Joachim Lottmann. Der »Erfinder der deutschsprachigen Popliteratur«. Der »Erfolgsschriftsteller«. Der »Anti-Goetz«. Joachim Lottmann ist wieder da. War er denn jemals weg? Nein, eigentlich nicht. Und hat sich etwas geändert im »Kosmos Lottmann«? Nein, eigentlich nicht. Lottmann geht unbeirrt seinen Weg und schreibt wie er immer schreibt. Immerhin eine Konstante bei all den Höhen und Tiefen in Lottmanns Leben, von dem ja seine Erzählungen und Romane handeln – zumindest, wenn man dem Verfasser glaubt. Denn, so schreibt Lottmann in seinem Blog, seine Bücher basieren allesamt auf Erlebnissen, die zunächst in Tagebuchform festgehalten sind und die anschließend eine literarische Umsetzung gefunden haben. Die Einschätzung von Gerrit Bartels im »Tagesspiegel« vom 1.10.2012, der Lottmann einen »leidenschaftlichen Lügenbaron« nennt, sei aus diesem Grund aber vollkommen abwegig: »Denn warum sollte einer sich fortwährend im Tagebuch selbst anlügen?« Was hat es nun aber auf sich mit Lottmanns »Realismus« und der Vorgabe, das eigene Leben und Erleben zum Material literarischer Gestaltung zu machen, oder lässt sich hier sinnvollerweise von Literatur überhaupt nicht mehr sprechen?

Es stand alles ein bisschen anders in meinem Text, viel ausführlicher, viel literarischer, nicht so nackt und wahr wie hier.

Bartels Rezension befasst sich mit »Hundert Tage Alkohol«, einem kurzen Text von 2011, der ausdrücklich »kein Roman« sein will und der in dieser Verweigerungshaltung typisch für Lottmann ist. »Lottmann schreibt eben nur echte Lottmann-Literatur«, wie Bartels ganz richtig bemerkt. Weshalb damit dann aber auch Grundsätzliches zum literarischen Verfahren Lottmanns insgesamt gesagt ist, denn im Prinzip hat sich hier in den letzten Jahren kaum etwas geändert. Im Gegenteil, was »Hundert Tage Alkohol« ausmacht – die launige und ungezwungene Einfachheit der schier endlosen Schwätzerei, der ständige und doch unscheinbare Wechsel zwischen pointierten Beobachtungen und offenkundigen Übertreibungen – das ist Lottmann pur und findet sich etwa auch im großartigen »Geldkomplex« von 2009. Freilich ist das Thema nun ein anderes: Gewinnt »Der Geldkomplex« aus der sukzessiven Verarmung eines einst erfolgreichen Schriftstellers in der Wohlstandsgesellschaft ein gleichermaßen komisches wie kritisches Potenzial, so steht 2011 der »Sex« in all seinen Facetten im Vordergrund. Oder besser gesagt, das ununterbrochene Reden über den »Sex« und die Zurschaustellung und Thematisierung sexueller Reize und Aktivitäten. Und das hat dann doch wieder mit Geld zu tun, denn es geht um nichts anderes als »die Pornografisierung von Staat und Gesellschaft im Zeitalter des eskalierenden Turbokapitalismus«, als deren entschiedener Gegner Lottmanns Ich-Erzähler auftritt. Einen guten Grund dazu scheint er zu haben, schließlich hat ein »Porn-Victim« ihm eine Anzeige wegen sexueller Nötigung eingebracht. Alles nur ein Missverständnis, beteuert der Erzähler, doch scheint die Situation immerhin so ernst zu sein, dass er auf der Flucht vor der deutschen Justiz zunächst in die Schweiz gelangt, wo er einige Zeit in einer psychiatrischen Anstalt verbringt, die eher an eine Hippie-Kommune erinnert, und schließlich in die österreichische Hauptstadt Wien übersiedelt. Dort lernt er sogleich die ihm zuvor unbekannte Wiener Lebensart kennen und schätzen, trifft mehr oder weniger sympathische Menschen – nur Alkohol trinkt er, Titel hin oder her, keinen. Und in Wien lebt Lottmann heute ja tatsächlich, soviel zum Stichwort Tagebuch.

Die Frage ist allerdings, ob die Schilderungen in »Hundert Tage Alkohol« tatsächlich authentisch sind oder ob sie Authentizität nicht lediglich vorspielen. Der Rekurs auf prominente Personen und historische Ereignisse ebenso wie die ausführlichen aber oft schiefen und in der konkreten Sache schlechtweg falschen Filmbesprechungen, die der Erzähler an mehreren Stellen einfließen lässt, suggerieren insgesamt eine »Welthaltigkeit«, mit welcher Lottmanns Erzähler von Anfang an auch kokettiert. Nichts ist erfunden, alles ist wahr, diese Botschaft wird so geschickt vorgebracht, dass man fast versucht ist daran zu glauben. Schließlich widerfährt dem Erzähler ja nach eigner Aussage in etwa dasselbe wie Polanski, Kachelmann und Assange. Und wenn er sich ausdrücklich weigert, den Namen der Frau zu nennen, die ihn angezeigt hat, und stattdessen nur von seinem »Groupie« spricht, so soll sogar diese Anonymität indirekt die Wahrhaftigkeit des Erzählten belegen.

Das Thema ist natürlich heikel, aber deshalb gilt einmal mehr: Alles ist beim Alten. Lottmanns Ich-Erzähler war und ist immer ein Provokateur, der der political correctness die blanke Hinterseite zeigt. Das war in »Deutsche Einheit« so, als die »Subventionsliteratur« verdientermaßen heftig angefeindet wurde, und noch mehr gilt diese Feststellung für »Hundert Tage Alkohol« Nur dass der Erzähler nun keinen Roman über die »Wende« schreiben will, sondern über, genau, »die Pornografisierung von Staat und Gesellschaft im Zeitalter des eskalierenden Turbokapitalismus«. Dazu kommt es freilich nicht, aber es wird gelästert und geschimpft, dass es nur so eine Freude hat. Manchmal möchte man da den Kopf schütteln, aber viel öfter noch, mit einem breiten Grinsen im Gesicht, zustimmend nicken. Zum Beispiel, wenn der Erzähler, einen seiner eigenen Texte paraphrasierend, über die Tochter eines Bekannten schreibt:

Als nun überall um sie herum die Pubertät ausbrach wie zwei Jahre zuvor die Schweinegrippe, wusste sie nicht mehr wohin. Sie schloss sich der anderen Außenseiterin an, die es in der Klasse gab, ein überaus hässlichen, im klassischen Sinn missratenes Mädchen namens Ätzi. Außer einem Klumpfuß hatte diese Person jeden nur möglichen körperlichen Makel. Um davon abzulenken – oder um es gerade zu betonen, das weiß ich nicht – verkleidete sie sich als Gruftie. Das war eine Mode, die es zwischen 1986 und geschätzt 2016 gegeben hat, also eben gerade keine Mode, sondern ein Dauerzustand für einen speziellen Zivilisationsschaden.

Spitze Bemerkungen wie diese, treffend und sarkastisch, aber auch tabulos, fügen sich in »Hundert Tage Alkohol« nahtlos aneinander. Nicht ausschließlich, aber oft sind Frauen das Ziel dieser Attacken. Neben »gehirnentkernten Ossi-Eltern« findet sich die fette Wirtin, »Typ Mutti aus Oggersheim«, ebenso wie die Schweizer Anstaltsleiterin, die ihren Körper unter einer »Eigenbau-Burka« versteckt. Und natürlich jede Menge »Schlampen« beziehungsweise »Möchtegern-Schlampen«, pardon: Opfer der »notorisch schlüpfrigen Medien«, die bevorzugt spezielle Wolford-Bodys tragen, deren Rätsel der Erzähler zu ergründen sucht:

Das waren so hauchdünne Ganzkörperstrümpfe. Ich ließ mich nicht lumpen und trat mutig in den Laden ein. Diese Waren wollte ich mir genauer ansehen.

Was soll ich sagen? Da waren nun also weiße Schaufensterpuppen ohne Kopf, mit diesen übergestreiften Ganzkörperstrümpfen, und darunter Schilder mit Preis und einer kurzen Erklärung, oder Einstimmung, etwa so:

»Das Spiel mit Transparenz unterstreicht das weibliche Selbstbewusstsein und findet seine Umsetzung bei Bodys wie dem Modell ›Bondage‹.«

Weibliches Selbstbewusstsein! Wenn in diesen verlängerten Unterhosen »Bewusstsein« steckte, dann konnten meine Turnschuhe Nietzsche zitieren.

Aus der kreativen Überschreitung gesellschaftlicher Tabus gewinnt »Hundert Tage Alkohol« unbestreitbar einen Großteil seiner humoristischen Qualität. Doch schlimmer als all der Spott und all die Häme ist Lottmanns Lob, das in hohen Dosierungen geradezu toxisch wirkt. Das emphatische Plädoyer für Liebe und Familie, das der Erzähler in »Hundert Tage Alkohol« führt, bewirkt genau das Gegenteil, eben weil die Ironie mehr als nur sanft mitschwingt. So lässt Lottmanns »Realismus«, der das eigene Leben und alles, was damit zusammen hängt, vereinnahmt und zur Grundlage von Literatur macht, aber nur bedingt Rückschlüsse auf wirkliche Geschehnisse zu und vor allem wird in der meinungsgeladenen Lottmann-Prosa nicht die »unverfälschte« Haltung des Autors erkennbar. Dennoch, oder gerade deshalb, ist Lottmann kein »Lügenbaron«, denn bei Lottmann gibt es kein Außen, keine unabhängige Realität mehr. Sondern nur Lottmann. Dafür ein großes »Danke schön«. Und Prost!

Joachim Lottmann: »Hundert Tage Alkohol«. Czernin: Wien 2011. 

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