Markus Berges
(Foto: Matthias Sandmann)

Markus Berges ist Texter und Sänger der Band Erdmöbel, über die die Süddeutsche Zeitung schrieb, sie sei „die größte deutsche Band unserer Tage.“
Doch ist der Kölner nicht nur ein begabter Song-Texter, auch als Roman-Autor beweist er sein poetisches Geschick.
Bereits im September 2010 veröffentlichte Berges den von der Kritik geschätzten Roman „Ein langer Brief an September Nowak“.
Leichtfüßig und melancholisch erzählt der Roman von Täuschungen und Träumen, Reisen und der Schönheit des Atlantiks.  

Der Autor im Interview über Johann Lafer, vergammelte Fußballstadien und das Verhältnis zwischen Realität und Illusion.

 

Lieber Markus Berges, fahren Sie gerne Zug?

Ja, wenn ich nicht stehen muss. Aber meistens ist noch Platz im Speisewagen. Wir sind letztens beispielsweise mit Erdmöbel im Zug von München nach Berlin gefahren. Von der Brezel im Bahnhof über Nebelfelder durch finstersten Zonenrandwald, in dem die Sonne aufging, zur lächerlich schlechten Kost von Johann Lafer: yeah!

Die Protagonisten in Ihren Songtexten wie auch in Ihrem Debüt-Roman »Ein langer Brief an September Nowak« fahren häufig Bus, sie fahren häufig Bahn. Meist sind es sehr poetische und melancholische Momente. Worin liegt der Zauber dieser passiven Bewegung?

Da ist was dran. Es wird auch manchmal Auto gefahren, aber dann wird jemand mitgenommen. Das Passive daran ist tatsächlich das Schöne, der Fahrer fährt, weiß den Weg und du darfst schauen, träumen, lesen. In zwei Wochen fliege ich in die Ukraine und fahre mit dem Bus auf die Krim, mal sehen, wie sich das Ausgeliefertsein dort anfühlt.

Ihr Roman ist der Reisebericht von Betti, einer Jugendlichen, die zum ersten Mal das Elternhaus verlässt, um eine Brieffreundin in Südfrankreich zu besuchen. Sie wird getäuscht und enttäuscht. Doch schöpft sie aus ihrer Verzweiflung Mut und Kraft. Wächst der Mensch an Niederlagen?

Das kommt drauf an, denke ich. Die Aufstehfähigkeit verdankt man wohl seinen ersten Lebensjahren. Oder eben nicht. Dann gibt es natürlich auch Niederlagen, von denen man sich nicht mehr erholt.

In Ihrem Roman verschwimmen Bewegung und Stillstand, Illusion und Realität. Betti, die Hauptperson, verewigt ihre Erlebnisse mit einer Lomo-Kamera. Ist Fotografie das Glied zwischen Realität und Illusion?

Bei den Fotos im Roman spielt das Verhältnis von Realität und Illusion eine Rolle. Traditionell galten Fotos als Dokumente. Aber fiktional wie Gemälde wurden sie schon immer allein durch ihre Ausschnitthaftigkeit. Und anders als die unabgebildete Welt, fangen sie sofort an, in Kontexten und in Köpfen Geschichten zu erzählen. Ich habe für den Roman sowohl fotografiert (auch Fotos abfotografiert) als auch ältere, eigene Fotos (z.B. von einem Gemälde, das tatsächlich in der im Roman beschriebenen Bahnhofbar hängt) verwendet. Interessant finde ich, wie sich in Fotos Zeiten überlappen. Aus welchem Foto hat Gursky wohl die
Schwimmerin herausmontiert, die sich in »Monaco 2004/06« findet, dem Foto, das am Ende meines Romans steht? Wann schwimmt sie eigentlich und wo? Hat sie je von Gursky gehört? Wer ist sie? Ist es eine Frau?

»Ein langer Brief an September Nowak« weckt Fernweh. Ich habe den Roman in Italien am Comer See gelesen. Trotz des wunderbaren Lichts, der spektakulären Kulisse, wollte ich mit dem Rucksack schnellstmöglich nach Südfrankreich reisen. Was ist das Anziehende an Orten, an denen man sich derzeit nicht befindet?

Das weiß ich nicht. Diese Sehnsucht ist ziemlich unbuddhistisch, oder? Ich kenne sie natürlich auch gut. Das Schöne an der Literatur ist vielleicht, dass sie sie gleichzeitig wecken und stillen kann.

Was ist die Chance des Reisens?

Also mir geht es meistens nur um das ganz reale Glück. Manchmal will ich was lernen, meistens aber einfach nur da sein, ich meine, in diesem ganz einfachen Sinne von: hey, dieses vergammelte Fußballstadion gibt es, in diesem abruzzesischen Abendlicht, und ich sehe es, ich bin da.

Gibt es einen Unterschied zwischen der Sonne in Palermo, Nizza und Köln?

Ja, vielleicht hat es mit irgendwelchen Brechungen zu tun. Jedenfalls kann auch der Kölner Himmel, nach dem ich mich nie sehne, eine einzigartige Durchsichtigkeit haben. Hätten Palermo und Nizza heute morgen in Köln gefrühstückt, hätten sie zukünftig danach Sehnsucht.

Wie Amélie Poulain in »Die fabelhafte Welt der Amélie« staunt auch Betti mit großen Augen über das sie umgebende Treiben der Menschen. Leise und vorsichtig tasten sich beide an ihr Glück heran. Kann man Glück erzwingen?

Es gibt auf der Welt natürlich viel objektives Unglück. Aber schmieden lässt Glück sich doch manchmal. Der glücklichste Tag der letzten Woche war der Tag, an dem ich und meine Familie aus unserem Haus zwangsevakuiert waren, wegen einer Weltkriegsbombe. Aus Gründen hätte man das auch anders erleben können.

Das Buch endet mit einem Zitat aus Vladimir Nabokovs »Das wahre Leben des Sebastian Knight«: »Sie besaß Phantasie – der Muskel der Seele -, und zwar eine besonders kräftige, beinahe männliche Phantasie. […]« Spielt die Wahrhaftigkeit des Erzählers in Ihrem Romanen überhaupt eine Rolle? Ist es wichtig, ob Betti tatsächlich in Südfrankreich war?

Nein, letztlich geht es nur um die Fähigkeit, wie Nabokov sagt, den »Glorienschein um eine Bratpfanne« entdecken zu können. Andererseits bedeutet das Erzählen auch einen Hauch mehr als bloßes Spiel. Deshalb liegt die Wahrhaftigkeit des Erzählers wohl eher in seiner erzählerischen Energie, darin, dass es ihm wirklich um etwas, sei es um sich selbst, geht.

Auf dem aktuellen Album Ihrer Band Erdmöbel, »Krokus«,  befindet sich ein Song namens »Wort ist das falsche Wort«. Sie singen »Wort ist das falsche Wort, es ist mehr Akkord. Ach – ist unsagbar schwer zu sagen.« Sprache ist nur eine Annäherung an die Welt. Ist ein Klang tiefer als Worte?

Klang ist eine andere Sprache, ich kenne mich da nicht aus, aber man spürt ja, dass sie auf andere Areale im Gehirn trifft. Wenn Sprechen nicht mehr geht, geht oft noch Singen. Mich ergreift Musik meist tiefer als ein Text, aber oft hallen Worte länger nach.

Markus Berges  wurde 1966 im münsterländischen Telgte geboren. Sein Debüt-Roman »Ein langer Brief an September Nowak« wurde im September 2010 im Rowohlt Verlag veröffentlicht.

 

Im vergangenen Jahr veröffentlichte Jan Brandt seinen 900 Seiten umfassenden Debüt-Roman »Gegen die Welt« und wurde damit sogleich für den Deutschen Buchpreis nominiert. Der Roman erzählt von der Bürde der Jugend, er erzählt vom Scheitern und existentieller Langeweile: eine grandiose Kapitulation.

Der Autor im Interview über Hiob, Anakin Skywalker und die Abgründe der Menschheit.

 

Lieber Jan Brandt, was ist Wahrheit?

Wahrheit ist die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Ein Roman kann niemals wahr sein, höchstens wahrhaftig oder wahrscheinlich.

Immer wieder tauchen religiöse Motive in Ihrem Roman auf. Obwohl niemals moralisierend, so entsteht doch der Eindruck, dass die religiöse Versiertheit in Jericho stellvertretend für eine Sehnsucht nach allgemeingültigen Werten und Führung steht. Kann Religion diesem Verlangen noch gerecht werden?

Religion stillt die Sehnsucht nach einfachen Antworten auf schwierige Fragen. Jede Religion hat einen Ursprungsmythos, der auch nach Jahrhunderten noch seine Wirkung entfaltet. Diese Texte sind machtvoll, trostspendend und zerstörerisch zugleich. Die Geschichte der Menschheit zeigt, welche Energien solche Fiktionen freisetzen können. Und darum geht es in »Gegen die Welt« mehr als um alles andere: um Geschichten und deren Interpretationen, um die Suche nach einer Wahrheit im Dickicht sich widersprechender Erzählungen.

Ist »Gegen die Welt« ein Roman über das Theodizee-Problem?

Das Theodizee-Problem behandelt die Frage: Wenn Gott gut und allmächtig ist, warum gibt es dann so viel Elend auf der Welt? Wie kann Gott es zulassen, dass die gläubigen, rechtschaffenden Menschen, die Krone seiner Schöpfung, leiden? Man kann die Geschichte von Daniel Kuper als Parabel lesen, als einen Wiedergänger Hiobs, dem immerzu Böses wiederfährt und der doch nicht seinen Glauben verliert. Aber im Gegensatz zu Hiob verliert Daniel Kuper seinen Glauben, an die Gesellschaft, die Gerechtigkeit, das Glück.

Volker, ein vermeintlicher Nebencharakter, entwickelt schon in seiner frühen Jugend eine außergewöhnliche Faszination für den christlichen Glauben. Er wird später die neutestamentarische Position des Judas einnehmen. Was ist das Faszinierende an den Schattenseiten des Christentums?

Es sind ja nicht die Schattenseiten allein. Die Bibel ist voller Brutalität: Brudermorde, Erdbeben, Feuersbrünste, Sintfluten, Hungersnöte, Kindesschlachtungen, Folter, Hinrichtungen – ein kollektiver Splatterroman. Aber sie ist auch voller Liebe und Mitgefühl, Hilfsbreitschaft und Vergebung. Aus diesem Dualismus entsteht eine ungeheure Kraft. Der Konflikt, der daraus resultiert, ist faszinierend, nicht nur die helle oder dunkle Seite der Macht, die Verwandlung von Judas vom Jünger zum Verräter oder – um einen anderen mächtigen Mythos zu zitieren – von Anakin Skywalker zu Darth Vader.

Der Tod spielt in »Gegen die Welt« eine große Rolle. Weshalb wird er von den Menschen kaum thematisiert, kaum beachtet?

Das hat mich auch gewundert, kein Kritiker hat sich ernsthaft mit diesem Thema auseinandergesetzt. Vielleicht liegt es daran, dass der Tod in der Literatur allgegenwärtig ist, dass viele Romane vom Sterben handeln, vom Untergang eines Menschen, einer Familie, einer Gesellschaft. Und vielleicht zeigt das auch die Grenzen der Fiktion auf: Vielleicht bedarf Fiktion einer Verankerung in der Wirklichkeit, um volle Anerkennung beanspruchen zu können. Hätte ich mich unmittelbar vor oder nach Erscheinen meines Romans umgebracht, hätten sich die Exegeten auf das Selbstmord-Motiv gestürzt und es als Schlüssel für mein Leben und Sterben gedeutet.

Einige der auftretenden Jugendlichen sind besessen von Heavy Metal. Mittlerweile ist diese Musik hauptsächlich in ländlichen Gebieten von großer Bedeutung. Können Bands wie Judas Priest, Iron Maiden und Saxon noch als Vehikel für die Wut und die Angst junger Menschen dienen?

In der Provinz diente Musik immer schon zur Distinktion, stärker als in der Großstadt, das Potenzial mit Aussehen und abseitigem Musikgeschmack Aufmerksamkeit zu erregen, ist dort einfach höher. Mag sein, dass Heavy Metal auch immer ein Ventil war und ist, um Aggression abzulassen. Dann hätte die Musik aber nur eine gesellschaftsstabilisierende Funktion, die dazu dient, Widerstand zu kanalisieren und den status quo aufrechtzuhalten. In »Gegen die Welt« ist Heavy Metal eine Art Ersatzreligion, das Gegenstück zum Christentum, dem sich die Jugendlichen aus Protest über die Diktatur der Angepassten verschreiben. Diese Haltung ist in ihrer Ausschließlichkeit auch reaktionär. Ein Teufelskreis.

Roberto Bolaños Roman »2666« thematisiert ebenso die Abgründe der Menschlichkeit, wie eben auch »Gegen die Welt«. Jedoch spielt sich der Roman Bolaños nicht nur in einer Stadt, oder in einem Land ab. Schreckensszenarien findet man in jedem Winkel der Welt. Weshalb haben Sie sich dafür entschieden, »Gegen die Welt« ausschließlich in einer Kleinstadt im Norden Deutschlands handeln zu lassen?

In meinem Buch heißt es: »Das Dorf war überall.« Die Geschichte Daniel Kupers, die Geschichte vom Verschwinden des Dorfes ist universal und könnte so oder so ähnlich überall auf der Welt spielen, auch wenn die sozialen Umstände dort, wo immer das dann ist, andere sind. »2666« ist dagegen tatsächlich global, von Anfang an Zeit und Welt umspannend, und doch scheinen beide Romane eine gemeinsame Botschaft zu haben: dass es kein Entkommen gibt, dass sich dort, wo immer Menschen sind, Abgründe auftun. Bei Bolaño allerdings sehr viel tiefere und furchtbarere als bei mir.

Verstehen Sie »Gegen die Welt« als Schlüsselroman?

Nein. Es gibt – abgesehen von einigen Dorfgeschichten, autobiografischen Erlebnissen, zeitgeschichtlichem Material und topografischen Rahmenbedingungen – keinen Bezug zur Wirklichkeit.

Der Film »Das weiße Band« zeichnet eine ebensolche bedrohliche Atmosphäre aus, wie sie auch in Ihrem Roman allgegenwärtig ist. Im Gegensatz zu Ihrem Roman wird im Film allerdings dem Zuschauer am Ende überlassen, das Geschehen moralisch zu werten. Die Kamera harrt am Altar aus, der Pfarrer setzt sich zu seiner Gemeinde auf die Kirchenbank. Warum führen Sie den Leser Ihres Buches nicht ebenso?   

Ich liefere am Ende auch keine Moral, ich knüpfe nicht einmal alle losen Fäden zusammen. Ich habe bewusst Leerstellen gelassen, weil es auch im wirklichen Leben nicht auf alle Fragen Antworten gibt, und man das auch nicht von einem Gesellschaftsroman erwarten kann. Ich mag keine Bücher, die mir die Welt erklären, das ist keine Literatur, sondern Propaganda.

Kann man dem Erzähler Ihres Romans »Gegen die Welt« Glauben schenken? Oder ist auch er so unaufrichtig, so manipulierend wie die meisten der auftretenden Personen?

Er ist so vertrauenswürdig wie jeder andere auch. Glauben Sie mir. Ich kenne ihn besser als er sich selbst.

Die Band Tocotronic singt in ihrem Lied »Kapitulation«: »Alle, die die Liebe suchen, sie müssen kapitulieren.« Dies trifft in besonderem Maße auch auf den Protagonisten Daniel Kuper zu. Kann man dem Scheitern etwas Positives abgewinnen?

Offenbar schon, sonst gäbe es weniger Texte, die genau davon handeln, ob Songs, Gedichte oder Erzählungen und Romane.

Jan Brandt wurde 1974 im ostfriesischen Leer geboren. Sein Debüt-Roman »Gegen die Welt« wurde im August 2011 im Dumont Buchverlag veröffentlicht.  

Joachim Lottmann. Der »Erfinder der deutschsprachigen Popliteratur«. Der »Erfolgsschriftsteller«. Der »Anti-Goetz«. Joachim Lottmann ist wieder da. War er denn jemals weg? Nein, eigentlich nicht. Und hat sich etwas geändert im »Kosmos Lottmann«? Nein, eigentlich nicht. Lottmann geht unbeirrt seinen Weg und schreibt wie er immer schreibt. Immerhin eine Konstante bei all den Höhen und Tiefen in Lottmanns Leben, von dem ja seine Erzählungen und Romane handeln – zumindest, wenn man dem Verfasser glaubt. Denn, so schreibt Lottmann in seinem Blog, seine Bücher basieren allesamt auf Erlebnissen, die zunächst in Tagebuchform festgehalten sind und die anschließend eine literarische Umsetzung gefunden haben. Weiterlesen

Keine Feststellung ist so banal, als dass man sie nicht unendlich oft wiederholen könnte. So vergeht kaum eine Woche, in der nicht die Zukunft des gedruckten Buches mit einem großen Fragezeichen versehen wird. Glaubt man dem kulturpessimistischen Raunen in den deutschen Feuilletons, dann läutet das unvermeidliche Ende des Buchzeitalters mindestens den Untergang der abendländischen Zivilisation ein. Denn zu den Opfern dieser Entwicklung zählten unmittelbar zwar die Verlage und Autoren, mittelbar sei aber die gesamte Kulturlandschaft betroffen. Und wer ist Schuld? Selbstverständlich das Internet. Das Internet schafft sie schließlich alle – darunter macht es kaum einer. Was natürlich Unsinn ist, aber an einer auch nur halbwegs realistischen Prognose ist den vermeintlichen Kassandras der Kulturkritik nicht gelegen. Wenn zum Beispiel die Unterstützer des so genannten »Heidelberger Appells« um den Literaturwissenschaftler Roland Reuß unter anderem gegen die Digitalisierungsbemühungen von »Google Book Search« protestieren, dann geht es – der vorgeblichen hehren Sorge um »die Freiheit von Literatur, Kunst und Wissenschaft« zum Trotz – vor allem um die Sicherung der eigenen Pfründe. Die Befürchtung: eine Aushöhlung, wenn nicht gar eine Abschaffung des Urheberrechts in seiner jetzigen Form. Dass dieses Urheberrecht eine relativ neue Institution ist, deren Etablierung historisch an den Siegeszug eben jener kapitalistischen Eigentumsordnung und Produktionsweise gekoppelt ist, die momentan allenthalben den Bach runter geht, spielt in der Argumentation der gut situierten Besitzstandswahrer aus nahe liegenden Gründen keine Rolle.

Auf der anderen Seite stehen einige Stimmen der Vernunft, die die Digitalisierung des Buchmarkts als Chance, zumindest aber als eine im Prinzip unaufhaltsame Entwicklung begreifen, mit der sich die Betroffenen wohl oder übel arrangieren werden müssen. Einschätzungen dieser Art dürften in vielen Aspekten weitaus realistischer sein als das monotone Lamento der üblichen kulturpessimistischen Jammerlappen, doch gehen auch sie häufig von der Prämisse aus, dass es mit dem gedruckten Buch bald endgültig vorbei sein wird. Und selbst wenn das nicht explizit gesagt wird, so wird dieser Verlauf der Dinge doch zumindest suggeriert, wenn die Debatte um die zunehmende Digitalisierung ohne Verweise auf das Buch in seiner gedruckten Form geführt wird – gleich so als hätte das eine mit dem anderen nichts zu tun. In der Tat sind sich in diesem Punkt Befürworter und Kritiker erstaunlich oft einig und bilden so ironischerweise ein unfreiwilliges Bündnis gegen all jene, die der naiven Auffassung sind, dass sich auf dem Buchmarkt rein gar nichts ändern wird. Aber ist das Ende des Buchs wirklich so sicher? Fakt ist, dass die Kulturlandschaft der Zukunft anders aussehen wird als die heutige, und daran werden die veränderten Produktions- und Distributionsbedingungen einen entscheidenden Anteil haben. Die Verlage und ihre Autoren werden sich auf die digitale Herausforderung einstellen müssen, oder sie werden untergehen. Aus dieser im Grunde trivialen Einsicht aber das Ende des gedruckten Buches abzuleiten, ist eine gewagte These. Schließlich bietet das Internet der Literatur schon heute ungeahnte Möglichkeiten und die Literatur ergreift sie. Warum also nicht beides – gedruckte und digitale Medien?

Erich Mühsam: »Tagebücher«. Erster Band: 1910-1911. Verbrecher Verlag: Berlin 2011. 

Eistee, Flachbildschirme und Strandpartys – es sind die Säulen eines beklemmenden Schreckens-Szenarios. Leif Randt entwirft in seinem Roman „Schimmernder Dunst über Coby County“ eine milde Utopie, einen Wohlfühl-Schauder, in dem jeder Satz bedrohlich wirkt.

„Als wir die Kinder von Coby County waren, wussten wir noch nicht, dass wir an einem der besten Orte der Welt lebten. Heute ahnen wir es. Aber das macht es nicht leichter.“

In Coby County schmerzt das Leben nicht, es ist wohltemperiert und vitaminreich. Den Menschen hier geht es gut, Geld ist zu genüge vorhanden, die Ernährung ist sehr bewusst und die College-Jacken von modischem Chic. Man arbeitet hier in der Mode- und Kosmetikbranche, in Medien- oder Dienstleistungsunternehmen. Der Mittzwanziger Wim Endersson lebt als Verlagslektor ein ausgeruhtes Leben. Gerne fährt er mit seinem besten Freund Wesley Alec Prince auf trendigen Fahrrädern durch das sonnengeflutete Coby County, entlang der Strandpromenade, vorbei an Hotelkomplexen und dem BakeryExpress. Nizza fällt dem Leser hier ein, vielleicht auch Miami – doch ist Coby County ein Ort jenseits des Globus. Menschen kommen aus Europa, aus Amerika angereist, um hier den Frühling zu erleben. Touristen, die aus ihrer Lebenswirklichkeit ausbrechen, um sich auf Wasserbetten auszuruhen und Wodka-Apfelsaft zu trinken. Das Wetter ist mild, im Winter regnet es ab und an. Für die Einwohner der Stadt ein allgegenwärtiger Zustand des Glücks. Amerikanische Highschool-Serien wie etwa „Dawson‘s Creek“ oder „O.C., California“ stehen für den Sound und die Atmosphäre dieses Wellness-Paradieses Pate.

„Als Teenager sind wir davon ausgegangen, dass ein Leben in kleinen, in sich abgeschlossenen Episoden stattfindet. Also haben wir uns irgendwann zum ersten Mal verliebt und es zu sinnlichen Knutschszenen auf Wiesen und Anhöhen kommen lassen. Später mussten wir tragische Trennungen hinnehmen und feierten dann aus Trotz ausschweifende Tanzpartys am Strand. […] Gut daran ist, dass sich bis heute nie etwas verschlechtert hat.“

Wim, ein Kind der Sonne, ist stolz auf die leichte Melancholie, die er in seine E-Mails einstreut, die er in wohldurchdachten SMS durchschimmern lässt. Jeder seiner Sätze ist konstruiert, jede Kommunikation reflektiert. Wim weiß genau, weshalb seine Freundin Carla Keyboard spielen sollte oder sein Freund Wesley ab und an Coby County verlassen muss. Wim lässt sich nicht locker und strengt sich ungeheuer an, so wahrgenommen zu werden, wie er es für richtig hält. Er ist damit nicht alleine. Alle Einwohner Coby Countys verhalten sich cool, gelassen, souverän – doch niemals natürlich.

Die wohlige Kulisse von Coby County beginnt zu bröckeln, als die Hochbahn entgleist und einige Menschen dadurch in Lebensgefahr geraten. Plötzlich scheint die Zeit still zu stehen. Die Menschen sind schockiert, die Nachrichtensprecher hyperventilieren und daten stetig News up. Die allgegenwärtige Unaufgeregtheit bricht für einen Moment in sich zusammen.
Es ist ein nichtiges Ereignis, das von den Menschen aufgeblasen wird. Es ist genauso nichtig wie eine Undergroundparty in einer Shopping-Mall oder das drohende Unwetter, das von einigen Einwohnern zur Apokalypse heraufbeschworen wird.

„Am Tag danach wissen wir eigentlich nicht, ob das Handynetz jemals ausgefallen war. Jedenfalls können wir nun, seit wir unsere Telefone wieder eingeschaltet haben, auch problemlos Kurznachrichten und Anrufe empfangen.“

Leif Randt (© Simon Vu)

Der Erzähler wirkt mindestens ebenso sachlich und souverän wie Wim. Der Fokus weicht niemals ab, kommentiert nicht. Trocken und verständnisvoll wird berichtet, wie dieses watteweiche Leben ab und an von der Seite angepustet wird. Doch entwickelt man im Laufe der knapp 200 Seiten eine eigenartige Sympathie für den Protagonisten, der mit großen Augen staunend auf die Welt blickt. Er kennt keine Niedertracht und Falschheit, keine Gemeinheit. Notlügen, das ist das Äußerste der Gefühle. Es ist das Bild, das man längst vom unbekümmerten, tumben Apple-Nutzer entwickelt hat, der über seinen iPod Songs von Coldplay hört. Wüsste man es nicht besser, so würde man Wim Endersson als Autisten beschreiben.

Dieses brutale Offenlegen von Unzulänglichkeiten und die Schilderung einer verdrehten Moral hat sich Randt bei Bret Easton Ellis abgeschaut. Auch Randt ist mit seinen Charakteren schonungslos. Doch ist seine Brutalität subtiler. Er lässt den Leser in die Falle seiner Wohlfül-Welt hineintappen. Bis dieser merkt, dass er sich in der Seichtheit von Coby County verfangen hat, ist es zu spät. „Schimmernder Dunst über Coby County“ denkt das zu Ende, was Christian Kracht in „Faserland“ umrissen hat. Eine gleichgeschaltete Gesellschaft, die sich in ihrer vermeintlichen Individualisierung verirrt.

„Ich höre auf zu tippen, weil plötzlich mein Handy in der Sporttasche vibriert. Ich kann Wesleys Namen durch das dünne Nylon des Außenfachs hindurch auf dem Display leuchten sehen. Ich zögere für einen Moment, greife zuerst nach einem Weingummi, aber dann doch nach dem Telefon.“

Dass der Leser am Ende dieses ungeheuerlichen Romans selbst ins Visier gerät, dass er sich ob seiner eigenen Position gewahr wird, das ist das Verdienst von Leif Randt. Ein Roman, der Menschen zum Nachdenken zwingt, zum Reflektieren. Und dabei so süffig geschrieben ist, dass man ihn nicht aus der Hand legen will. Der letzte deutschsprachige Autor, dem dies geglückt ist, ist Christian Kracht. Leif Randt wird mit seinem zweiten Roman nun zwar kein neues Zeitalter deutschsprachiger Literatur einleiten, doch hat er sie auf eine neue Ebene gehoben. So kühl und so beängstigend.

Leif Randt: „Schimmernder Dunst über Coby County“. Bloomsbury Verlag:  Berlin 2011.

Wie sehr das ganze Dasein dieses Volkes auf einer fortlaufenden Lüge beruht, wird in unvergleichlicher Art in den von den Juden so unendlich gehassten »Protokollen der Weisen von Zion« gezeigt. Sie sollen auf einer Fälschung beruhen, stöhnt immer wieder die »Frankfurter Zeitung« in die Welt hinaus: der beste Beweis dafür, dass sie echt sind… Wenn das Buch erst einmal Gemeingut eines Volkes geworden sein wird, darf die jüdische Gefahr auch schon als gebrochen gelten.

Diese Einschätzung eines gescheiterten österreichischen Kunstmalers zitiert Umberto Ecos »Der Friedhof in Prag« in seinem Anmerkungsapparat. Auch die genaue Quelle ist angegeben: Adolf Hitlers »Mein Kampf«, erster Band, von 1925. Die Vorgeschichte der von Hitler und anderen Antisemiten aufgegriffenen »Protokolle der Weisen von Zion«, die erstmals 1905 auf Russisch erschienen sind und sich innerhalb kürzester Zeit verbreitet haben, steht im Zentrum von Ecos jüngstem Roman. Und obwohl die Handlung dementsprechend ausschließlich im neunzehnten Jahrhundert angesiedelt ist, zunächst in Italien und später dann in der französischen Metropole Paris, ist »Der Friedhof in Prag« von höchster Aktualität in einer Zeit, in der in den Feuilletons und anderswo über die Chancen und Risiken einer kommentierten Publikation von »Mein Kampf» diskutiert wird, während gleichzeitig judenfeindliche Ressentiments einer neuen Studie zufolge in ganz Deutschland stetig zunehmen. Weiterlesen

Der Debütroman »Gegen die Welt« von Jan Brandt erzählt die Geschichte des Antihelden Daniel Kuper, der im Sturmlauf gegen ein Dorf anrennt, das in einem der Höllenkreise Dantes seine Entsprechung finden könnte.
Doch ist das Dorf Jericho, in dem sich die Rahmenhandlung des über 900 Seiten starken Buches abspielt, ein klarer Verweis auf jenes Jericho, das im Buch Josua von den Israeliten eingenommen und zerstört wird. Das biblische Jericho also sinnstiftend für das fiktive nordfriesische Jericho. Doch statt dem Einsturz der Stadtmauern wird hier der Sturz eines jungen Menschen evoziert und das nicht etwa von einer feindlichen Invasion, sondern von der Familie, der Stadtgemeinschaft, vom direkten Umfeld. Daniel Kuper bricht an der Selbstsucht, am Unvermögen, an der Dummheit seiner unmittelbaren Umgebung.
»Gegen die Welt« ist eine moderne Hiob-Geschichte. Doch kennt sie kein glückliches Ende.

»Gott wird dich nicht so einfach gehen lassen«, brüllte er, mit der Linken hielt er Daniel am Kragen fest, mit der Rechten ohrfeigte er ihn noch einmal. »Nicht, bis du Buße getan und ihn um Vergebung gebeten hast.«

Jan Brandt wurde 1974 in Leer geboren, eine jener nordfriesischen Städte, auf deren Koordinaten dieses fiktive Jericho gepflanzt wurde. In Anlehnung an Uwe Johnsons »Mutmassungen über Jakob«, das in einem Dorf namens Jerichow spielt, entwickelt Brandt eine Welt voller Niedertracht und Leugnung, Versagensängsten, Verzweiflung und Wut.

Virtuos spielt Brandt mit typografischen Elementen, mit Perspektiven und Erzählfiguren. Diese Stilmittel sind essentiell für die Geschichte, für den Leser. Manchmal rauscht dieser atemlos durch den Roman. Manchmal stockt die Erzählung, weil der geschilderte Ausschnitt aufs Äußerste gespannt wird. So etwa die Schilderung des Todes eines Mitschülers von Daniel Kuper. Der Roman teilt sich hier auf, in oben und unten. Oben wird die Geschichte überspannter Jugendlicher erzählt, die in ihrer Langeweile zergehen, an den unsichtbaren Stadtmauern Jerichos verzweifeln und ihre einhergehende Wut, ihren unaussprechlichen Frust aufeinander projizieren. Unten, da wird die Geschichte des Lokführers erzählt, der den Jungen bald überfahren wird.

Der Tod spielt in »Gegen die Welt« eine zentrale Rolle. Alle begegnen sie ihm. Immer wieder. Doch wird er niemals in Frage gestellt, niemals thematisiert. Nur Daniel Kuper scheint die Schuldfrage zu stellen. Doch gibt es für die Bürger Jerichos nur einen Makel: den Protagonisten. Ob nun der Dorfpfarrer den Jugendlichen verprügelt, der Chefredakteur der Lokalnachrichten den Praktikanten verstummen lässt oder sich der Vater illoyal seinem Sohn gegenüber verhält – immer wieder ist es Daniel, der für die Schwächen und Fehlbarkeiten der vermeintlich Stärkeren büßen muss. Wenn sie auch nicht viel gemein haben, so vereint in diesem Dorf doch Niedertracht alle auftretenden Personen.

Jan Brandt (© Dumont Buchverlag)

Schon bald stellt der Leser fest, dass die hierarchische Struktur dieser Gemeinde nicht aufgebrochen werden kann. Der angehende Bürgermeister zitiert bei einer beängstigenden Wahlkampfveranstaltung unverhohlen Passagen aus Hitlers »Mein Kampf«. Daniel Kuper erkennt dies, stellt jedoch bald fest, dass die Einwohner Jerichos kein Interesse an seiner Erkenntnis haben. Sie registrieren nur das, was sie registrieren wollen. Moral spielt für sie keine Rolle, Treue und Aufrichtigkeit auch nicht.

Von da an war Daniel der Spinner. Alle behaupteten, er behauptete, von Außerirdischen entführt und im Mais wieder abgesetzt worden zu sein. Dabei war er unfähig, über das, was tatsächlich passiert war, zu sprechen.

So kann „Gegen die Welt“ als ein Generationenroman gelesen werden. Als eine Bestandsaufnahme von Befindlichkeiten der Menschen, die in den tiefen 70ern irgendwo in Deutschland aufgewachsen sind. Niemals pathetisch, aber immer detailfreudig erzählt Brandt von einem dumpfen Landleben, von Isolation und Wut, sodass dies auch die Geschichte eines Großstadtlebens sein könnte. Der Autor lässt offen, ob es sich hierbei um einen Schlüsselroman handelt. Doch ist sein Erzähler so unzuverlässig, dass die Grenzen zwischen tatsächlich Erlebtem, Erdachtem und Verhandelbarem irgendwo zwischen Science Fiction, Heavy Metal und Theologie-Exzessen verschwimmt.

»Gegen die Welt« ist eine grandiose Kapitulation, ein Manifest des Scheiterns. Dieser Roman kennt viele Wahrheiten, jede Perspektive hat seine eigene, doch ist keine zur Vollständigkeit verpflichtet.
Am Ende gleicht die Geschichte einem Trümmerhaufen. Wracks, Ruinen, Schutt – es sind bloß Menschen.

Jan Brandt: »Gegen die Welt«. Dumont Buchverlag: Köln 2011.
Jan Brandt im Interview.