Portrait Dirk Reinhardt
Foto: Stefan Haas / Julienne Haas

Ungefähr vier Jahre, die Zeit vom 12. März 1941 bis zum 21. Mai 1945, beschreibt der Protagonist Josef Gerlach, geboren 1927, in seinen Tagebuchaufzeichnungen. Wie viele andere Jugendliche im Rhein-Ruhr-Gebiet gehört er zu den »Edelweißpiraten«. Dirk Reinhardts gleichnamiger Roman ist durch den Tagebuchstil unmittelbar und authentisch. Der Leser kommt Josef, den alle nur „Gerle“ nennen, sehr nah und erlebt vier Jahre Geschichte in zweifacher Art und Weise: in Form von Gerles eigener, persönlicher Geschichte, die ihrerseits wiederum Teil der allgemeinen deutschen Geschichte ist. Durch die Einbettung dieser Tagebuchaufzeichnungen – für die der Autor übrigens auch zeitgenössische Tagebucheinträge herangezogen hat – in eine Rahmenhandlung, schlägt Reinhardt gekonnt eine Brücke zur heutigen Zeit und bringt nebenbei auch noch ein Geheimnis ins Spiel, das den Roman bis zum Ende spannend macht.

Weil die Jugend von Gerle und seinen Freunden in die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkriegs fällt, ist sie alles andere als unbeschwert. Gerle, der in dem Kölner Arbeiterviertel Ehrenfeld lebt, ist zu Beginn der Aufzeichnungen 14 Jahre alt. Er ist am Ende seiner Schulzeit – und seiner Zeit in der Hitlerjugend angelangt. Keine drei Wochen nach dem ersten Eintrag treten er und sein bester Freund Tom aus der nationalsozialistischen Jugendorganisation aus. Dass dieser Austritt nicht ohne Folgen bleibt, merken sie schnell, etwa bei der Suche nach einer Lehrstelle, die länger dauert und beschwerlicher ist als bei ihren Altersgenossen, die Mitglied der HJ sind. Kurze Zeit später schließen sie sich einer Gruppe von oppositionellen Jugendlichen an, den Edelweißpiraten.

Irgendwie gefallen mir diese Typen am Neptunbad. Sie senken ihre Stimme nicht, wenn sie reden. Sie sehen einem in die Augen und nicht zu Boden. Sie albern rum und haben Spaß dabei. Sie tragen bunte Klamotten, nicht das ewige Braun wie in der HJ, nicht wie die vielen grauen Mäuse, die über die Straße laufen. Sie wirken irgendwie ungezwungen und – frei. Ja, ich glaub, das ist das richtige Wort. Sie wirken frei.

Und weil die Institutionen des NS-Regimes ihnen diese Freiheit nehmen wollen, legen sie sich mit ihnen an. Ihre Aktionen werden nach und nach politischer, einer der Höhepunkte ist eine einzigartige Flugblattaktion am Kölner Hauptbahnhof, die sich in diesem Monat zum siebzigsten Mal jährt. Damals führt sie dazu, dass die Edelweißpiraten endgültig ins Visier der Gestapo geraten, man sie verfolgt, verhaftet und foltert. Daneben erleben Gerle und die anderen Jugendlichen aber auch das, was zu einer ganz „normalen“ Jugend dazugehört – Freundschaften, die erste große Liebe, Musik – und das macht den Roman so reizvoll.

Cover EdelweißpiratenBis man die Edelweißpiraten als Widerstandskämpfer anerkannt hat, hat es lange gedauert. Im Nachwort erklärt Reinhardt, der auch Historiker ist, dass sie noch bis in die 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts als Kleinkriminelle oder Unruhestifter galten. Er vermutet den Grund für diese Einschätzung vor allem darin, dass die deutsche Nachkriegsgesellschaft diesen Widerstand von „unten“ nicht sehen wollte, nicht wahrhaben wollte, dass auch „der kleine Mann von der Straße“ Widerstand leisten konnte, wenn er wollte, um so vielleicht einer Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im „Dritten Reich“ zu entgehen.

Dirk Reinhardt: Edelweißpiraten. Aufbau Verlag: Berlin 2012. Ab 12 Jahren.

Der Autor im Interview mit dem Westdeutschen Rundfunk.

 

notizenaushoms

Schaut man dieser Tage die Nachrichten, dann erreichen einen stündlich neue Meldungen über die Lage in Syrien. Inzwischen nicht mehr auf harmlose Demonstrationen beschränkt, hat sich die Revolution nun zu einem schrecklichen Bürgerkrieg entwickelt, der auf beiden Seiten blutige Opfer fordert. Doch auch wenn sich die westlichen Medien inzwischen große Mühe geben, eine möglichst genaue und objektive Berichterstattung abzugeben, weiß man immer noch sehr wenig über die Entstehungen dieses Konflikts, oder über die Motivationen der einzelnen Kräfte innerhalb der syrischen Revolution. Der französische Schriftsteller Jonathan Littell reiste im Januar 2012  nach Homs und führte über seine fast einen Monat andauernde Reise ein ausführliches Kriegstagebuch. Weiterlesen

Lässt sich die Verwechslung des einfältigen, aber grundsympathischen Donny in »The Big Lebowski« allein auf den ähnlichen Klang der Namen zurückführen? Oder weist sie nicht auch subtil darauf hin, dass John Lennon allgegenwärtig ist, Wladimir Iljitsch Lenin aber allenfalls noch als historische Person wahrgenommen wird? Man mache die Probe und spaziere mit offenen Augen durch eine x-beliebige Buchhandlung: Lenins umfangreiches Werk, das inklusive der Briefe mehr als fünfzig Bände umfasst, ist verschwunden, aus den Regalen und aus den Köpfen. In einer Zeit, in der Marx mit allerlei Verrenkungen zum Gewährsmann selbstkritischer Liberaler entstellt wird, ist von einem seiner bedeutendsten Nachfolger weit und breit nichts zu sehen respektive zu lesen. Woran liegt das? Und lohnt es sich, dem entgegenzuwirken oder ist Lenins Werk zurecht in Vergessenheit geraten? Weiterlesen

In Max Barrys Roman »Maschinenmann« nimmt der Drang zur permanenten Selbstoptimierung der menschlichen Physis erfrischend rustikale Züge an. Kein Fitnessstudio, um Muskeln aufzubauen und die Kondition zu erhöhen, keine plastische Chirurgie, um die Haut zu straffen und die perfekte Silhouette herzustellen. Der Körper ist kein Teil der Lösung, sondern ein Teil des Problems. Das wird Charlie Neumann bewusst, als das wenig spektakuläre Leben des scheuen Ingenieurs plötzlich durch einen Unfall aus den Fugen gerät. Eine hydraulische Zwinge hat Charlies Bein vom Oberschenkel abwärts in einen Haufen Matsch und Blut verwandelt, und die Prothese ersetzt das fehlende Glied nur äußerst unzureichend. Beim Versuch, die künstliche Bein zu verbessern, muss Charlie schnell erkennen, dass die mimetische Nachbildung der Natur in eine Sackgasse führt. Weiterlesen

Antje Damm (Foto: Leonie Damm)

Eine Kugel aus Grashalmen, gerade so groß, dass sie gut in eine kleine Hand passt, steht am Anfang und am Ende von Antje Damms Geschichte »Kiki«, die morgen beim Hanser Verlag erscheint. Die Kugel war das letzte Geschenk, das Antje, die Protagonistin, von ihrer Freundin Kiki bekommen hat, denn Kiki ist tot. Der Tod von Kiki steht allerdings nicht im Fokus der Handlung, es geht der Autorin vielmehr darum von der Freundschaft der beiden Mädchen zu erzählen, von dem, was sie in ihrer gemeinsamen Zeit erleben.

Die inzwischen gelb gewordenen und vertrockneten Grashalme zu Beginn der Geschichte verdeutlichen den zeitlichen Abstand, der zwischen Rahmen- und Binnenerzählung liegt. Antje, die mittlerweile erwachsen gewordene Ich-Erzählerin, kennt die Überraschung, die ihre Freundin darin für sie versteckt hat, immer noch nicht:

Ich weiß nicht, was es ist, denn dafür hätte ich die Kugel kaputtmachen müssen und das wollte ich nicht. Aber ihre Geschichte, die kann ich euch erzählen.

Und das tut sie dann auch. Sie erzählt den Lesern die Geschichte jener Kugel, die Geschichte von ihrer Freundschaft zu Kiki: Antje und Kiki, die eigentlich Kirsten heißt, lernen sich im Herbst, kurz nachdem Antje mit ihren Eltern und den zwei kleinen Brüdern aufs Land gezogen ist, kennen. Die Freundschaft ihrer Mütter bringt die beiden Mädchen zusammen und sie entdecken schnell ihre Sympathie füreinander. Es folgt ein Jahr voller gemeinsamer Erlebnisse und Abenteuer. Kiki ist die abenteuerlustigere von beiden, sie ist unbekümmerter, sorgloser und bringt die etwas vorsichtigere Antje manchmal dazu, an ihre Grenzen gehen und sie zu überschreiten – etwa dann, wenn sie Kiki dazu animiert, etwas im Mohr, dem kleinen Lebensmittelgeschäft ein paar Straßen weiter, zu klauen:

Als wir um die Ecke gebogen waren, schwenkte ich die Möhren vor ihrer Nase rum und rief: „Ich hab mich getraut!“ Kiki sagte: „Na ja, Möhren hätte ich ja nicht gerade geklaut.

Ihre gemeinsame Geschichte endet an einem grauen Novembertag, an dem Kiki einen tödlichen Verkehrsunfall hat. Obwohl, tut sie das wirklich? Eigentlich nicht, denn die Erinnerung an Kiki bleibt. Sie ist selbst bei der erwachsenen Antje noch so lebendig, dass sie ihre Leser auf eine authentische Reise in ihre Kindheit mitnehmen kann. Antje Damm ist es gelungen, glaubwürdig und liebevoll von der Freundschaft zwischen zwei Kindern zu erzählen, einer Freundschaft, die schön und traurig zugleich ist, weil sie viel zu schnell vorbei ist.

Und was in dem Strohkügelchen drinsteckt, das Kiki für ihre Freundin gebastelt hat, bleibt auch am Ende offen:

Vielleicht ist gerade die Vorfreude, noch etwas von Kiki zu bekommen, so schön, dass ich es nie öffnen werde.

Antje Damm: Kiki. Carl Hanser Verlag: München 2012. Zum Vorlesen und ersten Selberlesen.

Mehr noch als der beispiellose Zuspruch an sich ist bemerkenswert, dass David Graebers »Schulden. Die ersten 5000 Jahre« diesen quer durch das politische Spektrum erfährt, von der konservativen »FAZ» bis zur linken »Konkret«. Spricht der in den Augen vieler unlängst zum Kapitalismuskritiker geläuterte »FAZ«-Herausgeber Frank Schirrmacher schlicht von einer »Befreiung«, so wundert sich der »Konkret«-Rezensent Matthias Becker in der Juli-Ausgabe des Magazins, dass »Schulden« trotz der Lobeshymnen von »FAZ«, »Spiegel« und Co. »ein großartiges Buch« geworden sei. Dabei lässt der große Erfolg bei Kritikern wie Lesern (aktuell Platz 6. der »Spiegel«-Bestsellerliste Sachbuch) vermuten, dass »Schulden« so etwas wie das Buch zur Krise ist – der lang ersehnte Versuch, die unglaublichen Vorgänge in Europa und weltweit zu begreifen. Doch dieser Eindruck täuscht zumindest teilweise: Obwohl »Schulden« durchaus versucht, den Bogen zu aktuellen Entwicklungen zu spannen, taucht die Schuldenproblematik der Gegenwart nur am Rande auf, nämlich im ersten und letzten Kapitel. Das ist nur zu begrüßen, immerhin zirkulieren Deutungen der Krise allenthalben und doch mangelt es meist am historischen Weitblick, um die derzeitigen ökonomischen Verwerfungen verstehbar und somit auch jenseits einfacher moralischer Schuldzuweisungen kritisierbar zu machen. Stattdessen dominieren Einschätzungen, die sich meist der hergebrachten wirtschaftswissenschaftlichen Ansätze bedienen und folglich jene Ideologie reproduzieren, die zur gegenwärtigen Misere wesentlich beigetragen hat. Kein Wunder, dass das schließlich zu solch absurden Forderungen wie der nach einem »neuen Kapitalismus« führt, aber dazu hat die »Titanic« ja bereits alles notwendige gesagt – »Jedes System hat halt die Logiker, die es verdient«. Weiterlesen

Stefan aus dem Siepen (Foto: Bernd Schumacher)
Stefan aus dem Siepen (Foto: Bernd Schumacher)

Ein Bauer findet am Dorfrand das Ende eines Seils. Wo kommt es her? Wo führt es hin? Stefan aus dem Siepen erzählt in seiner düsteren Novelle »Das Seil« von einem Bauerndorf, das in seinen Grundfesten erschüttert wird.
Umgeben von dichten Bäumen, inmitten eines dunklen Waldes, grübelt eine Dorfgemeinschaft über ein Seil, dessen scheinbares Ende der Bauer Bernhardt gefunden hat. Das Seil kommt aus dem Wald und sein Ende ist nicht in Sicht. Die Männer des Dorfes machen sich auf den Weg, um dieses seltsame Geheimnis zu ergründen. Während sich die Frauen um die Ernte kümmern, das Dorf am Leben erhalten, verfallen die Wanderer einer Obsession: Sie werden getrieben von diesem Seil, das sie durch den dichten Wald führt und führt und führt. Diese Männer sind Getriebene, sie verlieren sich während ihrer Reise in Maßlosigkeit und verfallen der Barbarei.

Auf dem Boden lag ein Seil – nichts weiter.

Die Ausgangssituation der Novelle ist eine vielversprechende, schließlich wird der Mensch und sein Instinkt befragt. Ein Rätsel wird ausgelegt, für das es keine Erklärung zu geben scheint.
Stefan aus dem Siepen entwickelt in seiner beklemmenden Parabel einen Psychologismus, der allzu leicht zu durchschauen ist: Wann ist ein Ziel ein Ziel? Welche Kraft darf aufgewendet werden? Wann ist man gescheitert? Das allzu menschliche Streben nach Erkenntnis wird von Stefan aus dem Siepen in die Waagschale geworfen und geprüft.

Die Bauern waren glücklich. Immer wieder schauten sie nach vorn ins dunkelhelle Dickicht, konnten nicht genug bekommen vom Anblick des Seils, das mal deutlich sichtbar in der Sonne schimmerte, mal zwischen den mürben Brauntönen des Laubes verschwand.

Rasant ist diese Erzählung – und auch spannend. Die auftretenden Personen sind geschickt konstruiert, sie ermöglichen der Parabel viele verschiedene Wendungen.
Der Lehrer Rauk etwa, der mit seinen Hunden Thor und Hetzer die Gruppe anführt, entpuppt sich als charismatischer Verführer, der mit rhetorischem Geschick den Willen seiner Gefolgschaft manipuliert. Es treten Narzisse auf, dumpfe Kraftprotze, sensible Schöngeister. Sie alle wirft aus dem Siepen in seiner Erzählung zusammen. So wird »Das Seil« zu einem Schauplatz des Allzumenschlichen. Mit geradezu biblischer Schwere führt der Erzähler von Analogie zu Analogie und entwirft ontologische Fragen, deren Offensichtlichkeit im Laufe der Novelle schon bald aufdringlich wird.

So schlecht ist die Welt nicht eingerichtet, dass eine große redliche Anstrengung, wie wir sie erbringen, ohne ihren gerechten Lohn bleiben kann. Es darf daher nur eine Losung geben: Weiter! Immer weiter! Bis zum Ziel!

Die Auflösung des Rätsels ist logisch und unweigerlich. Bis zu Letzt spannt Stefan aus dem Siepen ein Netz aus Trieb, Intrigen, Gewalt, Niedertracht und Gelüsten. Düster geht es in »Das Seil« zu, unheimlich. Doch ist der Nachgeschmack kein guter. Das Problem ist: Die Moral von der Geschichte.

 

Stefan aus dem Siepen: Das Seil. Deutscher Taschenbuch Verlag: München 2012.

derrusseisteiner

Ein Debütroman ist immer etwas Besonderes, oft blitzt hier am meisten das literarische Genie des Autors hervor und zeigt auf, in welche Richtungen es sich entfalten kann.
Doch selbst unter Erstlingswerken sticht Olga Grjasnowas Roman hervor: Schon der Titel besticht durch seine  außergewöhnliche Länge (übrigens ein Zitat aus Anton Tschechows »Die drei Schwestern«), dieses Außergewöhnliche wird auch das ganze Buch über beibehalten, Grjasnowa zeichnet ein schwermütiges Bild des Lebens, sie gibt den Blick frei auf die Themen Freiheit und Tod, Abschied und Vergessen. Weiterlesen

Großbritannien im Jahr 2071: In London grassiert ein Nano-Virus, der unschuldige junge Mädchen in vampireske Cyborgs verwandelt, so genannte »Puppen«, deren Reizen die Männer reihum verfallen. »Puppen-Junkies« lautet die abfällige Bezeichnung für jene »Verräter an der Rasse«, die sich mit den »toten Mädchen« einlassen und den Virus dadurch weiter verbreiten. Aus Angst um den Fortbestand der Spezies Mensch formiert sich eine fanatische »Reinheitsfront«, die schon bald von der unter Zwang angewandten »medizinischen Behandlung« der »toten Mädchen« zum eiskalt geplanten und ausgeführten Mord übergeht. Doch es regt sich Widerstand, denn die »Puppen« wollen sich dem grausamen Schicksal, dass die Menschen ihnen zugedacht haben, nicht kampflos ergeben, zumal ihre Verwandlung sie mit enormen Kräften und übermenschlichen Fähigkeiten ausstattet. Eine hungrige Vagina dentata ist da noch die geringste Gefahr für die vornehmlich männliche Menschenwelt. Weiterlesen

Hans-Joachim Gelberg (Foto: Alexa Gelberg)

»Wo kommen die Worte her?«, fragte Luise Kaschnitz 1962 in »Ein Gedicht«. Der Autor und Verleger Hans-Joachim Gelberg hat diese Frage über 100 Autoren mit auf den Weg gegeben, als er sie zur Mitarbeit an seiner nunmehr fünften, nach der Verszeile aus Kaschnitz‘ Gedicht benannten Lyrikanthologie eingeladen hat. Im April ist die zweite Auflage erschienen.

Die verschiedenen Antworten, die er darauf bekommen hat, ziehen sich wie ein roter Faden durch die von ihm herausgegebene Gedichtsammlung: Eine, die von Frantz Wittkamp, hat uns besonders gut gefallen:

Weißt du nicht, wo ein Wort entsteht?
Im Buchstabengarten, im Alpha-Beet.

Neben allerlei Sprachspielereien wie dieser bietet die Anthologie ABC-Gedichte, Verse die wir alle noch aus unserer eigenen Kindheit kennen, visuelle Poesie, Rätsel in Gedichtform, Humorvolles, Philosophisches, aber auch Ernsthaftes. Dazu zählt etwa das Gedicht »Ein Koffer spricht«, das Ilse Weber vor ihrer Deportation von Theresienstadt nach Auschwitz verfasst hat.

Die Welt der Wörter steht im Fokus, es geht darum was wir mit Worten machen und was Worte mit uns machen, so wie es Max Kruse beschreibt:

Worte können dich betören,
lügen, prahlen oder schwören,
dich in tiefstem Schmerz ertränken
und die höchsten Freuden schenken.

Auch ältere Gedichte aus dem frühen 19. Jahrhundert sind neben den eigens für die Anthologie verfassten Beiträgen von bekannten und weniger bekannten Autoren zu finden. Im Ganzen liegt der Schwerpunkt jedoch auf Texten aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Zu den insgesamt über 150 Autoren zählen bekannte (Kinder-) Lyriker und Schriftsteller wie Josef Guggenmos, James Krüss, Bertolt Brecht, Joachim Ringelnatz, Christian Morgenstern, Christine Nöstlinger und Paul Maar, um nur einige von ihnen zu nennen.

Allerdings sollten nicht nur die Worte, sondern auch die Bilder erwähnt werden, die eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Gelberg hat Künstler wie Rotraut Susanne Berner, Axel Scheffler, Nikolaus Heidelbach und viele mehr für sein Projekt gewinnen können. So sind tolle Illustrationen entstanden, Illustrationen, die eine gekonnte Verbindung zwischen Text und Bild herstellen.

Die Gedichtsammlung ist vielfältig: Sie macht vor allem Spaß, zuweilen aber auch nachdenklich, sie bringt uns oft zum Lachen, manchmal aber auch zum Innehalten. Sie macht auf die unglaubliche Vielfalt von Sprache aufmerksam. Der Untertitel, übrigens eine Idee von Gelbergs Enkelin Elisa, trifft den Nagel auf den Kopf: »Gedichte und Bilder aller Art« für Kinder – und Erwachsene!

Zum Schluss noch ein Vers von Frantz Wittkamp:

Der Letzte macht das Gedicht aus.

Hans-Joachim Gelberg (Hrsg.): Wo kommen die Worte her. Neue Gedichte für Kinder und Erwachsene. Gedichte und Bilder aller Art. 2. Auflage. Beltz & Gelberg: Weinheim u.a. 2012

Maurice Sendak (Foto: John Dugdale)
Maurice Sendak (Foto: John Dugdale)

Im Mai dieses Jahres verstarb der Illustrator und Kinderbuchautor Maurice Sendak. Sein weltberühmtes Buch »Wo die wilden Kerle wohnen« war die erste Begegnung vieler Menschen mit Literatur. Unsere Autorin Franziska Vorhagen hat einen Nachruf geschrieben.

Als »Wo die wilden Kerle wohnen«, Sendaks bis heute populärstes Bilderbuch, 1963 in Amerika erschien, stieß es auf viel Kritik. Neben dem gegenständlichen Zeichenstil – Sendak zählte Ludwig Richter, Wilhelm Busch und Heinrich Hoffmann zu seinen Vorbilder –, der nicht der zeitgemäßen Ästhetik entsprach, war es vor allem der Inhalt, an dem man Anstoß nahm. Man empfand das Bilderbuch als zu gewalttätig für Kinder, geht es in der Geschichte doch wenig zimperlich zu:

Die wilden Kerle brüllten ihr fürchterliches Brüllen und fletschten ihre fürchterlichen Zähne und rollten ihre fürchterlichen Augen und zeigten ihre fürchterlichen Krallen.

Und dennoch schaffte Sendak mit diesem Bilderbuch seinen Durchbruch, auch international. 1967 erschien die deutsche Übersetzung beim Diogenes Verlag, der das Buch auch heute noch verlegt. Man hatte wohl erkannt, dass das Gewaltsame in Sendaks Geschichten nicht Selbstzweck ist, sondern es vielmehr um die Stärkung der kindlichen Persönlichkeit geht.
Da gibt es zum Beispiel Max, den Protagonisten. Im Traum segelt er dorthin, wo die wilden Kerle wohnen. Mit ihrem kämpferischen Gebaren können sie ihn nicht einschüchtern. Er schaut ihnen einfach so lange in die Augen (ohne dabei zu blinzeln, das ist der Trick!)  bis sie ihn, davon schwer beeindruckt, »den wildesten Kerl von allen« nennen, zu ihrem König ernennen und gemeinsam mit ihm eine gute Zeit verbringen.

Ich glaube nicht daran, dass man Kindern dies sagen darf, jenes aber nicht. Man soll ihnen alles sagen.

Sendak war der unpopulären Meinung, Kindern keine eigens für sie gestaltete, beschönigte Welt zu zeigen, sondern plädierte dafür, Kindern stets die Wahrheit zu sagen, ihnen nichts vorzuenthalten, weil sie früher oder später sowieso mit der Wirklichkeit konfrontiert werden würden. Eine Überzeugung, die sich in der Kinder- und Jugendliteratur erst in den 1970er Jahren auf breiter Ebene durchsetzen sollte.

Seine eigene Kindheit verbrachte der Sohn polnisch-jüdischer Immigranten zusammen mit zwei Geschwistern im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Schon als Kind soll er den Wunsch gehabt haben, Buchillustrator zu werden. Mit zwanzig Jahren fing er im New Yorker Spielzeugladen F.A.O. Schwarz als Schaufensterdekorateur an. Der Bucheinkäufer des Ladens stellte den Kontakt zu Ursula Nordstrom her, die Lektorin beim Verlag Harper & Row war und ihm seine ersten Aufträge verschaffte. Bevor 1956 »Kenny‘s window«,  sein erstes eigenes Kinderbuch, erschien, illustrierte Sendak Bücher anderer Autoren. Er war außerordentlich produktiv, sein Gesamtwerk beläuft sich auf über einhundert Bücher, die von den 1950er Jahren an bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts erschienen und für die er mit zahlreichen Preisen geehrt wurde – unter ihnen der Hans-Christian-Andersen-Preis (1970) und der Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis (2003).

Maurice Sendak, einer der bedeutendsten Kinderbuchautoren und -illustratoren des 20. Jahrhunderts, ist am 8. Mai in Danbury, Conneticut gestorben. Er wurde 83 Jahre alt.

In den letzten Jahren ist der Literaturwissenschaftler Terry Eagleton einem größeren Publikum im deutschsprachigen Raum vor allem durch zwei Bücher bekannt geworden: »Der Sinn des Lebens« von 2008 und »Das Böse« von 2011. In beiden Büchern stellt Eagleton genuin philosophische Fragestellungen und Problemlagen mit der ihm eigenen Leichtigkeit und Verständlichkeit dar und bringt sie so auch dem interessierten Laien näher. Sein jüngstes Werk mit dem Titel »Warum Marx recht hat« setzt diesen Weg fort, handelt es sich doch um eine ebenso fundierte wie streitbare Einführung in die Theorie von Karl Marx und den Marxismus. Ein schwieriges Unterfangen, zweifellos, denn über kaum jemand ist soviel gesagt und geschrieben worden wie über Marx – was natürlich den Grund darin hat, dass kaum jemand das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert so stark geprägt hat wie Marx. Vor allem aber sind über kaum einen Philosophen und dessen Theorie derart viele Unwahrheiten, Halbwahrheiten und Verzerrungen im Umlauf. Weiterlesen