»Das beste Pferd, das mir jemals gehört hat, war ein weißer Hengst.«

Manchmal gibt es Autoren, die eine Weile benötigen, bis sie sich einen Platz in der ständig auswuchernden Bücherlandschaft sichern können. Gaito Gasdanow ist so ein Fall. Sein Roman »Призрак Александра Вольфа« erschien 1948, wurde in Russland aber wegen des sowjetischen Regimes erst 1988 im Zuge der Perestroika veröffentlicht. Gasdanow, der sich seit seiner Jugend im Exil in Paris befand, erlebte das nicht mehr. Kurz nach der Erscheinung des russischen Originals wurden weitere Fassungen auf Englisch und Französisch publiziert. Um bis nach Deutschland zu kommen, benötigte der oft mit Camus und Proust verglichene Autor dennoch weitere 24 Jahre: 2012 erschien »Das Phantom des Alexander Wolf« beim Carl Hanser Verlag.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht eine Figur, die ein wenig an Gasdanows eigene Person erinnert, ein Mann, der sich im Paris der dreißiger Jahre als Journalist und Autor versucht. Ausschlaggebend für die Charakterisierung des Protagonisten ist hier vor allem seine Vergangenheit, immer wieder drängt sich ein Ereignis an die Oberfläche seines Alltags: Als er noch ein Jugendlicher von 16 Jahren war, kämpfte er im russischen Bürgerkrieg auf der Seite der Weißen Armee gegen die vorrückenden Bolschewiki.
Bis zu diesem Punkt ist die Erzählung autobiographisch, Gaito Gasdanow kämpfte selbst als Jugendlicher einige Monate für die Weißen Garden. An einem heißen Sommertag ritt der Protagonist gerade seiner Einheit hinterher, als sein Pferd in vollem Lauf erschossen wurde. Kurze Zeit später erscheint ein Reiter auf einem weißen Ross. Der Jugendliche hebt seine Pistole, erschießt den Reiter und flieht auf dessen Pferd. Jahre später belastet ihn der Schuss, den er abfeuerte,  immer noch merklich. In einem Band mit Erzählungen findet er schließlich eine Kurzgeschichte, in der genau jene schicksalhafte Begegnung bis ins kleinste Detail beschrieben ist. Der Autor kann also folglich nur der Reiter sein, der die Verletzung auf beinahe übernatürliche Weise überlebt haben musste, ein Phantom aus der Vergangenheit.

Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindungen meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe.

Der Protagonist begibt sich nun auf eine Suche nach dem geheimnisvollen Alexander Wolf, der als Autor des Buches genannt wird. Diese Reise führt ihn aber zuerst in ein kleines russisches Restaurant, in dem er einen ehemaligen Weggefährten Wolfs kennenlernt, zu einem Boxkampf, der von Anfang an ausgemachte Sache zu sein scheint und es dennoch nicht ist, und in die Arme einer Frau, die er zu kennen glaubt, und die trotzdem ein dunkles Geheimnis in sich trägt. Und am Ende führen die Fäden jeder Verwirrung zum Trotz wieder zusammen. Die Suche des Protagonisten, die eindeutig das Hauptthema des Romans ist, ist auch eine Reise in die eigenen seelischen Abgründe und die verzweifelte Suche nach dem Sinn. »Außerdem fürchte ich den Tod überhaupt nicht«, sagt der Protagonist eines Abends zu Alexander Wolf, »vielmehr ist mir das Leben nie als besonderer Wert erschienen.« – »Dabei«, erwidert sein Gegenüber, »ist es das einzig Wertvolle, das zu kennen uns gegeben ist.«

Zusammen mit der namenlosen Hauptfigur beginnt auch der Leser die Zusammenhänge im eigenen Leben zu suchen und an die Macht des Zufalls zu glauben, der sich durch die ganze Erzählung zieht, um die Charaktere enger miteinander zu verweben, als es das Schicksal jemals könnte. Manche Eindrücke wirken wie aus dem Leben gegriffen, dann wieder erscheinen die Grauen des Krieges und die Schizophrenie des Exils viel zu unwirklich, um wahr zu sein. Die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Geschehen und Fiktion wird immer schmäler, bis sie sich schließlich in dem Rauchwölkchen auflöst, das an einem heißen Sommertag aus dem Lauf der Pistole eines Jugendlichen quillt, der gerade einen Reiter auf einem weißen Pferd erschossen hat.

Gaito Gasdanow: »Das Phantom des Alexander Wolf«. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Carl Hanser Verlag: München 2012.

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