehört haben zu existieren. Wobei der vermeintlich oder tatsächlich bevorstehende Untergang von den chauvinistischen und zivilisationsmüden Angstbürgern andererseits auch sehnsüchtig erwartet wird − als Bewährungsprobe und Chance für einen Neustart.

Das Ende kann ruhig kommen. Denn dann setzt endlich die Heilung ein.

Es geht in »Lärm und Wälder« folglich nicht nur um die Entstehung von Ängsten, um ihre realen wie imaginären Ursachen, sondern auch um die Frage, wie Menschen mit Unsicherheiten und Bedrohungen umgehen und welche psychischen und sozialen Dynamiken in Gang gesetzt werden. Der Roman gewährt verstörende Einblick in die Seelenlage einer zutiefst neurotischen Gesellschaft, die diese Bezeichnung kaum noch verdient. Denn es ist eine Gesellschaft in Auflösung, in der jeder um sein eigenes Fortkommen und Überleben kämpft. Aber am beunruhigendsten ist vielleicht, dass dieser dystopische Entwurf bis ins Detail gegenwärtig wirkt. Siedlungen wie Nordelta, so genannte Gated Communities, sind in vielen Ländern der Erde kein seltener Anblick. Und auch Joyce Meyer, der die verunsicherte und ängstliche Anhängerschaft wie gebannt an den Lippen hängt, ist keine Erfindung. Mit banalem Geplapper und esoterischem Humbug verdient die reale Joyce Meyer viel Geld − und dabei unterscheidet sich ihr Geschäftsmodell nicht wesentlich von dem jener Konstrukteure, welche die Festungen für die Wohlhabenden errichten und unterhalten. »Wissen Sie«, sagt eine Bewohnerin Nordeltas, »manchmal ist es leichter, sich für die Angst zu entscheiden.« Vor einer Welt, wie sie dieser Roman zeigt, kann einem wirklich Angst und Bange werden.

Juan S. Guse: Lärm und Wälder. S. Fischer: Frankfurt am Main 2015. 

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