Hauke Hückstädt: »Gernhardt hat Recht, die größten Kritiker der Elche, sind selber welche.« (Foto: Jürgen Bauer)

Hauke Hückstädt leitet seit Juli 2010 das Literaturhaus in Frankfurt am Main. Der Germanist absolvierte vor seinem Studium in Hannover und den Tätigkeiten als Lyriker, Herausgeber, Übersetzer und Literaturkritiker eine Lehre zum Tischler.
Als Programmleiter prägte Hückstädt von 2000 bis 2010 das Literarische Zentrum Göttingen und verhalf ihm zu bundesweiter Aufmerksamkeit.

Der Literaturvermittler im Interview über Robert Gernhardt, das Frankfurter Haifischbecken und den flüssigen Bestandteil der Literatur.


Lieber Hauke Hückstädt, ein Sprichwort besagt: »Viel Mundwerk, wenig Handwerk«. Warum haben Sie das Tischlern gegen die Literatur eingetauscht?

Es war kein Tausch. Literatur war schon vor diesen Lehrjahren in meinem Alltag. Ich habe Sachen gelernt, von denen ich auch fünfundzwanzig Jahre später noch etwas habe. Literatur und die Betriebsamkeiten um sie herum haben viel mit Handwerk zu tun. Wer das ignoriert, entspricht Ihrem Sprichwort.

Im Sommer 2010 haben Sie die Leitung des Frankfurter Literaturhauses übernommen. Eine der ersten von Ihnen arrangierten Lesungen war der Auftritt von Jonathan Franzen im ausverkauften Schauspielhaus. Es war ein Ausrufezeichen: Franzen hatte just seinen wellenschlagenden Roman »Freiheit« veröffentlicht und zierte das Cover des »Time«-Magazins. War das ein Auftakt nach Maß für Sie?

Zum eigentlichen Auftakt nach Maß wurde die tatsächlich allererste Lesung. Ich eröffnete meine Zeit hier ganz bewusst mit Judith Zander und ihrem Roman »Dinge, die wir heute sagten«. Dazu gab es im Vorfeld erst einmal nur freundliches Schweigen. Am Tag der Lesung war dann zufällig die Bekanntgabe der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2010. Judith Zander war nominiert. Das war für alle Beteiligten kein schlechtes Zeichen. Jonathan Franzen, Herta Müller, Margarethe Mitscherlich, das waren alles starke Autoren-Auftritte.

Nun leiten Sie seit rund zwei Jahren das Literaturhaus in Frankfurt. Wie fällt Ihre Zwischenbilanz aus?

Alles, was wir hier bewirken, bewirken wir für Publikum und um Öffentlichkeit für Literatur zu schaffen. Das Publikum wählt mit den Füßen. Und es hat uns bestätigt, in dem wir für unsere Art Programm zu machen über 30 Prozent Besucherzuwachs verzeichnen. Aber wir wollen, vor allem auch programmatisch, noch viel mehr. Das könnte erst der Anfang sein. Wir suchen immer Förderer, die bereit sind, neue Pfade zu schlagen.

Die traditionsreiche Frankfurter Literaturszene ist sagenumwoben. Hatten Sie keine Angst vor Vetternwirtschaft, Lobbyismus oder zu großen Fußstapfen, als Sie von Göttingen nach Frankfurt kamen?

Das mag es hier alles geben. Mir ist das aber nicht wesentlich. Leute wollen Vorteile, überall. Die Literatur ist eigentlich voll davon. Tatsächlich warnte mich eine Lady wortwörtlich vor dem Haifischbecken-Frankfurt. Das finde ich lustig, die allübliche Geschmeidigkeit und Raubeinigkeit und Missgunst so shark-mäßig aufzuwerten. Gernhardt hat Recht, die größten Kritiker der Elche, sind selber welche.

Just in dem Jahr, in welchem Sie die Leitung des Literaturhauses übernahmen, verließ der Suhrkamp Verlag Frankfurt und zog nach Berlin. Wie wichtig ist es für Ihre Arbeit, dass dennoch weiterhin so viele Verlage in Frankfurt beheimatet sind?

Wo ein Verlag seinen Sitz hat, ist heute nicht mehr ausschlaggebend. Stimmung und Klima sind wichtig. Die Atmosphäre in Frankfurt ist einzigartig. S. Fischer ist ein unheimlich starker Verlag mit guten Autoren und starken Köpfen im Hintergrund. Am Ende ist es die Mischung, die es nur hier gibt, das kaufmännische Blut, die Übersicht, die Vielfalt, die Buchhändler, die Verlage, der Börsenverein, Litprom, die Nationalbibliothek, das Goethehaus, die Tageszeitungen, der HR, die weltgrößte Buchmesse. Und daneben die Bereicherungen durch die anderen Institutionen wie MMK, Städel oder Filmmuseum.

Sie leiten Lesungen im Literaturhaus in der Regel mit Anekdoten über persönliche Berührungspunkte zwischen den Schriftstellern und Ihnen ein. Was ist der Zweck?

Oh, gut, dass Sie mir das sagen. Klingt nach Marotte. Ich werde mich prüfen. Was ich sagen kann, ist, dass ich wenigstens versuche, frank und frei und begründet zum Publikum zu sprechen. Ich empfinde das als angemessene, aufrichtige Form, wenn man Gäste hat.

Christian Kracht hat im Literaturhaus aus seinem Roman »Imperium« gelesen, dem Werk, in dem »Der Spiegel« eine »rassistische Weltsicht“ und „demokratiefeindliches Denken“ auszumachen glaubte. Es war eine Rufmord-Kampagne. Kracht hat viele seiner Lesungen in Deutschland daraufhin abgesagt. Warum kam er nach Frankfurt?

Weil ihm das wichtig war genauso wie uns. Und es war umso wichtiger, weil die Vorwürfe, die da erhoben und leider von so vielen bespiegelt wurden, viel demokratiefeindlicher und Weltsicht einschnürender waren als alles, wovon bei Kracht ohnehin nicht die Rede sein konnte. Eine einzige Dämlichkeit, die sich zudem eine Publikation aus dem Wehrhahn Verlag zurecht bog, den man sonst beim »Spiegel« keines Wimpernschlags für würdig gehalten hätte.

Das Frankfurter Literaturhaus in hellem Licht

Häufig sind die Autoren der Saison im Literaturhaus zu Gast: Schriftsteller, die just Werke veröffentlicht haben, die durch das nationale Feuilleton getrieben werden – im aktuellen Herbstprogramm etwa Juli Zeh, Bodo Kirchhoff oder Richard Ford. Warum lesen Bestsellerautoren wie Nele Neuhaus oder Charlotte Link nicht im Literaturhaus?

Wenn man Programm macht, entscheidet man sich ganz zuerst einmal dafür, das Meiste nicht zu machen oder auch nicht machen zu können. Kirchhoff finde ich ungeheuer gut. Der will was. Zeh kann sehr faszinierend sein und ihr Buch ist wie eine Druckkammer. Und Richard Ford, wie könnte ich da nein sagen. Großes Kino. Ein gutes Programm zeichnet sich ab an seinen Ecken und Kanten. Ich hoffe, die finden sich immer wieder. Und leider finden unsere Formate wie »Backlist« oder »Werk-Tag«, die für ganz und gar unaktuelle Titel kämpfen, weniger Beachtung bei Presse wie Publikum.

Welche Rolle spielt Ihr persönlicher Geschmack bei der Zusammenstellung des Programms?

Er muss eine Hauptrolle spielen. Aber Sie brauchen ein weites Herz für viele Formen, Töne, Themen, Herangehensweisen.

Mögen Sie denn zwangsläufig die Bücher der Autoren, die bei Ihnen lesen?

Für manche gehe ich in die Knie, andere halte ich hoch, aus wieder anderen lernt man selbst im Widerspruch noch etwas. Sie müssen den Mut haben, sich ständig neuen Ansätzen und vielleicht auch Überforderungen auszusetzen.

Gibt es einen unerfüllten Wunsch?

Ja, mehr Zeit für Bücher und Genuss überhaupt.

Welcher Schriftsteller hat Ihre Einladungen bisher in den Wind geschlagen?

Keiner. Und wenn, ich wäre ihm oder ihr nicht böse, noch würde ich sie preisgeben. Es geht doch nicht um mich.

Das ans Literaturhaus angeschlossene Restaurant »Goldmund« hat eine große Auswahl hochprozentiger Spirituosen. Können Sie uns einen Schnaps empfehlen?

Das liegt außerhalb meiner Kompetenz. Das Trinken ist ein flüssiger Bestandteil der Literatur, es gehört aber auch zu den Berufsrisiken. Und ich finde, es wird genug Unfug geredet, unter Alkohol wird das nur noch schlimmer. Wenn aber, dann bitte russischen Wodka. Die Russen und Polen haben nicht nur die besten Dichter.

Hauke Hückstädt wurde 1969 in Schwedt geboren, seit 2010 leitet er das Literaturhaus in Frankfurt. Der Brandenburger hat zwei Lyrik-Bände veröffentlicht und war als Übersetzer, Herausgeber und Literaturkritiker tätig.

dasphantomdesalexanderwolf
»Das beste Pferd, das mir jemals gehört hat, war ein weißer Hengst.«

Manchmal gibt es Autoren, die eine Weile benötigen, bis sie sich einen Platz in der ständig auswuchernden Bücherlandschaft sichern können. Gaito Gasdanow ist so ein Fall. Sein Roman »Призрак Александра Вольфа« erschien 1948, wurde in Russland aber wegen des sowjetischen Regimes erst 1988 im Zuge der Perestroika veröffentlicht. Gasdanow, der sich seit seiner Jugend im Exil in Paris befand, erlebte das nicht mehr. Kurz nach der Erscheinung des russischen Originals wurden weitere Fassungen auf Englisch und Französisch publiziert. Um bis nach Deutschland zu kommen, benötigte der oft mit Camus und Proust verglichene Autor dennoch weitere 24 Jahre: 2012 erschien »Das Phantom des Alexander Wolf« beim Carl Hanser Verlag. Weiterlesen

Rainald Goetz wütet wieder, nicht jedem gefällt das. All der Spott, die Verachtung, die »Denunziation seiner Figuren«, auf die Dauer kann das ziemlich anstrengend werden. Man vergisst dann beinahe, dass es nie wirklich anders war und dass das genüssliche Auskotzen von Hass, Hass und noch mehr Hass bei Goetz einfach dazu gehört. Ja, Empathie ist seine Sache nicht unbedingt, aber braucht die Literatur das Mitgefühl? Oder entstehen die besseren Bücher nicht gerade aus der Weltverachtung heraus, wohlgemerkt aus der Verachtung einer ganz bestimmten Welt, in diesem Fall der Welt des Kapitals? Um eben jene alles verdummende und erniedrigende »Herrschaft des KAPITALS« dreht sich »Johann Holtrop«, Goetz‘ jüngster Roman über den Vorstandsvorsitzenden eines großen deutschen Medienkonzerns namens Assperg AG. Der Protagonist, besagter Johann Holtrop ist ein egomanisches und narzisstisches Arschloch, aber immerhin ist er nicht allein. Seine Kollegen, Geschäftspartner, Konkurrenten und Rivalen stehen ihm in Puncto Niederträchtigkeit und Stumpfsinn in nichts nach, weshalb es aber nicht schade ist, wenn Holtrops Untergebene – »Finanzflasche Ahlers, Schleimflasche Wenningrode, Egoflasche Leffers und Flascheleerflasche Thewe«  – von diesem ohne Umschweife in Gedanken zur Altglassammlung verfrachtet werden. Zwischendrin macht auch der Erzähler immer wieder unmissverständlich deutlich, was er von dieser Entourage, inklusive Holtrop, hält: Trottel, Deppen und Nullen aller Art bilden das Personal des Romans, dass es nur so eine Freude ist.

Das wäre doch das Ideal: aus der Normalität des realen Lebens heraus eine maximal asoziale Kunst zu machen, Sozialtextkunst.

(Rainald Goetz: »Klage«)

So steht es geschrieben, datiert auf den 19. April 2007, in »Klage«, dem Eröffnungsband des Werkteils »Schlucht«, also dem Vorvorgänger von »Johann Holtrop«. Zuvor geht es wie so oft um Thomas Bernhard, der, so Goetz‘ Erzähler, »den widernatürlichsten und schönsten Entwicklungsweg« genommen habe: »immer platter, immer deutlicher, immer zugänglicher«. »Jedes Wort ein Treffer. Jedes Kapitel eine Weltanklage. Und alles zusammen eine totale Weltrevolution bis zur totalen Auslöschung«, so hat Bernhard die Maxime seines Lebens und Schreibens einmal zusammengefasst. Auf Goetz trifft das ebenfalls zu, aber »Johann Holtrop« ist noch mehr. Der Roman verbindet eine bernhardeske Lust am Wüten mit einem unbedingten Erkenntnisauftrag. Es gilt auch weiterhin Satz #1 der Goetzsatzung: Ziel ist das »wirklich wahre Abschreiben der Welt«. Eine Zeit lang nannte man das Pop, vielleicht sollte man aber besser von einem reflektierten Realismus sprechen, der das eigene Sich-Aussetzen, das Eintauchen in fremde Milieus und Diskurse  zum Mittel der Welterfahrung macht.

Im Grunde ist Goetz ein Aufklärer, ein letzter Moralist in einer unmoralischen Welt. »Johann Holtrop« malt das Panorama eines kaputten Systems, in dem Gier und Machtstreben Menschlichkeit und Ratio längst ersetzt haben, und gibt kurzweilige Einblicke in die Psychoarchitektur der Machtelite. Die Handlung setzt kurz nach dem 11. September 2001 ein, der Vorstandsvorsitzende der Assperg AG erreicht gerade den Zenit seiner Macht. Die Menschen in seiner Umgebung verachtet er ebenso sehr, wie diese dem aufstrebenden Holtrop die Anerkennung und den Erfolg missgönnen. Dann geht die Wirtschaft den Bach runter und parallel dazu folgt der sukzessive berufliche und persönliche Abstieg Holtrops bis zur vorübergehenden Einweisung in die Psychiatrie, womit sich gewissermaßen der Kreis schließt zu »Irre«, Goetz‘ gefeiertem Debüt von 1983. Bis es aber soweit ist, kann der Leser sich rund dreihundert Seiten lang an ausufernden Satzungetümen erfreuen, gespickt mir absurd übersteigerten Neologismen, all das wohlgemerkt höchst virtuos inszeniert. Der Goetzkenner kennt das nicht anders, aber doch wird auch er hier nicht selten an Bernhard erinnert werden  – schließlich macht die Lektüre fast genauso viel Spaß.

Rainald Goetz:  »Johann Holtrop«
Rainald Goetz: »Johann Holtrop«

»Johann Holtrop« nennt sich Roman, aber Gattungsangaben dieser Art sind bei Goetz wenn überhaupt als grobe Empfehlung zu verstehen, siehe das Internettagebuch »Abfall für alle«, der »Roman eines Jahres«. Und darum wird in Besprechungen und Rezensionen bereits munter spekuliert, welche realen Personen sich hinter der literarischen Verkleidung verbergen, wer hier wie und warum gedisst wird. So erwartbar, so langweilig. Spannend wird es, wenn man »Johann Holtrop« als Ganzes nimmt, nicht als Beschreibung einer Person, sondern als genuin künstlerische Annäherung an die Mechanismen und Folgen einer Produktions- und Wirtschaftsweise. Und siehe da, realiter die gleiche Undurchsichtigkeit, der gleiche Irrsinn wie in echt. Warum die Personen so handeln wie sie handeln, und wie sie handeln, soll heißen: was sie tun, wissen weder sie selbst noch der Leser. Klar wird nur, dass die schöne neue Welt des Kapitalismus schlussendlich im Chaos versinkt, zusammen mit dem Protagonisten, naturgemäß und verdientermaßen. Aber in der wenig versteckten Genugtuung ob Holtrops Untergang steckt der Haken: Goetz‘ Furor ist der Ohnmacht geschuldet, nichts ausrichten zu können. Es ist nicht der Erzähler, der Holtrop zu Fall bringt, sondern eben jenes System, das ihn erst nach oben gespült hat. Der Gegenwartschronist spuckt Gift und Galle, nicht weil er verachtet, was er zu beschreiben verdammt ist, sondern weil er zusehen muss, wie alles auch weiterhin seinen Lauf nimmt. Keine Illusionen, nur mehr Wut, das ist die bittere Konsequenz. »Mit der Klarheit nimmt die Kälte zu.« Auch so ein Bernhardsatz.

 

Rainald Goetz (geb. 1954) ist promovierter Mediziner und Historiker und ein maßgeblicher Protagonist der so genannten Popliteratur der 80er und 90er Jahre. Zum Werkteil »Schlucht« gehören außer »Johann Holtrop« die Bände »Klage« (2008), »loslabern« (2009), »elfter september 2010« (2010), »D.I.E abstrakte« (2010, zusammen mit Albert Oehlen), »Kapitalistischer Realismus« (2010) sowie »politische fotographie« (2011). »Johann Holtrop« schaffte es auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012.  


Rainald Goetz: »Johann Holtrop«. Suhrkamp: Berlin 2012. 

 

Hat mal Baseball gespielt: Chad Harbach (Foto: Beowulf Sheehan)

Fangen und rennen, werfen und spucken: Baseball ist in Deutschland ein weißer Fleck auf der Sportlandkarte. Umso mutiger erscheint es auf den ersten Blick, dass der Kölner DuMont Verlag in Deutschland einen Sportroman (!) über jene Sportart veröffentlicht.
Doch bereits auf den zweiten Blick lichtet sich der Nebel: Für 665.000 Dollar sicherte sich der Verlag Little, Brown and Company die Rechte an dem Roman »The Art of Fielding« des 37-Jährigen Amerikaners Chad Harbach. 2011 wurde der Debütroman von Harbach in den USA veröffentlicht und eilte fortan von Erfolg zu Erfolg.
Jonathan Franzen, der mit seinem Epos »Freedom« vor einigen Jahren zwar einen größeren, aber immerhin prognostizierbaren Erfolg einfahren konnte, überschüttete den debütierenden Autoren mit Lorbeeren: »Debütromane von solcher Vollkommenheit und Sogkraft sind sehr, sehr selten.«
Und auch John Irving, der Charles Dickens der gegenwärtigen amerikanischen Literatur, ließ es sich nicht nehmen, ein paar warme Worte auf das Cover des Buches drucken zu lassen: »Chad Harbach hat das Spiel für sich entschieden. Wunderbar zu lesen, das reinste Vergnügen.«

Jetzt erscheint der Roman mit dem Titel »Die Kunst des Feldspiels« also in Deutschland und die FAZ ruft: »Willkommen in der Topliga, Junge! Ganz Amerika liest Die Kunst des Feldspiels mit Begeisterung.« Da ist Vorsicht geboten.
Doch tatsächlich: Der Roman hält, was die Lobesworte versprechen. »Die Kunst des Feldspiels“ ist ein brillanter Coming-of-Age-Roman über den Zweifel und das Scheitern, über Drogen, Sex und Sport.
Die Erzählung steht in der Tradition von Salingers »Der Fänger im Roggen«, von »The Great American Novel« von Philip Roth, Don DeLillos »Unterwelt« und dem ersten Teil der Rabbit-Reihe von John Updike.

»Die Kunst des Feldspiels« erzählt die Geschichte von Henry Skrimshander, einem Baseball-Talent, wie es seit vielen Jahren keines mehr gab. Henry ahnt die Flugbahn der Bälle bereits vor dem Abschlag. Er ist ein blasser, unscheinbarer, wortkarger Junge aus der amerikanischen Provinz der aufgrund seiner besonderen Fähigkeit in die Mannschaft des Westish College aufgenommen wird. Durch sein Talent verhilft Henry der Mannschaft zu neuem Glanz und bringt sie gemeinsam mit seinem Kommilitonen und Mentoren Mike Schwartz auf Erfolgskurs. Eines Tages missglückt Henry ein Standardwurf, der ihn und das Westish College aus der Bahn wirft. Henry durchlebt die Abgründe des amerikanischen Traums, wandelt von Selbstzweifeln zu Depressionen zur Selbstaufgabe.  Er – doch nicht nur er – wird im Verlauf seiner Adoleszenz feststellen, dass man nicht alles erreichen kann, obwohl man hart dafür trainiert, dass das Leben anders kommt, als erwartet. Es ist die Antithese des »American Dream« und das Thema eines klassischen Bildungsromans also, was Harbach innerhalb dieser »great american novel« ausleuchtet. Er eifert darin seinen zeitgenössischen Vorbildern Jonathan Franzen und David Foster Wallace nach.

In diesem Buch geht es um die großen Werte des Lebens: Aufrichtigkeit, Treue, Freundschaft, Liebe. Doch artet der Roman niemals in wattebäuschiges Pathos aus. Geschickt verknüpft Harbach die Wege von Mike Schwartz und Owen, des College-Präsidenten Guert Affenlight und dessen Tochter Pella. Der Roman ist fein kombiniert: Motive der ersten Kapitel tauchen am Ende des 600 Seiten starken Romans wieder auf.
Baseball ist das Spielfeld des Buches. Das Spiel ist mit einer heroischen Symbolik aufgeladen, die Last und die Leichtigkeit der Welt sind in diesem Ballspiel verborgen. Doch auch jenen Menschen, denen der Sport und seine Regeln nicht vertraut sind, werden dieses Buch lesen, so wie man als Kind gelesen hat: Seite um Seite, Kapitel für Kapitel – mit der Taschenlampe unter der Bettdecke.

»Die Kunst des Feldspiels«. Aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner und Johann Christoph Maass. DuMont: Köln 2012.

Der Kreis der potenziellen Preisträger wird kleiner. Auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2012, die heute vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels bekannt gegeben wurde, finden sich noch sechs Titel, darunter allein drei des Berliner Suhrkamp Verlags. Auch Wolfgang Herrndorf, der für seinen zu recht gefeierten Roman »Sand« bereits den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat, ist weiter im Rennen.

Der Gewinner wird bei der Preisverleihung zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse am 8. Oktober bekannt gegeben.

 

 

 

 

 

 

Die Nominierten der Shortlist:

• Ernst Augustin: »Robinsons blaues Haus« (C.H.Beck, Januar 2012)

• Wolfgang Herrndorf: »Sand« (Rowohlt.Berlin, November 2011)

• Ursula Krechel: »Landgericht« (Jung und Jung, August 2012)

• Clemens J. Setz: »Indigo«(Suhrkamp, September 2012)

• Stephan Thome: »Fliehkräfte« (Suhrkamp, September 2012)

• Ulf Erdmann Ziegler: »Nichts Weißes« (Suhrkamp, August 2012)

»How dare you?« (Quelle: london.indymedia.com)
»How dare you?« (Quelle: london.indymedia.com)

Donnerstag, 4. August 2011, im Londoner Stadtteil Tottenham. Auf dem Weg nach Hause wurde Mark Duggan von der britischen Polizei erschossen. Umgehend ließ ein Polizeisprecher verlauten, dass der 28-Jährige zuerst das Feuer eröffnet habe. Eine Lüge, wie sich im Nachhinein herausstellte. Duggans Tod war die Initialzündung für die schwersten Unruhen, die das Vereinigte Königreich seit Jahren erlebt hat. Brennende Autos, geplünderte Geschäfte, Polizei auf den Straßen. Für wenige Tage herrschte in der britischen Hauptstadt der Ausnahmezustand, die Staatsgewalt war an ihre Grenzen gestoßen. Doch die Reaktion folgte umgehend: willkürliche Verhaftungen, denen hunderte Menschen zum Opfer fielen, eine massive Zunahme polizeilicher Repression und schließlich Verurteilungen, die nach allen Standards der Rechtsstaatlichkeit eine Farce waren.

Für die bürgerlichen Medien und die politische Führung war die Sache erwartungsgemäß schnell klar: Einhellig wurde ein hartes Durchgreifen gefordert, Politiker und Kommentatoren sprachen den Unruhen jegliche politische Dimension ab. Es handle sich, so der Tenor, schlicht und ergreifend um Akte sinnloser Gewalt, verübt von Kriminellen, die Duggans Tod als Ausrede für ihre Lust an der Destruktion missbrauchten. Beobachter aus dem linken Lager taten sich hingegen schwer, die Ereignisse zu analysieren und einzuordnen. Auf eine Einschätzung folgte die nächste und wiederum die nächste, immer schwankend zwischen Solidarität mit den Aufständischen und Kritik an der Form des Aufstands. Der Sammelband »Wenn die Toten erwachen. Die Riots in England 2011«, erschienen in der Reihe Laika Diskurs, versucht nun einen Überblick über dieses Gewirr von Stimmen zu verschaffen.

»Wenn die Toten erwachen. Die Riots in England 2011«
»Wenn die Toten erwachen. Die Riots in England 2011«

Äußerst heterogen ist dieser Sammelband, und das in vielerlei Hinsicht. Er versammelt Pamphlete, Stellungnahmen und Analysen, geschrieben von Einzelnen oder Gruppen, anonym oder mit Namen versehen. Vieles davon ist lesenswert, anderes uninteressant, weniges ärgerlich. Doch tauchen immer wieder die gleichen Fragen auf: Es geht um die politische Dimension der Aufstände, um die Folgen und Konsequenzen, um die Anschlussfähigkeit linker Politik und das Verhältnis zu den Revolten der Vergangenheit und heute, im Nahen Osten und Nordafrika – Fragen, auf die Texte ganz unterschiedliche Antworten geben. Nur eines scheint sicher zu sein: Die Situation ist »komplexer […], als es der Trommelwirbel aus Angst und Verachtung in den Konzernmedien vermuten ließe«. Aus diesem Grund sind aber eben jene Beiträge besonders bedenkenswert, die diese Komplexität anerkennen, die die Ambiguitäten nicht auflösen und die nicht versuchen, die Ereignisse in ein festes Interpretationsschema zu pressen.

Viele fragen sich: Was wollen die denn? Die Antwort schien zu lauten: Turnschuhe. Was soll daran politisch sein, bei Foot Locker zu klauen?

Diejenigen, die im August 2011 randalierten und plünderten, sehen sich um ihr Glück betrogen und sind nicht so dumm, den alltäglichen Beteuerungen und Beschwichtigungen länger zu glauben. Ihre Gewalt richtete sich aber nicht primär gegen die, die für diese Zustände verantwortlich sind, sondern gegen Menschen, denen es nur unwesentlich besser geht – kleine Ladenbesitzer, Nachbarn und Anwohner. Evan Calder Williams weist in seiner Analyse darum ganz zurecht auf den Umstand hin, dass Opfer und Täter nicht allzu verschieden sind. Außerdem merkt er an, dass die Unruhen eines ganz materialistischen Kern haben, nämlich die Befriedigung von Konsumbedürfnissen. Auch dieser Aspekt wird in den Texten immer wieder aufgegriffen. In eben diesem Sinne sieht etwa Slavoj Žižek in den Protesten eine »ironische Antwort auf die Konsumideologie«:

Ihr ruft uns auf zu konsumieren und nehmt uns zugleich die Mittel, dies zu tun – hier sind wir nun und machen es in der einzigen Weise, die uns bleibt!

Zugleich bemängelt er aber »die Tatsache, dass die Aufständischen kein Programm haben«. Der »Protest am Nullpunkt« bringe »eine authentische Wut zum Ausdruck, die jedoch nicht in der Lage ist, sich in ein positives Programm gesellschaftlichen Wandels zu transformieren«. Es herrsche »der Geist der Revolte ohne Revolution«. Übrigens ist Žižeks Text mit dem Titel eines Smiths-Klassikers überschrieben: »Shoplifters of the World«. Er traut sich nicht hinzuzufügen: »Unite and take over«.

»Wenn die Toten erwachen. Die Riots in England 2011«. Laika: Hamburg 2012. 

 

Glen Duncan

Wie ist das so, der Letzte zu sein? Der Überlebende, der Zurückgebliebene, der Einsame – oder eben: der letzte Werwolf? In seinem dunklen, rasanten Roman »Der letzte Werwolf« wirft Glen Duncan ontologische Fragen auf, immer auf der Spur der Erkenntnis. Doch geht es in der Hauptsache um Widernatürliches: Jake Marlowe ist ein Werwolf, beinahe 200 Jahre alt. Im Alter von 34 Jahren wurde Marlowe bei einem nächtlichen Spaziergang von einem Artgenossen gebissen und altert seit diesem Zeitpunkt nicht mehr. So ist sein Körper agil, stabil und kräftestrotzend, sein Geist ist weise und gelehrt. Eine glorreiche Verbindung, die einer grausamen Wahrheit entspringt: In jeder Vollmondnacht verwandelt sich Marlowe in einen blutdurstigen Werwolf, der Menschen reißt und tötet. Doch ist dieses Monster, dieses Ungetüm des Lebens überdrüssig. Es gibt keine Begeisterung mehr für ihn – nicht für den Blutrausch, nicht für die Drogen, nicht für den Sex und nicht für die Literatur. Die Gedanken an seine vielen Opfer quälen ihn, er badet in Selbstmitleid und übergibt sich den Theorien der deutschen Idealisten, Friedrich Nietzsches und Ludwig Feuerbachs.

Da war der Beginn als Werwolf, wie ein Dorn, an dem ich mich in dieser Sekunde gekratzt hatte. Doch irgendwie lagen zwischen damals und heute fast zweitausend Opfer. Ich dachte an sie in einem Konzentrationslager zusammengepfercht. Meine Eingeweide sind ein Massengrab.

Trotz dieser Lebensmüdigkeit wirft ihn der Anruf seines Verbündeten Harleys zu Beginn des Romans aus der Spur: »Jetzt ist es amtlich. […] Vor zwei Nächten haben sie den Berliner erwischt. Du bist der Letzte.« Ein Jäger macht sich drauf und dran, Marlowe zu erwischen und zu erlegen. Der letzte Werwolf weiß um sein Vermächtnis und er weiß auch, dass er eine Verantwortung trägt. So entwickelt sich diese Erzählung zu einem mystischen Road-Trip, zu einem mitreißenden Thriller. Eine Reise ins Herz der Finsternis – so wie einst Joseph Conrads Charles Marlow.
Mag die Handlung des Romans vordergründig an düstere Fantasy-Erzählungen von H.P. Lovecraft oder Stephen King erinnern, versucht sich Duncans Roman doch eigentlich an einem Bewusstseinsbericht, welcher die Depressionen eines Getriebenen offenbart.

Duncan will den Werwolf-Stoff nicht überhöhen, ihm keine Eleganz einhauchen, daher lässt er seinen Erzähler einen berühmten Vampiren zitieren: »Der Vampir erlangt Unsterblichkeit, immense körperliche Kraft, hypnotische Fähigkeiten, die Fähigkeit zu fliegen, psychische Erhabenheit und emotionale Tiefe. Der Werwolf leidet an Dyslexie und einer permanenten Erektion.«

Sie werden mir das wohl kaum abnehmen, aber ich will nur bis zum nächsten Vollmond am Leben bleiben, damit ein Mann, dessen Vater ich vor vierzig Jahren getötet und gefressen habe, mir den Werwolfschädel abtrennen oder eine Silberkugel ins Werwolfherz jagen kann.

Der Selbstreflexion kann Marlowe nicht entrinnen, sie kennt keine Gnade. Und doch gibt es da mehr als Scotch und billigen Sex, Selbstmitleid und die Schriften toter Philosophen: Schon bald wird der Protagonist neuen Lebensmut schöpfen, der ihn weiter trägt, so, als sei er ein ganz normaler Mensch. »Der letzte Werwolf« ist ein Horror-Roman und – wie alle guten Horror-Romane – ist auch er eine Allegorie auf das, was täglich vor der Haustüre lauert.

Glen Duncan wurde 1965 in Bolton, Lancashire geboren. Er studierte Philosophie und Literatur und arbeitete als Buchhändler. »Der letzte Werwolf« ist Duncans achter Roman. Die Erzählung »I, Lucifer« (2002) wird derzeit mit Ewan Mcgregor, Jason Brescia, Jude Law und Daniel Craig verfilmt.

Glen Duncan: »Der letzte Werwolf«. Aus dem Englischen von Peter Torberg. S. Fischer: Frankfurt am Main 2012.

 

Dominosteine? Auf einer Karte? Nein, das kann nicht sein. Was wir auf den ersten Blick dafür gehalten haben, sind in Wirklichkeit Häuser. Häuser auf einer Karte, die das türkische Dorf Çatal Hüyük im Jahr 6200 vor Christus zeigt. Sie ist Teil eines Wandbildes, das 1963 bei einer Ausgrabung entdeckt worden ist, und das bis heute „älteste erhaltene kartografische Dokument der Welt“. In Heekyoung Kims Buch »Wo geht’s lang? Karten erklären die Welt«, dessen zweite Auflage in diesem Jahr beim Gerstenberg Verlag erschienen ist, darf sie natürlich nicht fehlen.

Sie ist aber nur eine von insgesamt achtzehn Karten, die die koreanische Autorin ausgewählt hat: Das breite Spektrum reicht von polynesischen Stabkarten über einen Stadtplan des antiken Roms, mittelalterliche Karten und Sternkarten bis hin zu U-Bahn-Plänen heutiger Großstädte. Und sogar „sprechende Karten“, die allseits bekannten (und vor allem bei Autofahrern beliebten) Navigationsgeräte, kommen darin vor.

Die mesopotamische Karte von Çatal Hüyük zeigt auch, seit wann Karten und Symbole bereits unverzichtbarer Teil unserer Umwelt sind. Unverzichtbar, um sich im Kleinen, etwa in einem Gebäude oder einer fremden Stadt, und im Großen, zum Beispiel in einem Land, auf einem Kontinent, der ganzen Welt oder gar dem Weltall, zurechtzufinden und zu wissen wo’s langgeht.

Neben dem reinen Informationswert von Karten geht es der Autorin aber auch immer darum zu zeigen, was man an ihnen noch erkennen kann, welche zusätzlichen Informationen in ihnen stecken – so liefern die dargestellten Stadtkarten von Wien, Paris und Seoul beispielsweise auch die vermeintlich einfache, aber elementare Erkenntnis:

Wir Menschen können nicht ohne Wasser leben.

Wie sehr man von seinem eigenen, regionalen Standpunkt ausgeht und geprägt ist, verdeutlichen die abgebildeten koreanischen Weltkarten. Europa ist auf ihnen nur ein kleiner Fleck am linken Rand. Diese asiatische, für uns als Europäer ungewöhnliche Perspektive macht das Buch sehr reizvoll und ist » […] ein wichtiger Gedanke im Rahmen der Globalisierung« – findet die Jury des Deutschen Jugendliteraturpreises. Und wir? Wir drücken die Daumen!

Heekyoung Kim: Wo geht’s lang? Karten erklären die Welt. Aus dem Koreanischen von Hans-Jürgen Zasorowski. 2. Auflage. Gerstenberg: Hildesheim 2012.

In Juli Zehs Roman »Nullzeit« bricht das Unheil in Person eines Touristenpaars herein. Sie hört auf den klangvollen Namen Jolanthe Augusta Sophie von der Pahlen, kurz Jola, und ist Darstellerin in einer Seifenoper mit Ambitionen auf die große Filmkarriere. Er heißt Theodor und schreibt Romane, doch seine einzige Veröffentlichung liegt Jahre zurück. Zusammen machen sie Urlaub auf Lanzarote, wo Jola zur Vorbereitung auf eine Filmrolle das Tauchen lernen will. Es soll ihr Durchbruch werden, und aus diesem Grund engagiert sie den erfahrenen Tauchlehrer Sven, einen Auswanderer, der Deutschland vor nunmehr vierzehn Jahren den Rücken gekehrt hat und der mit Unterstützung seiner Freundin Antje abenteuerlustige Touristen in die Tiefen den Atlantiks führt. Weiterlesen

James Frey (Foto: Terry Richardson)

Nennt ihn, wie Ihr wollt: James Frey hat den Messias, Jesus, den Sohn Gottes zurück auf die Welt geschickt. In seinem Roman »Das letzte Testament der Heiligen Schrift« ist der Schauplatz New York und die Welt eine grausame. An jeder Ecke wird gefixt und gehurt, es wird betrogen, geschlagen, verleumdet und gemordet.
James Frey kennt sich aus in diesem Metier. Mit seiner gefälschten Autobiografie »A million little pieces« hat er vor einigen Jahren nicht nur Amerika genarrt, sondern in der Hauptsache kenntnisreich und pointiert vom Leben außerhalb des Establishments berichtet. Frey erzählt in seinem Debüt von den letzten Zuckungen des Amerikanischen Traumes, von den moralischen Trümmern eines Landes, das um sein Selbstverständnis kämpft. So auch das fesselnde Portrait von Los Angeles, das den Titel »Strahlend schöner Morgen« trägt. Der Autor kombiniert viele eindringliche Geschichten, die in dem gigantischen Moloch an der amerikanischen Westküste spielen.
James Frey ist ein Verführer, der die Wucht seiner Worte gezielt einsetzt, der seine Figuren zappeln und ihnen keine Gnade zuteil kommen lässt.

Er wird wiederkommen. (Apostolisches Glaubensbekenntnis)

Sein jüngster Roman ist für weitere kontroverse Diskussionen geeignet: »Das letzte Testament der Heiligen Schrift« erzählt die Geschichte von Ben Zion Avrohom, der im gegenwärtigen New York aufwächst und so manches Wunder vollbringt. Innerhalb sechzehn Zeugenberichten wird das Leben des charismatischen Heilands beschrieben. Es sind Evangelien, niedergeschrieben von der Stripperin Maria Magdalena, von der Ärztin Alexis, vom Strafverteidiger Peter oder vom Pater Markus.
Sie alle erzählen von der Rettung des Heilands, der ihre Sünden und Bürden auf sich nimmt.
Eine bessere Welt wünschen sich alle der auftretenden Personen und kübeln die Miseren ihres Lebens auf Ben. Lastet das Gewicht auch schwer auf dem Messias: Seine Antwort lautet Liebe. Er schaut den Gepeinigten eindringlich in die Augen, legt seine vernarbte Hand auf ihre Köpfe oder spendet körperliche Anstrengungen: deftigen Sex.
Der Leidensweg von Ben ist ein besonderer: Sein Bruder Jakob missachtet ihn und trachtet Ben nach dem Leben. Eine Sekte vereinnahmt den Heiland und führt ihn in den Dschungel des Tunnelsystems von New York. Die Polizei fahndet nach Ben, während der längst eine Hippie-Kommune in der amerikanischen Provinz aufgezogen hat. Es sind Arrangements der biblischen Leidensgeschichte Jesus, die der Messias im gegenwärtigen New York durchleidet.

Und uns, Brüder, hat er die Verantwortung übertragen, seinen Sohn zu schützen und zu leiten, dieweil er die Botschaft des Evangeliums und das wahre Wort Gottes verkündet, so wie sie in der Bibel geschrieben stehen.

Ben spricht mit Gott – immer dann, wenn er einen epileptischen Anfall erleidet. Er sieht die Zusammenhänge, das große Ganze. Mit Gottes Hilfe kann auf die Menschheitsgeschichte zurückblicken und erkennt in der Bibel nicht das Wort Gottes. Das Rechtssystem, die Staatsmacht nimmt Ben nicht an. Immer wieder erzählt er seinen Jüngern vom Geist der Liebe, von der Macht der Hingabe. Es ist diese grenzenlose, aufopferungsvolle Liebe, die Ben am Ende seines Lebensweges zum Verhängnis wird.
Frey knüpft mit diesem Roman an seine amerikanischen Chroniken an. Er berichtet vom kaputten Leben in den unübersichtlichen Großstädten der verschlissenen Weltmacht: Von oben wird unterdrückt, von unten gekämpft, die Menschen sind gottesfürchtig und doch kriminell. Doch haben sie alle eine gemeinsame Sehnsucht: Sie wollen die Welt durchdringen und Antworten erhalten.
Die Geschichte des niedergekehrten Messias scheint für dieses Vorhaben eine dankbare Basis zu sein. Doch verheddert sich der Roman häufig in larmoyanten Ausschweifungen schwacher Charaktere. Es sind hauptsächlich die harten Geschichten von Maria Magdalena oder dem Junkie Matthäus, die zu überzeugen wissen.
Von dem Glanz und der subtilen Schärfe von »Strahlend schöner Morgen« hat »Das letzte Testament der Heiligen Schrift« nur wenig zu bieten. Zuvorderst geht es in diesem Roman um das Experiment, die Provokation, den Messias in Bordellen und Sekten, im Gefängnis und als Sex-Besessenen abzubilden.

Und er hob mich vom Stuhl hoch, als würde ich nichts wiegen. Und zog mich aus. Und legte mich auf den Tisch. Und leckte und saugte und fickte mich um den Verstand. Direkt neben meinen Drogen.

Die hübsche Idee des Verlags, sämtliche Evangelien von verschiedenen deutschsprachigen Autoren aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen zu lassen, geht dennoch auf: Juli Zeh, Harry Rowohlt, Zoë Jenny oder Steffen Jacobs geben den Erzählungen mit ihren Übersetzungen eine eigenwillige Dynamik. Dem Inhalt können sie damit jedoch nicht auf die Sprünge helfen.

Der Roman „Das letzte Testament der Heiligen Schrift“ von James Frey ist einer der 30 Kandidaten der Hotlist 2012. Jährlich werden von einer unabhängigen Jury die besten Bücher aus unabhängigen Verlagen gekürt. Am 1. September wird das Ergebnis der Publikumswahl und der Juryentscheidung verkündet.

James Frey: »Das letzte Testament der Heiligen Schrift«. Aus dem Amerikanischen von Alexa Henning von Lange, Clemens J. Setz, Tina Uebel, Zoë Jenny, Katja Scholtz, Kristof Magnusson, Charles Lewinsky, Gerd Haffmans, Steffen Jacobs, Klaus Modick, Juli Zeh, Sven Böttcher und Harry Rowohlt. Haffmans & Tolkemitt: Berlin 2012.

Portrait Dirk Reinhardt
Foto: Stefan Haas / Julienne Haas

Ungefähr vier Jahre, die Zeit vom 12. März 1941 bis zum 21. Mai 1945, beschreibt der Protagonist Josef Gerlach, geboren 1927, in seinen Tagebuchaufzeichnungen. Wie viele andere Jugendliche im Rhein-Ruhr-Gebiet gehört er zu den »Edelweißpiraten«. Dirk Reinhardts gleichnamiger Roman ist durch den Tagebuchstil unmittelbar und authentisch. Der Leser kommt Josef, den alle nur „Gerle“ nennen, sehr nah und erlebt vier Jahre Geschichte in zweifacher Art und Weise: in Form von Gerles eigener, persönlicher Geschichte, die ihrerseits wiederum Teil der allgemeinen deutschen Geschichte ist. Durch die Einbettung dieser Tagebuchaufzeichnungen – für die der Autor übrigens auch zeitgenössische Tagebucheinträge herangezogen hat – in eine Rahmenhandlung, schlägt Reinhardt gekonnt eine Brücke zur heutigen Zeit und bringt nebenbei auch noch ein Geheimnis ins Spiel, das den Roman bis zum Ende spannend macht.

Weil die Jugend von Gerle und seinen Freunden in die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkriegs fällt, ist sie alles andere als unbeschwert. Gerle, der in dem Kölner Arbeiterviertel Ehrenfeld lebt, ist zu Beginn der Aufzeichnungen 14 Jahre alt. Er ist am Ende seiner Schulzeit – und seiner Zeit in der Hitlerjugend angelangt. Keine drei Wochen nach dem ersten Eintrag treten er und sein bester Freund Tom aus der nationalsozialistischen Jugendorganisation aus. Dass dieser Austritt nicht ohne Folgen bleibt, merken sie schnell, etwa bei der Suche nach einer Lehrstelle, die länger dauert und beschwerlicher ist als bei ihren Altersgenossen, die Mitglied der HJ sind. Kurze Zeit später schließen sie sich einer Gruppe von oppositionellen Jugendlichen an, den Edelweißpiraten.

Irgendwie gefallen mir diese Typen am Neptunbad. Sie senken ihre Stimme nicht, wenn sie reden. Sie sehen einem in die Augen und nicht zu Boden. Sie albern rum und haben Spaß dabei. Sie tragen bunte Klamotten, nicht das ewige Braun wie in der HJ, nicht wie die vielen grauen Mäuse, die über die Straße laufen. Sie wirken irgendwie ungezwungen und – frei. Ja, ich glaub, das ist das richtige Wort. Sie wirken frei.

Und weil die Institutionen des NS-Regimes ihnen diese Freiheit nehmen wollen, legen sie sich mit ihnen an. Ihre Aktionen werden nach und nach politischer, einer der Höhepunkte ist eine einzigartige Flugblattaktion am Kölner Hauptbahnhof, die sich in diesem Monat zum siebzigsten Mal jährt. Damals führt sie dazu, dass die Edelweißpiraten endgültig ins Visier der Gestapo geraten, man sie verfolgt, verhaftet und foltert. Daneben erleben Gerle und die anderen Jugendlichen aber auch das, was zu einer ganz „normalen“ Jugend dazugehört – Freundschaften, die erste große Liebe, Musik – und das macht den Roman so reizvoll.

Cover EdelweißpiratenBis man die Edelweißpiraten als Widerstandskämpfer anerkannt hat, hat es lange gedauert. Im Nachwort erklärt Reinhardt, der auch Historiker ist, dass sie noch bis in die 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts als Kleinkriminelle oder Unruhestifter galten. Er vermutet den Grund für diese Einschätzung vor allem darin, dass die deutsche Nachkriegsgesellschaft diesen Widerstand von „unten“ nicht sehen wollte, nicht wahrhaben wollte, dass auch „der kleine Mann von der Straße“ Widerstand leisten konnte, wenn er wollte, um so vielleicht einer Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im „Dritten Reich“ zu entgehen.

Dirk Reinhardt: Edelweißpiraten. Aufbau Verlag: Berlin 2012. Ab 12 Jahren.

Der Autor im Interview mit dem Westdeutschen Rundfunk.

 

Die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012 steht fest. Unter den zwanzig Nominierten finden sich sowohl Newcomer wie Olga Grjasnowa, die mit »Der Russe ist einer, der Birken liebt« für Furore sorgte, als auch alte Bekannte, unter anderem Rainald Goetz, dessen neuer Roman »Johann Holtrop« im Spätsommer erscheinen wird, und Clemens J. Setz, der bereits im vergangenen Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse gewann. Insgsamt zeichne sich die diesjährige Longlist durch eine verblüffende »Welthaltigkeit« aus, so Jury-Sprecher Andreas Isenschmid: »Kaum eine Dimension, die nicht vorkommt: die große Liebe und der avancierteste Kapitalismus, die Erfahrung des Heiligen so gut wie Schocks der Kälte und Einsamkeit. Unsere zwanzig besten Romane greifen aus: in den Jemen, nach Nordafrika, nach Polen und nach Argentinien, ins gänzlich Imaginierte sowieso.«

Die Shortlist mit verbleibenden sechs Titeln wird am 12. September bekannt gegeben, der Gewinner bei der Preisverleihung zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse am 8. Oktober.

Die Longlist des Deutschen Buchpreises 2012:

• Ernst Augustin: Robinsons blaues Haus (C. H. Beck, Januar 2012)

• Bernd Cailloux: Gutgeschriebene Verluste (Suhrkamp, Februar 2012)

• Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend (Knaus, September 2012)

• Milena Michiko Flašar: Ich nannte ihn Krawatte (Wagenbach, Ja-nuar 2012)

• Rainald Goetz: Johann Holtrop (Suhrkamp, September 2012)

• Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt (Hanser, Februar 2012)

• Wolfgang Herrndorf: Sand (Rowohlt.Berlin, November 2011)

• Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben Zügen (Frankfurter Verlags-anstalt, September 2012)

• Germán Kratochwil: Scherbengericht (Picus, Februar 2012)

• Ursula Krechel: Landgericht (Jung und Jung, August 2012)

• Dea Loher: Bugatti taucht auf (Wallstein, März 2012)

• Angelika Meier: Heimlich, heimlich mich vergiss (Diaphanes, März 2012)

• Sten Nadolny: Weitlings Sommerfrische (Piper, Mai 2012)

• Christoph Peters: Wir in Kahlenbeck (Luchterhand, August 2012)

• Michael Roes: die Laute (Matthes & Seitz Berlin, September 2012)

• Patrick Roth: Sunrise (Wallstein, März 2012)

• Frank Schulz: Onno Viets und der Irre vom Kiez (Galiani Berlin, Februar 2012)

• Clemens J. Setz: Indigo (Suhrkamp, September 2012)

• Stephan Thome: Fliehkräfte (Suhrkamp, September 2012)

• Ulf Erdmann Ziegler: Nichts Weißes (Suhrkamp, August 2012)

Update 22.08.2012: Einen schönen und informativen Überblick über die die nominierten Titel inklusive Kurzvorstellung gibt es hier.