Betritt man heutzutage an einem schönen Herbsttag eine Buchhandlung, so türmen sich bereits ab der Eingangstür die Neuerscheinungen der meisten Verlage mit Rang und Namen. In bunten Einbänden und mit vielversprechenden Titeln versuchen die meisten Werke, die Aufmerksamkeit des geneigten Käufers bereits beim ersten Hinsehen an sich zu binden. In dieser hin- und herschwappenden Bilderflut aus Bestsellerlisten und Sonderangeboten springt einem derzeit Ljudmila Ulitzkajas Roman »Das grüne Zelt« beim ersten Mal vielleicht nicht unbedingt ins Auge, beim zweiten Blick dafür umso heftiger. Der Titel ist wenig reißerisch, dennoch klingt er geheimnisvoll und weckt Neugierde. Auch der Einband besticht durch seine optische Aufmachung: Farbige Muster ziehen dort konzentrische Kreise und sorgen gemeinsam mit dem Titel dafür, dass man bis zu dem Moment, in dem man das Buch zum ersten Mal aufschlägt, nicht die leiseste Ahnung hat, worum es eigentlich geht. Weiterlesen
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Ohne Worte
Zugegeben, ein paar Worte gibt es in Stella Dreis Wimmelbuch »Grimms Märchenreise« schon. Aber erst zum Schluss. Auf einer Doppelseite am Ende des Buches werden die zuvor in Bildern entwickelten Märchen jeweils kurz zusammengefasst. Das 200jährige Jubiläum der Brüder Grimm war für die Illustratorin und den Thienemann Verlag Anlass, dieses Buch herauszubringen.
Eine weitere Besonderheit ist, dass die die Märchen nicht getrennt voneinander erzählt werden, sondern parallel. Bereits auf der ersten Doppelseite sieht, wer genau hinschaut, alle Haupt- und Nebenfiguren der insgesamt sieben verschiedenen Märchen: Hänsel und Gretel, die sieben Brüder, die später von ihrem Vater zu Raben verwünscht werden, die Bremer Stadtmusikanten, die Ziege und ihre sieben Geißlein, Frau Holle, Schneewittchen, die sieben Zwerge, den gestiefelten Kater und nicht zuletzt das Rotkäppchen. Ihm kommt eine besondere Rolle zu:
Rotkäppchen führt durch Grimms Märchenwelt! Auf jeder Doppelseite ist es sieben Mal zu sehen … Es ist auf der Suche nach seinem roten Käppchen.
Dem Betrachter eröffnen sich beim Anschauen phantasievolle und lebendige Bildwelten, auf denen man das Schicksal der jeweiligen Protagonisten (nachdem man sie gefunden hat!) verfolgen kann. Wenn man die Märchen kennt, macht das umso mehr Spaß. Dann sieht man an den vielen kleinen Details, zum Beispiel dem Uhrenkasten, in dem sich eins der sieben Geißlein vor dem Wolf verstecken konnte, wie intensiv sich Stella Dreis mit der Thematik auseinandergesetzt hat. Vorher oder parallel zum Anschauen das Grimmsche Märchenbuch aus dem Regal zu nehmen und (nach) zu lesen, ist also empfehlenswert. Und weil es ein »Wimmelbuch« ist, gibt es sehr viel zu entdecken, das Buch mehrmals anzuschauen lohnt sich – man findet fast immer etwas Neues, das man vorher noch nicht gesehen hat.
Stella Dreis ist es mit ihren collagenartigen Illustrationen, die aus mehreren Schichten zu bestehen scheinen, gelungen, die verschiedenen Märchen gekonnt miteinander zu verweben. Der Titel hält, was er verspricht, ihre Bilder nehmen den Betrachter mit auf eine Reise in die Märchenwelt der Brüder Grimm – ganz ohne Worte.
Die 1972 in Plovdiv, Bulgarien, geborene Illustratorin hat schon im Kindesalter begonnen, zu malen. Zu ihren Lehrern gehörten die bulgarische Künstlerin Antoneta Zvetkova und Prof. Popovski. In den frühen 1990er Jahren beschloss sie, nach Deutschland zu gehen, wo sie seit 1995 studiert und arbeitet. Nachdem sie einige Jahre im Modebereich tätig war, wandte sie sich wieder der Illustration zu – für ihr erstes Buchprojekt »De stad die ervandoor ging« (»The city that went away«) wurde sie für den Hasselt Book Price nominiert und ihr Buch wurde bei Clavis Publishers verlegt. Heute lebt und arbeitet sie in Heidelberg.
Stella Dreis: Grimms Märchenreise. Ein Wimmelbuch. Thienemann: Stuttgart u.a. 2012.
Stella Dreis im Interview mit dem Thienemann Verlag
Heißer Sommer
Nein, wir befinden uns nicht im Jahr 1968, wie die Überschrift vielleicht vermuten lässt. Sondern im Sommer des Jahres 1965 in Corrigan, einer kleinen Stadt in Australien. Sie ist der Schauplatz von Craig Silveys Roman »Wer hat Angst vor Jasper Jones?«, der im September erstmals in deutscher Sprache erschienen ist. Laut dem 13-jährigen Protagonisten Charlie Bucktin ist es der heißeste Sommer, an den er sich erinnern kann. Doch nun zum Inhalt: Eines Nachts klopft Jasper Jones, der Außenseiter des Städtchens, an Charlies Fenster und nimmt ihn mit, um ihm einen grausamen Fund zu zeigen: Jasper hat die erhängte Laura Wishart auf seiner Lichtung im Busch gefunden. Diese Entdeckung wirkt wie ein Katalysator für den Roman. In dieser Nacht, in diesem Sommer verändert sich alles – nicht nur für Charlie.
Jasper, der Sohn eines Weißen und einer Aborigine, und Charlie beschließen, die Leiche Lauras in einem kleinen See verschwinden zu lassen und auf eigene Faust nach ihrem Mörder zu suchen – etwas anderes bleibt ihnen nicht übrig, denn beiden ist klar, dass man Jasper sofort für den Schuldigen halten würde. Und Charlie, der am Anfang noch an der Richtigkeit dieser Entscheidung gezweifelt hat, verliert diese Skepsis mit der Zeit:
In diesem Moment wurde mir klar, dass wir vielleicht wirklich aus den richtigen Gründen das Falsche getan hatten. Wenn wir Laura Wishart dort gelassen hätten, wo sie war, würde man sie finden. Irgendwann würde jemand auf diese Lichtung stoßen. Und dann würde es nicht lange dauern, bis sie Jasper damit in Verbindung brachten. Er hatte recht. Diese Stadt suchte tatsächlich nur nach einem Vorwand. Und eine Zufälligkeit hätte ihnen gereicht.
Er realisiert, wie ungerecht und verlogen die Gesellschaft Corrigans, angefangen bei seiner eigenen Familie, ist. Aber zunächst erliegen auch er und Jasper den gängigen Vorurteilen, schließlich verdächtigen sie einen anderen gefürchteten Bürger Corrigans, Jack Lionel, der Mörder von Laura zu sein.
Silveys Roman ist vielfältig: Die Auflösung des vermeintlichen Mordfalls steht zwar im Fokus und hält die Spannung bis zum Schluss aufrecht, aber daneben zeichnet der Schriftsteller auch ein scharfes und erschreckendes Bild der Gesellschaft einer australischen Kleinstadt Mitte der 1960er Jahre, die geprägt ist von Rassismus, Gewalt, Ungerechtigkeit, Paternalismus und Spießbürgerlichkeit. In der es vor allem um die Aufrechterhaltung der eigenen Fassade geht, um die Abgründe, die sich dahinter auftun, zu verbergen. Dabei knüpft der Autor auch zeitgenössische Ereignisse wie die Mondladung oder den Vietnamkrieg in die Geschichte ein. Und er erzählt die Geschichte von Charlie, aber auch von Jasper und von ihrer ungewöhnlichen Freundschaft. Die Dialoge zwischen beiden, in denen es um elementare menschliche Dinge und Fragen geht, gehören zu den Stärken des Romans:
Es muss beruhigend sein, tatsächlich an Gott und Jesus und all den Kram zu glauben. Vielleicht füllt einen das so aus, dass man sich keine Sorgen mehr darüber machen muss. Aber irgendwie ist es auch, als würde man die Tür zumachen, weil es draußen kalt ist und zieht, nicht? Deswegen bleibt es draußen trotzdem weiter kalt, nur man merkt es nicht mehr, weil einem selbst warm ist.
Der 1982 geborene Autor, der neben dem Schreiben Sänger und Songwriter der Band »The Nancy Sikes!« ist, wurde für den Roman bereits mit etlichen Preisen ausgezeichnet. Im Text finden sich zahlreiche Verweise auf die amerikanischen Südstaatenliteratur, etwa Harper Lees »Wer die Nachtigall stört« oder Mark Twains Klassiker »Die Abenteuer des Tom Sawyer«, mit denen Silveys Werk zurecht verglichen wird.
Das einzige „Manko“ für nicht-sportbegeisterte Leser könnte vielleicht die sehr ausführliche Beschreibung der Cricket-Turniere sein – denn der australische Volkssport spielt auch in Corrigan eine wichtige gesellschaftliche Rolle. Aber das tut dem Roman insgesamt keinen Abbruch und man kann, so finden wir jedenfalls, darüber hinwegsehen.
Craig Silvey: Wer hat Angst vor Jasper Jones? Aus dem Englischen von Bettina Münch. Rohwolt Taschenbuch Verlag: Reinbek bei Hamburg 2012.
»Wir treiben auf schmelzendem Eis«
Ein Park irgendwo in Japan als Schauplatz einer zaghaften Begegnung. Zunächst sind es noch zwei Bänke, auf denen die beiden Männer sitzen, jeder für sich allein. Von seiner Bank aus beobachtet der Erzähler, ein menschenscheuer junger Mann namens Taguchi Hiro, über Tage hinweg, wie ein alternder Büroangestellter Stunde um Stunde auf der gegenüberliegenden Bank verbringt, mit Zeitung lesen, Vögel füttern, Löcher in die Luft starren, schlafen. Jeden Tag, von Montag bis Freitag, sitzt er dort und vertreibt sich so die Zeit. Zwischendrin wird er von Tränen übermannt. Weil der Erzähler den Namen des Fremden aber anfangs nicht kennt, muss dessen charakteristisches Kleidungsstück, eine rotgrau gestreifte Krawatte, als Namensgeber herhalten. »Ich nannte ihn Krawatte« ist das dritte Buch der jungen österreichischen Autorin Milena Michiko Flašar und trotz der wenigen beschriebenen Seiten eine große Sensation.
Ich nannte ihn Krawatte.
Der Name gefiel ihm. Er brachte ihn zum Lachen.
Rotgraue Streifen an seiner Brust. So will ich ihn in Erinnerung behalten.
In poetischen Bildern und glasklar entrückter Sprache erzählt »Ich nannte ihn Krawatte« vom Schicksal der beiden Männer und wie sie sich näher kommen, kennen lernen, anfreunden. Ganz ohne Effekthascherei, dabei aber höchst effektiv, genügen wenige Worte um ein subtiles Gefühl der Melancholie zu evozieren, ja mithin schon ein Versprechen zu geben auf das, was da noch kommen wird: keine heitere Geschichte. Nicht nur, dass der Fremde von tiefer Trauer und Unglück gezeichnet scheint. Auch der bisherige Lebensweg des Erzählers gleicht einer kleinen, privaten Tragödie. Denn die letzten zwei Jahre verbrachte er allein und abgeschottet in seinem Zimmer im Haus der Eltern, ohne Kontakt zur Außenwelt. »Hikikomori« nennt man diese überwiegend jugendlichen oder jungen Exilanten, die für Monate oder gar Jahre die Flucht ins Allerprivateste antreten. In Japan ist das längst ein Massenphänomen, die Schätzungen reichen bis hin zu einer Million Betroffener, wobei die Dunkelziffer sehr hoch ist.
Mein Dasein bestand darin, dass ich fehlte. Ich war das Sitzkissen, auf dem keiner saß, der Platz am Tisch, der leer blieb, die angebissene Pflaume auf dem Teller, den ich zurück vor die Tür gestellt hatte.
Im Gespräch mit Krawatte legt Taguchi langsam seine Ängste ab, er tritt den schwierigen und langen Weg zurück in die Gesellschaft und in seine Familie an. Parallel erzählt er, wie es dazu kam, dass er eines Tages mit den Worten »Ich kann nicht mehr« in seinem Zimmer verschwand, das fortan für zwei Jahre zu seiner Höhle, seinem Zufluchtsort werden sollte. Es ist eine berührende Geschichte über die eigene Scham und den Verlust eines geliebten Menschen, welcher Krawatte aufmerksam folgt. Umgekehrt erzählt Krawatte aber auch von sich, dass er seine Arbeit verloren hat und sich nicht überwinden kann, es seiner Frau zu sagen. Stattdessen verlässt er weiterhin täglich zur gewohnten Zeit das Haus, doch anstatt ins Büro geht er in den Park. Scham und Angst, auch auf dieser Seite der Parkbank. Im Gefühl, den Ansprüchen nicht genügen zu können, sind der Hikikomori und Krawatte verbunden, und eben diese Verbundenheit gibt ihnen Halt.
Wir sagen beide dabei zu, wie uns alles entglitt, und fühlten beide eine heimliche Erleichterung darüber, nicht in der Lage zu sein, die Dinge gerade zu biegen. Vielleicht war das der Grund, warum wir aufeinandergetroffen waren.
Die große Stärke des Romans besteht zweifellos darin, dass er ohne jede Sentimentalität von zwei Existenzen erzählt, die im Jargon der so genannten Leistungsgesellschaft als »gescheitert« gelten dürften. Er erweckt kein Mitleid, aber er gibt Hoffnung. Was geschehen ist, lässt sich nicht rückgängig machen, aber die Erinnerung, die im gegenseitigen Erzählen festgehalten ist, spendet immerhin Trost. Eingeschlossen in Melancholie und Traurigkeit zeugt »Ich nannte ihn Krawatte« so vom Willen, trotz aller Widrigkeiten und Rückschläge weiterzumachen, und verbreitet einen zarten Hauch von Optimismus. »Wir wollen das Leben nicht, aber es muss gelebt werden«, heißt es bei einem anderen großen Österreicher. Flašars Figuren sind am Ende einen Schritt weiter, auch wenn sie nur eines gelernt haben: »Dass es sich lohnt, am Leben zu sein«.
Milena Michiko Flašar (geb. 1980) studierte Komparatistik, Germanistik und Romanistik in Wien und Berlin. Die Tochter eines Österreichers und einer Japanerin lebt heute als Schriftstellerin in Wien und unterrichtet nebenbei Deutsch als Fremdsprache. »Ich nannte ihn Krawatte« war auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012.
Milena Michiko Flašar: »Ich nannte ihn Krawatte«. Wagenbach: Berlin 2012.
Das weiße Buch
Manchmal gibt es Autoren, die eine Weile benötigen, bis sie sich einen Platz in der ständig auswuchernden Bücherlandschaft sichern können. Gaito Gasdanow ist so ein Fall. Sein Roman »Призрак Александра Вольфа« erschien 1948, wurde in Russland aber wegen des sowjetischen Regimes erst 1988 im Zuge der Perestroika veröffentlicht. Gasdanow, der sich seit seiner Jugend im Exil in Paris befand, erlebte das nicht mehr. Kurz nach der Erscheinung des russischen Originals wurden weitere Fassungen auf Englisch und Französisch publiziert. Um bis nach Deutschland zu kommen, benötigte der oft mit Camus und Proust verglichene Autor dennoch weitere 24 Jahre: 2012 erschien »Das Phantom des Alexander Wolf« beim Carl Hanser Verlag. Weiterlesen
Mit der Klarheit nimmt die Kälte zu
Rainald Goetz wütet wieder, nicht jedem gefällt das. All der Spott, die Verachtung, die »Denunziation seiner Figuren«, auf die Dauer kann das ziemlich anstrengend werden. Man vergisst dann beinahe, dass es nie wirklich anders war und dass das genüssliche Auskotzen von Hass, Hass und noch mehr Hass bei Goetz einfach dazu gehört. Ja, Empathie ist seine Sache nicht unbedingt, aber braucht die Literatur das Mitgefühl? Oder entstehen die besseren Bücher nicht gerade aus der Weltverachtung heraus, wohlgemerkt aus der Verachtung einer ganz bestimmten Welt, in diesem Fall der Welt des Kapitals? Um eben jene alles verdummende und erniedrigende »Herrschaft des KAPITALS« dreht sich »Johann Holtrop«, Goetz‘ jüngster Roman über den Vorstandsvorsitzenden eines großen deutschen Medienkonzerns namens Assperg AG. Der Protagonist, besagter Johann Holtrop ist ein egomanisches und narzisstisches Arschloch, aber immerhin ist er nicht allein. Seine Kollegen, Geschäftspartner, Konkurrenten und Rivalen stehen ihm in Puncto Niederträchtigkeit und Stumpfsinn in nichts nach, weshalb es aber nicht schade ist, wenn Holtrops Untergebene – »Finanzflasche Ahlers, Schleimflasche Wenningrode, Egoflasche Leffers und Flascheleerflasche Thewe« – von diesem ohne Umschweife in Gedanken zur Altglassammlung verfrachtet werden. Zwischendrin macht auch der Erzähler immer wieder unmissverständlich deutlich, was er von dieser Entourage, inklusive Holtrop, hält: Trottel, Deppen und Nullen aller Art bilden das Personal des Romans, dass es nur so eine Freude ist.
Das wäre doch das Ideal: aus der Normalität des realen Lebens heraus eine maximal asoziale Kunst zu machen, Sozialtextkunst.
(Rainald Goetz: »Klage«)
So steht es geschrieben, datiert auf den 19. April 2007, in »Klage«, dem Eröffnungsband des Werkteils »Schlucht«, also dem Vorvorgänger von »Johann Holtrop«. Zuvor geht es wie so oft um Thomas Bernhard, der, so Goetz‘ Erzähler, »den widernatürlichsten und schönsten Entwicklungsweg« genommen habe: »immer platter, immer deutlicher, immer zugänglicher«. »Jedes Wort ein Treffer. Jedes Kapitel eine Weltanklage. Und alles zusammen eine totale Weltrevolution bis zur totalen Auslöschung«, so hat Bernhard die Maxime seines Lebens und Schreibens einmal zusammengefasst. Auf Goetz trifft das ebenfalls zu, aber »Johann Holtrop« ist noch mehr. Der Roman verbindet eine bernhardeske Lust am Wüten mit einem unbedingten Erkenntnisauftrag. Es gilt auch weiterhin Satz #1 der Goetzsatzung: Ziel ist das »wirklich wahre Abschreiben der Welt«. Eine Zeit lang nannte man das Pop, vielleicht sollte man aber besser von einem reflektierten Realismus sprechen, der das eigene Sich-Aussetzen, das Eintauchen in fremde Milieus und Diskurse zum Mittel der Welterfahrung macht.
Im Grunde ist Goetz ein Aufklärer, ein letzter Moralist in einer unmoralischen Welt. »Johann Holtrop« malt das Panorama eines kaputten Systems, in dem Gier und Machtstreben Menschlichkeit und Ratio längst ersetzt haben, und gibt kurzweilige Einblicke in die Psychoarchitektur der Machtelite. Die Handlung setzt kurz nach dem 11. September 2001 ein, der Vorstandsvorsitzende der Assperg AG erreicht gerade den Zenit seiner Macht. Die Menschen in seiner Umgebung verachtet er ebenso sehr, wie diese dem aufstrebenden Holtrop die Anerkennung und den Erfolg missgönnen. Dann geht die Wirtschaft den Bach runter und parallel dazu folgt der sukzessive berufliche und persönliche Abstieg Holtrops bis zur vorübergehenden Einweisung in die Psychiatrie, womit sich gewissermaßen der Kreis schließt zu »Irre«, Goetz‘ gefeiertem Debüt von 1983. Bis es aber soweit ist, kann der Leser sich rund dreihundert Seiten lang an ausufernden Satzungetümen erfreuen, gespickt mir absurd übersteigerten Neologismen, all das wohlgemerkt höchst virtuos inszeniert. Der Goetzkenner kennt das nicht anders, aber doch wird auch er hier nicht selten an Bernhard erinnert werden – schließlich macht die Lektüre fast genauso viel Spaß.
»Johann Holtrop« nennt sich Roman, aber Gattungsangaben dieser Art sind bei Goetz wenn überhaupt als grobe Empfehlung zu verstehen, siehe das Internettagebuch »Abfall für alle«, der »Roman eines Jahres«. Und darum wird in Besprechungen und Rezensionen bereits munter spekuliert, welche realen Personen sich hinter der literarischen Verkleidung verbergen, wer hier wie und warum gedisst wird. So erwartbar, so langweilig. Spannend wird es, wenn man »Johann Holtrop« als Ganzes nimmt, nicht als Beschreibung einer Person, sondern als genuin künstlerische Annäherung an die Mechanismen und Folgen einer Produktions- und Wirtschaftsweise. Und siehe da, realiter die gleiche Undurchsichtigkeit, der gleiche Irrsinn wie in echt. Warum die Personen so handeln wie sie handeln, und wie sie handeln, soll heißen: was sie tun, wissen weder sie selbst noch der Leser. Klar wird nur, dass die schöne neue Welt des Kapitalismus schlussendlich im Chaos versinkt, zusammen mit dem Protagonisten, naturgemäß und verdientermaßen. Aber in der wenig versteckten Genugtuung ob Holtrops Untergang steckt der Haken: Goetz‘ Furor ist der Ohnmacht geschuldet, nichts ausrichten zu können. Es ist nicht der Erzähler, der Holtrop zu Fall bringt, sondern eben jenes System, das ihn erst nach oben gespült hat. Der Gegenwartschronist spuckt Gift und Galle, nicht weil er verachtet, was er zu beschreiben verdammt ist, sondern weil er zusehen muss, wie alles auch weiterhin seinen Lauf nimmt. Keine Illusionen, nur mehr Wut, das ist die bittere Konsequenz. »Mit der Klarheit nimmt die Kälte zu.« Auch so ein Bernhardsatz.
Rainald Goetz (geb. 1954) ist promovierter Mediziner und Historiker und ein maßgeblicher Protagonist der so genannten Popliteratur der 80er und 90er Jahre. Zum Werkteil »Schlucht« gehören außer »Johann Holtrop« die Bände »Klage« (2008), »loslabern« (2009), »elfter september 2010« (2010), »D.I.E abstrakte« (2010, zusammen mit Albert Oehlen), »Kapitalistischer Realismus« (2010) sowie »politische fotographie« (2011). »Johann Holtrop« schaffte es auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012.
Rainald Goetz: »Johann Holtrop«. Suhrkamp: Berlin 2012.
Die Wahrheit liegt auf dem Platz
Fangen und rennen, werfen und spucken: Baseball ist in Deutschland ein weißer Fleck auf der Sportlandkarte. Umso mutiger erscheint es auf den ersten Blick, dass der Kölner DuMont Verlag in Deutschland einen Sportroman (!) über jene Sportart veröffentlicht.
Doch bereits auf den zweiten Blick lichtet sich der Nebel: Für 665.000 Dollar sicherte sich der Verlag Little, Brown and Company die Rechte an dem Roman »The Art of Fielding« des 37-Jährigen Amerikaners Chad Harbach. 2011 wurde der Debütroman von Harbach in den USA veröffentlicht und eilte fortan von Erfolg zu Erfolg.
Jonathan Franzen, der mit seinem Epos »Freedom« vor einigen Jahren zwar einen größeren, aber immerhin prognostizierbaren Erfolg einfahren konnte, überschüttete den debütierenden Autoren mit Lorbeeren: »Debütromane von solcher Vollkommenheit und Sogkraft sind sehr, sehr selten.«
Und auch John Irving, der Charles Dickens der gegenwärtigen amerikanischen Literatur, ließ es sich nicht nehmen, ein paar warme Worte auf das Cover des Buches drucken zu lassen: »Chad Harbach hat das Spiel für sich entschieden. Wunderbar zu lesen, das reinste Vergnügen.«
Jetzt erscheint der Roman mit dem Titel »Die Kunst des Feldspiels« also in Deutschland und die FAZ ruft: »Willkommen in der Topliga, Junge! Ganz Amerika liest Die Kunst des Feldspiels mit Begeisterung.« Da ist Vorsicht geboten.
Doch tatsächlich: Der Roman hält, was die Lobesworte versprechen. »Die Kunst des Feldspiels“ ist ein brillanter Coming-of-Age-Roman über den Zweifel und das Scheitern, über Drogen, Sex und Sport.
Die Erzählung steht in der Tradition von Salingers »Der Fänger im Roggen«, von »The Great American Novel« von Philip Roth, Don DeLillos »Unterwelt« und dem ersten Teil der Rabbit-Reihe von John Updike.
»Die Kunst des Feldspiels« erzählt die Geschichte von Henry Skrimshander, einem Baseball-Talent, wie es seit vielen Jahren keines mehr gab. Henry ahnt die Flugbahn der Bälle bereits vor dem Abschlag. Er ist ein blasser, unscheinbarer, wortkarger Junge aus der amerikanischen Provinz der aufgrund seiner besonderen Fähigkeit in die Mannschaft des Westish College aufgenommen wird. Durch sein Talent verhilft Henry der Mannschaft zu neuem Glanz und bringt sie gemeinsam mit seinem Kommilitonen und Mentoren Mike Schwartz auf Erfolgskurs. Eines Tages missglückt Henry ein Standardwurf, der ihn und das Westish College aus der Bahn wirft. Henry durchlebt die Abgründe des amerikanischen Traums, wandelt von Selbstzweifeln zu Depressionen zur Selbstaufgabe. Er – doch nicht nur er – wird im Verlauf seiner Adoleszenz feststellen, dass man nicht alles erreichen kann, obwohl man hart dafür trainiert, dass das Leben anders kommt, als erwartet. Es ist die Antithese des »American Dream« und das Thema eines klassischen Bildungsromans also, was Harbach innerhalb dieser »great american novel« ausleuchtet. Er eifert darin seinen zeitgenössischen Vorbildern Jonathan Franzen und David Foster Wallace nach.
In diesem Buch geht es um die großen Werte des Lebens: Aufrichtigkeit, Treue, Freundschaft, Liebe. Doch artet der Roman niemals in wattebäuschiges Pathos aus. Geschickt verknüpft Harbach die Wege von Mike Schwartz und Owen, des College-Präsidenten Guert Affenlight und dessen Tochter Pella. Der Roman ist fein kombiniert: Motive der ersten Kapitel tauchen am Ende des 600 Seiten starken Romans wieder auf.
Baseball ist das Spielfeld des Buches. Das Spiel ist mit einer heroischen Symbolik aufgeladen, die Last und die Leichtigkeit der Welt sind in diesem Ballspiel verborgen. Doch auch jenen Menschen, denen der Sport und seine Regeln nicht vertraut sind, werden dieses Buch lesen, so wie man als Kind gelesen hat: Seite um Seite, Kapitel für Kapitel – mit der Taschenlampe unter der Bettdecke.
»Die Kunst des Feldspiels«. Aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner und Johann Christoph Maass. DuMont: Köln 2012.
Unite and take over
Donnerstag, 4. August 2011, im Londoner Stadtteil Tottenham. Auf dem Weg nach Hause wurde Mark Duggan von der britischen Polizei erschossen. Umgehend ließ ein Polizeisprecher verlauten, dass der 28-Jährige zuerst das Feuer eröffnet habe. Eine Lüge, wie sich im Nachhinein herausstellte. Duggans Tod war die Initialzündung für die schwersten Unruhen, die das Vereinigte Königreich seit Jahren erlebt hat. Brennende Autos, geplünderte Geschäfte, Polizei auf den Straßen. Für wenige Tage herrschte in der britischen Hauptstadt der Ausnahmezustand, die Staatsgewalt war an ihre Grenzen gestoßen. Doch die Reaktion folgte umgehend: willkürliche Verhaftungen, denen hunderte Menschen zum Opfer fielen, eine massive Zunahme polizeilicher Repression und schließlich Verurteilungen, die nach allen Standards der Rechtsstaatlichkeit eine Farce waren.
Für die bürgerlichen Medien und die politische Führung war die Sache erwartungsgemäß schnell klar: Einhellig wurde ein hartes Durchgreifen gefordert, Politiker und Kommentatoren sprachen den Unruhen jegliche politische Dimension ab. Es handle sich, so der Tenor, schlicht und ergreifend um Akte sinnloser Gewalt, verübt von Kriminellen, die Duggans Tod als Ausrede für ihre Lust an der Destruktion missbrauchten. Beobachter aus dem linken Lager taten sich hingegen schwer, die Ereignisse zu analysieren und einzuordnen. Auf eine Einschätzung folgte die nächste und wiederum die nächste, immer schwankend zwischen Solidarität mit den Aufständischen und Kritik an der Form des Aufstands. Der Sammelband »Wenn die Toten erwachen. Die Riots in England 2011«, erschienen in der Reihe Laika Diskurs, versucht nun einen Überblick über dieses Gewirr von Stimmen zu verschaffen.
Äußerst heterogen ist dieser Sammelband, und das in vielerlei Hinsicht. Er versammelt Pamphlete, Stellungnahmen und Analysen, geschrieben von Einzelnen oder Gruppen, anonym oder mit Namen versehen. Vieles davon ist lesenswert, anderes uninteressant, weniges ärgerlich. Doch tauchen immer wieder die gleichen Fragen auf: Es geht um die politische Dimension der Aufstände, um die Folgen und Konsequenzen, um die Anschlussfähigkeit linker Politik und das Verhältnis zu den Revolten der Vergangenheit und heute, im Nahen Osten und Nordafrika – Fragen, auf die Texte ganz unterschiedliche Antworten geben. Nur eines scheint sicher zu sein: Die Situation ist »komplexer […], als es der Trommelwirbel aus Angst und Verachtung in den Konzernmedien vermuten ließe«. Aus diesem Grund sind aber eben jene Beiträge besonders bedenkenswert, die diese Komplexität anerkennen, die die Ambiguitäten nicht auflösen und die nicht versuchen, die Ereignisse in ein festes Interpretationsschema zu pressen.
Viele fragen sich: Was wollen die denn? Die Antwort schien zu lauten: Turnschuhe. Was soll daran politisch sein, bei Foot Locker zu klauen?
Diejenigen, die im August 2011 randalierten und plünderten, sehen sich um ihr Glück betrogen und sind nicht so dumm, den alltäglichen Beteuerungen und Beschwichtigungen länger zu glauben. Ihre Gewalt richtete sich aber nicht primär gegen die, die für diese Zustände verantwortlich sind, sondern gegen Menschen, denen es nur unwesentlich besser geht – kleine Ladenbesitzer, Nachbarn und Anwohner. Evan Calder Williams weist in seiner Analyse darum ganz zurecht auf den Umstand hin, dass Opfer und Täter nicht allzu verschieden sind. Außerdem merkt er an, dass die Unruhen eines ganz materialistischen Kern haben, nämlich die Befriedigung von Konsumbedürfnissen. Auch dieser Aspekt wird in den Texten immer wieder aufgegriffen. In eben diesem Sinne sieht etwa Slavoj Žižek in den Protesten eine »ironische Antwort auf die Konsumideologie«:
Ihr ruft uns auf zu konsumieren und nehmt uns zugleich die Mittel, dies zu tun – hier sind wir nun und machen es in der einzigen Weise, die uns bleibt!
Zugleich bemängelt er aber »die Tatsache, dass die Aufständischen kein Programm haben«. Der »Protest am Nullpunkt« bringe »eine authentische Wut zum Ausdruck, die jedoch nicht in der Lage ist, sich in ein positives Programm gesellschaftlichen Wandels zu transformieren«. Es herrsche »der Geist der Revolte ohne Revolution«. Übrigens ist Žižeks Text mit dem Titel eines Smiths-Klassikers überschrieben: »Shoplifters of the World«. Er traut sich nicht hinzuzufügen: »Unite and take over«.
»Wenn die Toten erwachen. Die Riots in England 2011«. Laika: Hamburg 2012.
Ein bisschen Frieden
Wie ist das so, der Letzte zu sein? Der Überlebende, der Zurückgebliebene, der Einsame – oder eben: der letzte Werwolf? In seinem dunklen, rasanten Roman »Der letzte Werwolf« wirft Glen Duncan ontologische Fragen auf, immer auf der Spur der Erkenntnis. Doch geht es in der Hauptsache um Widernatürliches: Jake Marlowe ist ein Werwolf, beinahe 200 Jahre alt. Im Alter von 34 Jahren wurde Marlowe bei einem nächtlichen Spaziergang von einem Artgenossen gebissen und altert seit diesem Zeitpunkt nicht mehr. So ist sein Körper agil, stabil und kräftestrotzend, sein Geist ist weise und gelehrt. Eine glorreiche Verbindung, die einer grausamen Wahrheit entspringt: In jeder Vollmondnacht verwandelt sich Marlowe in einen blutdurstigen Werwolf, der Menschen reißt und tötet. Doch ist dieses Monster, dieses Ungetüm des Lebens überdrüssig. Es gibt keine Begeisterung mehr für ihn – nicht für den Blutrausch, nicht für die Drogen, nicht für den Sex und nicht für die Literatur. Die Gedanken an seine vielen Opfer quälen ihn, er badet in Selbstmitleid und übergibt sich den Theorien der deutschen Idealisten, Friedrich Nietzsches und Ludwig Feuerbachs.
Da war der Beginn als Werwolf, wie ein Dorn, an dem ich mich in dieser Sekunde gekratzt hatte. Doch irgendwie lagen zwischen damals und heute fast zweitausend Opfer. Ich dachte an sie in einem Konzentrationslager zusammengepfercht. Meine Eingeweide sind ein Massengrab.
Trotz dieser Lebensmüdigkeit wirft ihn der Anruf seines Verbündeten Harleys zu Beginn des Romans aus der Spur: »Jetzt ist es amtlich. […] Vor zwei Nächten haben sie den Berliner erwischt. Du bist der Letzte.« Ein Jäger macht sich drauf und dran, Marlowe zu erwischen und zu erlegen. Der letzte Werwolf weiß um sein Vermächtnis und er weiß auch, dass er eine Verantwortung trägt. So entwickelt sich diese Erzählung zu einem mystischen Road-Trip, zu einem mitreißenden Thriller. Eine Reise ins Herz der Finsternis – so wie einst Joseph Conrads Charles Marlow.
Mag die Handlung des Romans vordergründig an düstere Fantasy-Erzählungen von H.P. Lovecraft oder Stephen King erinnern, versucht sich Duncans Roman doch eigentlich an einem Bewusstseinsbericht, welcher die Depressionen eines Getriebenen offenbart.
Duncan will den Werwolf-Stoff nicht überhöhen, ihm keine Eleganz einhauchen, daher lässt er seinen Erzähler einen berühmten Vampiren zitieren: »Der Vampir erlangt Unsterblichkeit, immense körperliche Kraft, hypnotische Fähigkeiten, die Fähigkeit zu fliegen, psychische Erhabenheit und emotionale Tiefe. Der Werwolf leidet an Dyslexie und einer permanenten Erektion.«
Sie werden mir das wohl kaum abnehmen, aber ich will nur bis zum nächsten Vollmond am Leben bleiben, damit ein Mann, dessen Vater ich vor vierzig Jahren getötet und gefressen habe, mir den Werwolfschädel abtrennen oder eine Silberkugel ins Werwolfherz jagen kann.
Der Selbstreflexion kann Marlowe nicht entrinnen, sie kennt keine Gnade. Und doch gibt es da mehr als Scotch und billigen Sex, Selbstmitleid und die Schriften toter Philosophen: Schon bald wird der Protagonist neuen Lebensmut schöpfen, der ihn weiter trägt, so, als sei er ein ganz normaler Mensch. »Der letzte Werwolf« ist ein Horror-Roman und – wie alle guten Horror-Romane – ist auch er eine Allegorie auf das, was täglich vor der Haustüre lauert.
Glen Duncan wurde 1965 in Bolton, Lancashire geboren. Er studierte Philosophie und Literatur und arbeitete als Buchhändler. »Der letzte Werwolf« ist Duncans achter Roman. Die Erzählung »I, Lucifer« (2002) wird derzeit mit Ewan Mcgregor, Jason Brescia, Jude Law und Daniel Craig verfilmt.
Glen Duncan: »Der letzte Werwolf«. Aus dem Englischen von Peter Torberg. S. Fischer: Frankfurt am Main 2012.
Da geht’s lang!
Dominosteine? Auf einer Karte? Nein, das kann nicht sein. Was wir auf den ersten Blick dafür gehalten haben, sind in Wirklichkeit Häuser. Häuser auf einer Karte, die das türkische Dorf Çatal Hüyük im Jahr 6200 vor Christus zeigt. Sie ist Teil eines Wandbildes, das 1963 bei einer Ausgrabung entdeckt worden ist, und das bis heute „älteste erhaltene kartografische Dokument der Welt“. In Heekyoung Kims Buch »Wo geht’s lang? Karten erklären die Welt«, dessen zweite Auflage in diesem Jahr beim Gerstenberg Verlag erschienen ist, darf sie natürlich nicht fehlen.
Sie ist aber nur eine von insgesamt achtzehn Karten, die die koreanische Autorin ausgewählt hat: Das breite Spektrum reicht von polynesischen Stabkarten über einen Stadtplan des antiken Roms, mittelalterliche Karten und Sternkarten bis hin zu U-Bahn-Plänen heutiger Großstädte. Und sogar „sprechende Karten“, die allseits bekannten (und vor allem bei Autofahrern beliebten) Navigationsgeräte, kommen darin vor.
Die mesopotamische Karte von Çatal Hüyük zeigt auch, seit wann Karten und Symbole bereits unverzichtbarer Teil unserer Umwelt sind. Unverzichtbar, um sich im Kleinen, etwa in einem Gebäude oder einer fremden Stadt, und im Großen, zum Beispiel in einem Land, auf einem Kontinent, der ganzen Welt oder gar dem Weltall, zurechtzufinden und zu wissen wo’s langgeht.
Neben dem reinen Informationswert von Karten geht es der Autorin aber auch immer darum zu zeigen, was man an ihnen noch erkennen kann, welche zusätzlichen Informationen in ihnen stecken – so liefern die dargestellten Stadtkarten von Wien, Paris und Seoul beispielsweise auch die vermeintlich einfache, aber elementare Erkenntnis:
Wir Menschen können nicht ohne Wasser leben.
Wie sehr man von seinem eigenen, regionalen Standpunkt ausgeht und geprägt ist, verdeutlichen die abgebildeten koreanischen Weltkarten. Europa ist auf ihnen nur ein kleiner Fleck am linken Rand. Diese asiatische, für uns als Europäer ungewöhnliche Perspektive macht das Buch sehr reizvoll und ist » […] ein wichtiger Gedanke im Rahmen der Globalisierung« – findet die Jury des Deutschen Jugendliteraturpreises. Und wir? Wir drücken die Daumen!
Heekyoung Kim: Wo geht’s lang? Karten erklären die Welt. Aus dem Koreanischen von Hans-Jürgen Zasorowski. 2. Auflage. Gerstenberg: Hildesheim 2012.
Tauchen im Kriegsgebiet
In Juli Zehs Roman »Nullzeit« bricht das Unheil in Person eines Touristenpaars herein. Sie hört auf den klangvollen Namen Jolanthe Augusta Sophie von der Pahlen, kurz Jola, und ist Darstellerin in einer Seifenoper mit Ambitionen auf die große Filmkarriere. Er heißt Theodor und schreibt Romane, doch seine einzige Veröffentlichung liegt Jahre zurück. Zusammen machen sie Urlaub auf Lanzarote, wo Jola zur Vorbereitung auf eine Filmrolle das Tauchen lernen will. Es soll ihr Durchbruch werden, und aus diesem Grund engagiert sie den erfahrenen Tauchlehrer Sven, einen Auswanderer, der Deutschland vor nunmehr vierzehn Jahren den Rücken gekehrt hat und der mit Unterstützung seiner Freundin Antje abenteuerlustige Touristen in die Tiefen den Atlantiks führt. Weiterlesen
Der Gott des Gemetzels
Nennt ihn, wie Ihr wollt: James Frey hat den Messias, Jesus, den Sohn Gottes zurück auf die Welt geschickt. In seinem Roman »Das letzte Testament der Heiligen Schrift« ist der Schauplatz New York und die Welt eine grausame. An jeder Ecke wird gefixt und gehurt, es wird betrogen, geschlagen, verleumdet und gemordet.
James Frey kennt sich aus in diesem Metier. Mit seiner gefälschten Autobiografie »A million little pieces« hat er vor einigen Jahren nicht nur Amerika genarrt, sondern in der Hauptsache kenntnisreich und pointiert vom Leben außerhalb des Establishments berichtet. Frey erzählt in seinem Debüt von den letzten Zuckungen des Amerikanischen Traumes, von den moralischen Trümmern eines Landes, das um sein Selbstverständnis kämpft. So auch das fesselnde Portrait von Los Angeles, das den Titel »Strahlend schöner Morgen« trägt. Der Autor kombiniert viele eindringliche Geschichten, die in dem gigantischen Moloch an der amerikanischen Westküste spielen.
James Frey ist ein Verführer, der die Wucht seiner Worte gezielt einsetzt, der seine Figuren zappeln und ihnen keine Gnade zuteil kommen lässt.
Er wird wiederkommen. (Apostolisches Glaubensbekenntnis)
Sein jüngster Roman ist für weitere kontroverse Diskussionen geeignet: »Das letzte Testament der Heiligen Schrift« erzählt die Geschichte von Ben Zion Avrohom, der im gegenwärtigen New York aufwächst und so manches Wunder vollbringt. Innerhalb sechzehn Zeugenberichten wird das Leben des charismatischen Heilands beschrieben. Es sind Evangelien, niedergeschrieben von der Stripperin Maria Magdalena, von der Ärztin Alexis, vom Strafverteidiger Peter oder vom Pater Markus.
Sie alle erzählen von der Rettung des Heilands, der ihre Sünden und Bürden auf sich nimmt.
Eine bessere Welt wünschen sich alle der auftretenden Personen und kübeln die Miseren ihres Lebens auf Ben. Lastet das Gewicht auch schwer auf dem Messias: Seine Antwort lautet Liebe. Er schaut den Gepeinigten eindringlich in die Augen, legt seine vernarbte Hand auf ihre Köpfe oder spendet körperliche Anstrengungen: deftigen Sex.
Der Leidensweg von Ben ist ein besonderer: Sein Bruder Jakob missachtet ihn und trachtet Ben nach dem Leben. Eine Sekte vereinnahmt den Heiland und führt ihn in den Dschungel des Tunnelsystems von New York. Die Polizei fahndet nach Ben, während der längst eine Hippie-Kommune in der amerikanischen Provinz aufgezogen hat. Es sind Arrangements der biblischen Leidensgeschichte Jesus, die der Messias im gegenwärtigen New York durchleidet.
Und uns, Brüder, hat er die Verantwortung übertragen, seinen Sohn zu schützen und zu leiten, dieweil er die Botschaft des Evangeliums und das wahre Wort Gottes verkündet, so wie sie in der Bibel geschrieben stehen.
Ben spricht mit Gott – immer dann, wenn er einen epileptischen Anfall erleidet. Er sieht die Zusammenhänge, das große Ganze. Mit Gottes Hilfe kann auf die Menschheitsgeschichte zurückblicken und erkennt in der Bibel nicht das Wort Gottes. Das Rechtssystem, die Staatsmacht nimmt Ben nicht an. Immer wieder erzählt er seinen Jüngern vom Geist der Liebe, von der Macht der Hingabe. Es ist diese grenzenlose, aufopferungsvolle Liebe, die Ben am Ende seines Lebensweges zum Verhängnis wird.
Frey knüpft mit diesem Roman an seine amerikanischen Chroniken an. Er berichtet vom kaputten Leben in den unübersichtlichen Großstädten der verschlissenen Weltmacht: Von oben wird unterdrückt, von unten gekämpft, die Menschen sind gottesfürchtig und doch kriminell. Doch haben sie alle eine gemeinsame Sehnsucht: Sie wollen die Welt durchdringen und Antworten erhalten.
Die Geschichte des niedergekehrten Messias scheint für dieses Vorhaben eine dankbare Basis zu sein. Doch verheddert sich der Roman häufig in larmoyanten Ausschweifungen schwacher Charaktere. Es sind hauptsächlich die harten Geschichten von Maria Magdalena oder dem Junkie Matthäus, die zu überzeugen wissen.
Von dem Glanz und der subtilen Schärfe von »Strahlend schöner Morgen« hat »Das letzte Testament der Heiligen Schrift« nur wenig zu bieten. Zuvorderst geht es in diesem Roman um das Experiment, die Provokation, den Messias in Bordellen und Sekten, im Gefängnis und als Sex-Besessenen abzubilden.
Und er hob mich vom Stuhl hoch, als würde ich nichts wiegen. Und zog mich aus. Und legte mich auf den Tisch. Und leckte und saugte und fickte mich um den Verstand. Direkt neben meinen Drogen.
Die hübsche Idee des Verlags, sämtliche Evangelien von verschiedenen deutschsprachigen Autoren aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen zu lassen, geht dennoch auf: Juli Zeh, Harry Rowohlt, Zoë Jenny oder Steffen Jacobs geben den Erzählungen mit ihren Übersetzungen eine eigenwillige Dynamik. Dem Inhalt können sie damit jedoch nicht auf die Sprünge helfen.
Der Roman „Das letzte Testament der Heiligen Schrift“ von James Frey ist einer der 30 Kandidaten der Hotlist 2012. Jährlich werden von einer unabhängigen Jury die besten Bücher aus unabhängigen Verlagen gekürt. Am 1. September wird das Ergebnis der Publikumswahl und der Juryentscheidung verkündet.
James Frey: »Das letzte Testament der Heiligen Schrift«. Aus dem Amerikanischen von Alexa Henning von Lange, Clemens J. Setz, Tina Uebel, Zoë Jenny, Katja Scholtz, Kristof Magnusson, Charles Lewinsky, Gerd Haffmans, Steffen Jacobs, Klaus Modick, Juli Zeh, Sven Böttcher und Harry Rowohlt. Haffmans & Tolkemitt: Berlin 2012.