Die Frage ist nicht, ob etwas passiert, sondern wann. Und was. Und wie schlimm es kommen wird. Blut wird fließen, soviel ist sicher. Aber werden Köpfe rollen, abgetrennte Gliedmaßen durch die Luft wirbeln und Gedärme aus offenen Bäuchen quellen? Oder kommt der Schrecken subtiler daher und zermartert den Verstand anstelle des Körpers? Aus Horrorfilmen oder Thrillern ist dieses Phänomen bekannt: Tumbe Trulla läuft durch den Wald, trifft einen schrägen Einheimischen und keine halbe Stunde später steckt ihr Kopf auf einem Pfahl. Oder so ähnlich. Als Zuschauer möchte man diesem dummen Ding am liebsten zurufen, nicht so naiv zu sein und dem finsteren, bärtigen Waldschrat doch besser nicht zu vertrauen. Aber sie steigt natürlich doch auf die Rückbank seines Autos und das Unglück nimmt seinen Anfang.
Es ist erstaunlich, wie penibel Ryū Murakamis Roman »Das Casting« dem bewährten Muster folgt. Verglichen mit dem eingangs angeführten Beispiel tauschen Opfer und Täter lediglich das Geschlecht und der Schauplatz der Handlung liegt im fernen Japan. Ansonsten alles wie gewohnt: Ein ahnungsloser Seppel läuft blindlings ins offene Messer, und das eben nicht nur im übertragenen Sinn. In diesem Fall heißt er Aoyama, ist Vater eines jugendlichen Sohnes, Witwer und infolgedessen – wie sollte es anders sein – einsam. Eine Frau muss also her, weshalb Aoyamas Kumpane Yoshikawa ein gefälschtes Filmcasting vorschlägt, denn nur so ließe sich das Beste vom Besten, soll heißen die schönsten, klügsten, interessantesten Frauen ausfindig machen.
»Es gibt nur eine Möglichkeit.« Er nahm noch einen Schluck. »Wir müssen ein Casting machen.«
Wahrscheinlich hat besagter Yoshikawa noch nie ProSieben eingeschaltet und gesehen, dass die so genannten »Mädchen«, die da am laufenden Band erniedrigt werden, zwar mehr oder weniger irgendeinem abstrakten Schönheitsideal entsprechen, zum ganz überwiegenden Teil jedoch fern von klug und interessant sind. Aber das sind schließlich nur die aktuellen Auswüchse des Castingwahns. Murakamis Roman ist im japanischen Original bereits 1997 erschienen (und wurde zwei Jahre später verfilmt). Wer weiß, vielleicht geht es deshalb bei Aoyamas und Yoshikawas Beutezug so gesittet. Keine Challenge, nirgends.
Die Beute oder das »Mädchen« – um im Jargon des Privatfernsehens zu bleiben – hört auf den Namen Yamasaki Asami, ist eine bildhübsche Balletttänzerin und hat den armen Aoyama schneller um den Finger gewickelt als ein hungriger Sumoringer ein Stück Maki verdrücken kann. Und während Aoyama alle Anzeichen, dass mit der schönen Yamasaki wohl irgendetwas nicht stimmt, hartnäckig ignoriert, ahnt der Leser schon bald, was Sache ist. Und möchte auch hier rufen: Stopp, kein Schritt weiter! Und natürlich rennt Aoyama dennoch ins Verderben.
Wenn das hier ein Film wäre, dachte er, müsste man die Szene mit lieblichen Tönen unterlegen. Bittersüße Streichermusik, während man Asamis Gesicht in Nahaufnahme sähe
Woher nimmt »Das Casting« also die Spannung? Denn spannend ist der Roman allemal, und auf seine Weise auch raffiniert erzählt, was über die zahme Gesellschaftskritik großzügig hinwegsehen lässt. Bis aus der Ahnung, dass die liebreizende Asami in ihrer Freizeit mit Vergnügen die Messer wetzt, schließlich Gewissheit wird, braucht es knapp 200 Seiten. Erst dann kann der Leser mit Sicherheit sagen, dass er es doch schon auf Seite 30 (oder 40, oder 50…) gewusst hat. Und vielleicht ist es mehr noch diese Bestätigung als das blutige und albtraumhafte Finale selbst, die den Leser am Ende zufrieden macht. Ein Roman, nicht für Gewalt-Voyeure, sondern für Besserwisser.
Ryū Murakami: „Das Casting“. Aus dem Japanischen von Leopold Federmair und Motoko Yajin. Septime Verlag: Wien 2013.