Betritt man heutzutage an einem schönen Herbsttag eine Buchhandlung, so türmen sich bereits ab der Eingangstür die Neuerscheinungen der meisten Verlage mit Rang und Namen. In bunten Einbänden und mit vielversprechenden Titeln versuchen die meisten Werke, die Aufmerksamkeit des geneigten Käufers bereits beim ersten Hinsehen an sich zu binden. In dieser hin- und herschwappenden Bilderflut aus Bestsellerlisten und Sonderangeboten springt einem derzeit Ljudmila Ulitzkajas Roman »Das grüne Zelt« beim ersten Mal vielleicht nicht unbedingt ins Auge, beim zweiten Blick dafür umso heftiger. Der Titel ist wenig reißerisch, dennoch klingt er geheimnisvoll und weckt Neugierde. Auch der Einband besticht durch seine optische Aufmachung: Farbige Muster ziehen dort konzentrische Kreise und sorgen gemeinsam mit dem Titel dafür, dass man bis zu dem Moment, in dem man das Buch zum ersten Mal aufschlägt, nicht die leiseste Ahnung hat, worum es eigentlich geht.

»Er ist tot! Wach auf, du Dummkopf! Steh auf! Stalin ist tot!«

Nun lässt sich die Handlung der fast 600 Seiten auch nicht besonders einfach zusammenfassen: Im Mittelpunkt stehen verschiedene Menschen, die in der UDSSR der 50er Jahre aufwachsen und dabei die eiserne Faust des Regimes zu spüren bekommen. Nebenbei werden sie erwachsen, finden Freunde und suchen nach dem Sinn, jeder für sich. Ulitzkaja lässt ihre Helden zunächst die Schule besuchen und beschreibt, wie die drei schwächsten Jungen einer Klasse zusammenfinden und Verbündete werden: Der dürre Lockenkopf Ilja, der jüdische Rotschopf Micha und der schweigsame, schmächtige Sanja. Alle drei verbindet, abgesehen von ihrer Außenseiterrolle, vor allem die Liebe zur russischen Literatur, die von einem engagierten Lehrer noch weiter gesteigert wird. Ilja träumt außerdem von einer Fotographenkarriere, Micha dichtet und Sanja ist auf dem besten Weg, ein gefeierter Pianist zu werden. Doch die Dinge kommen anders. Ilja wird zu einem eifrigen Verbreiter von Dissidentenliteratur, eine Verletzung beendet Sanjas Karriere und Micha wird Lehrer für Literatur und Herausgeber einer antisowjetischen Zeitschrift. Und die Jahre streichen weiter ins Land, die Leben der Protagonisten streifen auseinander und wieder zusammen, berühren und lösen sich voneinander.

Sofort wurde ihm klar, dass er einen Fehler gemacht hatte, er hätte lieber im Hausflur sitzen bleiben sollen. Augenblicklich wurde er mit gewaltiger Macht fortgerissen, wie von starker Meeresströmung.

Weitere Protagonisten etabliert Ljudmila Ulitzkaja mit der Einführung dreier junger Frauen, deren Gruppe eine ähnliche Konstellation wie ihr männliches Pendant hat: Olga, ein hübsches Mädchen aus gutem Hause, die sich durch ihre erste Ehe erdrückt fühlt und schließlich alle bürgerlichen Wertvorstellungen über Bord wirft. Tamara, eine graue Maus im sprichwörtlichen Sinne, die aber eine hervorragende Biologin wird und Galja, die einmal eine große Sportlerin werden wollte, bis eine Verletzung auch ihre Träume beendete, und die sich nun als Sekretärin verdingt, verheiratet mit einem KGB-Mann. Der KGB ist in »Das grüne Zelt« ohnehin omnipräsent, der Leser erfährt die bedrückende Stimmung aus ohnmächtiger Wut und Angst immer wieder fast am eigenen Leibe. Immer wieder werden Figuren, verhaftet, Häuser durchsucht und Bücher beschlagnahmt. Die beiden Gruppen werden miteinander verknüpft, als Ilja Olga kennenlernt und später heiratet. Doch bei dieser einen Verbindung bleibt es nicht, die Autorin spinnt hunderte kleiner Fäden zwischen den Protagonisten, Nebenfiguren und realen, historischen Personen. An sich wirken manche Stellen mehr wie ein Auszug aus der Biographie eines russischen Autors, als aus einem fiktiven Roman. Von Puschkin bis Nabukow, Tolstoi bis Pasternak, jeder Schriftsteller und jedes Werk kommt zur Sprache, was zwar von der Belesenheit der Autorin zeugt und jedem Slawisten das Herz höher schlagen lässt, doch an manchen Stellen stören die fast schon lexikalischen Ausführungen – das Werk hat sechs Seiten voller fast nur literarische Anmerkungen – ein wenig den Lesefluss.

Sie sollten Borja erst vier Tage später finden, zwischen den Leichen, die vor dem überfüllten Leichenschauhaus Lefortowo im Schnee lagen.

Auch bei Übersetzung und Lektorat birgt »Das grüne Zelt« noch so manchen Stolperstein, Satzbau und Grammatik wirken manchmal noch sehr hölzern. Man könnte das Werk wegen dieser kleinen kosmetischen Unstimmigkeiten jetzt als zweitklassig verdammen, das wäre allerdings nicht sonderlich fair, da es immer noch ein atemberaubendes Zeitzeugnis über ein knappes Jahrhundert russische Geschichte ist, und somit selbst ein wenig an ein »Samisdat« erinnert, jene Werke der großen Exilautoren, die außerhalb von Russland gedruckt wurden. Wenn man bedenkt, mit welcher Detailtreue das Leben (und meistens auch der Tod) so vieler verschiedener Personen erzählt wird, vom einfachen Hauswart bis hin zum pensionierten General, dann wird einem bewusst, dass ein Buch heutzutage manchmal keinen knalligen Einband oder reißerischen Titel benötigt. Das hatten »Doktor Zhiwago« und »Krieg und Frieden« ja schließlich auch nicht.

Ljudmila Ulitzkaja: »Das grüne Zelt«. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Carl Hanser Verlag: München 2012.

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