Der Debütroman »Gegen die Welt« von Jan Brandt erzählt die Geschichte des Antihelden Daniel Kuper, der im Sturmlauf gegen ein Dorf anrennt, das in einem der Höllenkreise Dantes seine Entsprechung finden könnte.
Doch ist das Dorf Jericho, in dem sich die Rahmenhandlung des über 900 Seiten starken Buches abspielt, ein klarer Verweis auf jenes Jericho, das im Buch Josua von den Israeliten eingenommen und zerstört wird. Das biblische Jericho also sinnstiftend für das fiktive nordfriesische Jericho. Doch statt dem Einsturz der Stadtmauern wird hier der Sturz eines jungen Menschen evoziert und das nicht etwa von einer feindlichen Invasion, sondern von der Familie, der Stadtgemeinschaft, vom direkten Umfeld. Daniel Kuper bricht an der Selbstsucht, am Unvermögen, an der Dummheit seiner unmittelbaren Umgebung.
»Gegen die Welt« ist eine moderne Hiob-Geschichte. Doch kennt sie kein glückliches Ende.

»Gott wird dich nicht so einfach gehen lassen«, brüllte er, mit der Linken hielt er Daniel am Kragen fest, mit der Rechten ohrfeigte er ihn noch einmal. »Nicht, bis du Buße getan und ihn um Vergebung gebeten hast.«

Jan Brandt wurde 1974 in Leer geboren, eine jener nordfriesischen Städte, auf deren Koordinaten dieses fiktive Jericho gepflanzt wurde. In Anlehnung an Uwe Johnsons »Mutmassungen über Jakob«, das in einem Dorf namens Jerichow spielt, entwickelt Brandt eine Welt voller Niedertracht und Leugnung, Versagensängsten, Verzweiflung und Wut.

Virtuos spielt Brandt mit typografischen Elementen, mit Perspektiven und Erzählfiguren. Diese Stilmittel sind essentiell für die Geschichte, für den Leser. Manchmal rauscht dieser atemlos durch den Roman. Manchmal stockt die Erzählung, weil der geschilderte Ausschnitt aufs Äußerste gespannt wird. So etwa die Schilderung des Todes eines Mitschülers von Daniel Kuper. Der Roman teilt sich hier auf, in oben und unten. Oben wird die Geschichte überspannter Jugendlicher erzählt, die in ihrer Langeweile zergehen, an den unsichtbaren Stadtmauern Jerichos verzweifeln und ihre einhergehende Wut, ihren unaussprechlichen Frust aufeinander projizieren. Unten, da wird die Geschichte des Lokführers erzählt, der den Jungen bald überfahren wird.

Der Tod spielt in »Gegen die Welt« eine zentrale Rolle. Alle begegnen sie ihm. Immer wieder. Doch wird er niemals in Frage gestellt, niemals thematisiert. Nur Daniel Kuper scheint die Schuldfrage zu stellen. Doch gibt es für die Bürger Jerichos nur einen Makel: den Protagonisten. Ob nun der Dorfpfarrer den Jugendlichen verprügelt, der Chefredakteur der Lokalnachrichten den Praktikanten verstummen lässt oder sich der Vater illoyal seinem Sohn gegenüber verhält – immer wieder ist es Daniel, der für die Schwächen und Fehlbarkeiten der vermeintlich Stärkeren büßen muss. Wenn sie auch nicht viel gemein haben, so vereint in diesem Dorf doch Niedertracht alle auftretenden Personen.

Jan Brandt (© Dumont Buchverlag)

Schon bald stellt der Leser fest, dass die hierarchische Struktur dieser Gemeinde nicht aufgebrochen werden kann. Der angehende Bürgermeister zitiert bei einer beängstigenden Wahlkampfveranstaltung unverhohlen Passagen aus Hitlers »Mein Kampf«. Daniel Kuper erkennt dies, stellt jedoch bald fest, dass die Einwohner Jerichos kein Interesse an seiner Erkenntnis haben. Sie registrieren nur das, was sie registrieren wollen. Moral spielt für sie keine Rolle, Treue und Aufrichtigkeit auch nicht.

Von da an war Daniel der Spinner. Alle behaupteten, er behauptete, von Außerirdischen entführt und im Mais wieder abgesetzt worden zu sein. Dabei war er unfähig, über das, was tatsächlich passiert war, zu sprechen.

So kann „Gegen die Welt“ als ein Generationenroman gelesen werden. Als eine Bestandsaufnahme von Befindlichkeiten der Menschen, die in den tiefen 70ern irgendwo in Deutschland aufgewachsen sind. Niemals pathetisch, aber immer detailfreudig erzählt Brandt von einem dumpfen Landleben, von Isolation und Wut, sodass dies auch die Geschichte eines Großstadtlebens sein könnte. Der Autor lässt offen, ob es sich hierbei um einen Schlüsselroman handelt. Doch ist sein Erzähler so unzuverlässig, dass die Grenzen zwischen tatsächlich Erlebtem, Erdachtem und Verhandelbarem irgendwo zwischen Science Fiction, Heavy Metal und Theologie-Exzessen verschwimmt.

»Gegen die Welt« ist eine grandiose Kapitulation, ein Manifest des Scheiterns. Dieser Roman kennt viele Wahrheiten, jede Perspektive hat seine eigene, doch ist keine zur Vollständigkeit verpflichtet.
Am Ende gleicht die Geschichte einem Trümmerhaufen. Wracks, Ruinen, Schutt – es sind bloß Menschen.

Jan Brandt: »Gegen die Welt«. Dumont Buchverlag: Köln 2011.
Jan Brandt im Interview.

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