In Juli Zehs Roman »Nullzeit« bricht das Unheil in Person eines Touristenpaars herein. Sie hört auf den klangvollen Namen Jolanthe Augusta Sophie von der Pahlen, kurz Jola, und ist Darstellerin in einer Seifenoper mit Ambitionen auf die große Filmkarriere. Er heißt Theodor und schreibt Romane, doch seine einzige Veröffentlichung liegt Jahre zurück. Zusammen machen sie Urlaub auf Lanzarote, wo Jola zur Vorbereitung auf eine Filmrolle das Tauchen lernen will. Es soll ihr Durchbruch werden, und aus diesem Grund engagiert sie den erfahrenen Tauchlehrer Sven, einen Auswanderer, der Deutschland vor nunmehr vierzehn Jahren den Rücken gekehrt hat und der mit Unterstützung seiner Freundin Antje abenteuerlustige Touristen in die Tiefen den Atlantiks führt.

Für Sven ist die Kanareninsel eine spröde Idylle und Jola und Theo erscheinen ihm zunächst wie ziemlich normale Urlauber. Allerdings zeigt sich schnell, dass Liebe allein nicht Basis der Beziehung zwischen der jungen Frau und ihrem älteren Partner ist. Zunächst verborgen und später dann ganz offen tragen die beiden einen Machtkampf aus, und immer brutaler wird die Wahl ihrer Mittel. Gegenseitige Verletzungen und Demütigungen gehören zum Alltag, und Sven, der mit Lola eine Affäre anfängt, bliebt nicht lange ein unbeteiligter Beobachter. Der Auswanderer, der von Deutschland nur noch als einem »Kriegsgebiet« spricht, hat plötzlich seinen ganz privaten Krieg, vor dem er nicht weglaufen kann und in dem längst nicht klar ist, wer Freund und wer Feind ist.

Hat dir schonmal jemand verraten, dass Literatur niemals von netten Dingen handelt, auch nicht auf Inseln?

Lanzarote bildet die perfekte Kulisse für die Romanhandlung und das plastische Figurentrio sowie die zahlreichen Bezüge zum Tauchen tragen ihren Teil zur atmosphärischen Erdung des Romans bei. Nur wenige Sätze braucht Juli Zeh, um dem Leser das authentische Bild vom scheinbaren Paradies auf Erden und seinen zunächst mehr oder weniger glücklichen Bewohnern zu vermitteln. Und doch ist »Nullzeit« ein hochartifizielles Gebilde, eine geschickt konstruierte literarische Versuchsanordnung: Der Roman führt seine Figuren bis an ihre Grenzen und darüber hinaus, Schritt für Schritt zeigt er, wozu Menschen fähig sind. Moral existiert in diesem Spiel der Eitelkeiten, in dem niemand schuldlos bleibt, nur mehr als Phantom. Gefangen in einem Netz aus Täuschungen und Enttäuschungen kommt Sven schließlich zu der bitteren Einsicht, das jeder Fluchtversuch zwecklos ist, und auch Lanzarote verliert seinen Nimbus.

Ich verstehe nicht mehr, wie ich diese Insel für etwas Besonderes halten konnte. Sie ist ein Ort wie jeder andere. Krieg ist kein geographisches Phänomen.

Aber »Nullzeit« ist nicht nur ein psychologisches, sondern auch ein erzählerisches Experiment. Zwischen Svens Bericht der Ereignisse finden sich wiederholt Auszüge aus Jolas Tagebuch, welche die Haupterzählung nicht nur ergänzen, sondern ihr auch widersprechen. War es also doch nicht Jola, die Sven manipuliert und für ihre Zwecke benutzt hat, oder sind die Tagebuchaufzeichnungen selbst nur Teil eines perfiden Plans? Die Schuldfrage wird durch die Unwägbarkeiten der Erzählung weiter kompliziert. Und zugleich tun sich neue Einblicke in die Psyche der Figuren auf, in ihre sadistische Lust an der Grausamkeit und ihre Skrupellosigkeit, wenn es darum geht die eigenen Ziele zu erreichen.

»Die Hölle«, heißt es am Ende von Sartres »Geschlossene Gesellschaft«, »das sind die anderen«. Folterwerkzeuge sind überflüssig, wenn ein einziges Wort einen geliebten Menschen vernichten kann. Wo immer Menschen aber zusammen kommen, fügen sie sich Leid und Schmerzen zu, und die Intensität dieser Empfindungen steigt mit dem Grad der Vertrautheit und Zuneigung. Wenn Vertrautheit und Zuneigung am größten sind, spricht man von Liebe. Es ist eine extreme Weltsicht, die der Roman mit großer Virtuosität durchexerziert. »Nullzeit« ist ein zynisches Buch und präsentiert dem Leser eine zynische Wahrheit.

Juli Zeh (geboren 1974) ist promovierte Juristin und verfasste unter anderem die Romane »Adler und Engel« (2001), »Spieltrieb« (2004) und »Schilf« (2007). Sie veröffentlichte zudem journalistische und essayistische Beiträge in Zeitschriften und Tageszeitungen. Ihr literarisches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Juli Zeh: Nullzeit. Schöffling: Frankfurt am Main 2012. 

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