Stefan aus dem Siepen (Foto: Bernd Schumacher)
Stefan aus dem Siepen (Foto: Bernd Schumacher)

Ein Bauer findet am Dorfrand das Ende eines Seils. Wo kommt es her? Wo führt es hin? Stefan aus dem Siepen erzählt in seiner düsteren Novelle »Das Seil« von einem Bauerndorf, das in seinen Grundfesten erschüttert wird.
Umgeben von dichten Bäumen, inmitten eines dunklen Waldes, grübelt eine Dorfgemeinschaft über ein Seil, dessen scheinbares Ende der Bauer Bernhardt gefunden hat. Das Seil kommt aus dem Wald und sein Ende ist nicht in Sicht. Die Männer des Dorfes machen sich auf den Weg, um dieses seltsame Geheimnis zu ergründen. Während sich die Frauen um die Ernte kümmern, das Dorf am Leben erhalten, verfallen die Wanderer einer Obsession: Sie werden getrieben von diesem Seil, das sie durch den dichten Wald führt und führt und führt. Diese Männer sind Getriebene, sie verlieren sich während ihrer Reise in Maßlosigkeit und verfallen der Barbarei.

Auf dem Boden lag ein Seil – nichts weiter.

Die Ausgangssituation der Novelle ist eine vielversprechende, schließlich wird der Mensch und sein Instinkt befragt. Ein Rätsel wird ausgelegt, für das es keine Erklärung zu geben scheint.
Stefan aus dem Siepen entwickelt in seiner beklemmenden Parabel einen Psychologismus, der allzu leicht zu durchschauen ist: Wann ist ein Ziel ein Ziel? Welche Kraft darf aufgewendet werden? Wann ist man gescheitert? Das allzu menschliche Streben nach Erkenntnis wird von Stefan aus dem Siepen in die Waagschale geworfen und geprüft.

Die Bauern waren glücklich. Immer wieder schauten sie nach vorn ins dunkelhelle Dickicht, konnten nicht genug bekommen vom Anblick des Seils, das mal deutlich sichtbar in der Sonne schimmerte, mal zwischen den mürben Brauntönen des Laubes verschwand.

Rasant ist diese Erzählung – und auch spannend. Die auftretenden Personen sind geschickt konstruiert, sie ermöglichen der Parabel viele verschiedene Wendungen.
Der Lehrer Rauk etwa, der mit seinen Hunden Thor und Hetzer die Gruppe anführt, entpuppt sich als charismatischer Verführer, der mit rhetorischem Geschick den Willen seiner Gefolgschaft manipuliert. Es treten Narzisse auf, dumpfe Kraftprotze, sensible Schöngeister. Sie alle wirft aus dem Siepen in seiner Erzählung zusammen. So wird »Das Seil« zu einem Schauplatz des Allzumenschlichen. Mit geradezu biblischer Schwere führt der Erzähler von Analogie zu Analogie und entwirft ontologische Fragen, deren Offensichtlichkeit im Laufe der Novelle schon bald aufdringlich wird.

So schlecht ist die Welt nicht eingerichtet, dass eine große redliche Anstrengung, wie wir sie erbringen, ohne ihren gerechten Lohn bleiben kann. Es darf daher nur eine Losung geben: Weiter! Immer weiter! Bis zum Ziel!

Die Auflösung des Rätsels ist logisch und unweigerlich. Bis zu Letzt spannt Stefan aus dem Siepen ein Netz aus Trieb, Intrigen, Gewalt, Niedertracht und Gelüsten. Düster geht es in »Das Seil« zu, unheimlich. Doch ist der Nachgeschmack kein guter. Das Problem ist: Die Moral von der Geschichte.

 

Stefan aus dem Siepen: Das Seil. Deutscher Taschenbuch Verlag: München 2012.

derrusseisteiner

Ein Debütroman ist immer etwas Besonderes, oft blitzt hier am meisten das literarische Genie des Autors hervor und zeigt auf, in welche Richtungen es sich entfalten kann.
Doch selbst unter Erstlingswerken sticht Olga Grjasnowas Roman hervor: Schon der Titel besticht durch seine  außergewöhnliche Länge (übrigens ein Zitat aus Anton Tschechows »Die drei Schwestern«), dieses Außergewöhnliche wird auch das ganze Buch über beibehalten, Grjasnowa zeichnet ein schwermütiges Bild des Lebens, sie gibt den Blick frei auf die Themen Freiheit und Tod, Abschied und Vergessen. Weiterlesen

Großbritannien im Jahr 2071: In London grassiert ein Nano-Virus, der unschuldige junge Mädchen in vampireske Cyborgs verwandelt, so genannte »Puppen«, deren Reizen die Männer reihum verfallen. »Puppen-Junkies« lautet die abfällige Bezeichnung für jene »Verräter an der Rasse«, die sich mit den »toten Mädchen« einlassen und den Virus dadurch weiter verbreiten. Aus Angst um den Fortbestand der Spezies Mensch formiert sich eine fanatische »Reinheitsfront«, die schon bald von der unter Zwang angewandten »medizinischen Behandlung« der »toten Mädchen« zum eiskalt geplanten und ausgeführten Mord übergeht. Doch es regt sich Widerstand, denn die »Puppen« wollen sich dem grausamen Schicksal, dass die Menschen ihnen zugedacht haben, nicht kampflos ergeben, zumal ihre Verwandlung sie mit enormen Kräften und übermenschlichen Fähigkeiten ausstattet. Eine hungrige Vagina dentata ist da noch die geringste Gefahr für die vornehmlich männliche Menschenwelt. Weiterlesen

Hans-Joachim Gelberg (Foto: Alexa Gelberg)

»Wo kommen die Worte her?«, fragte Luise Kaschnitz 1962 in »Ein Gedicht«. Der Autor und Verleger Hans-Joachim Gelberg hat diese Frage über 100 Autoren mit auf den Weg gegeben, als er sie zur Mitarbeit an seiner nunmehr fünften, nach der Verszeile aus Kaschnitz‘ Gedicht benannten Lyrikanthologie eingeladen hat. Im April ist die zweite Auflage erschienen.

Die verschiedenen Antworten, die er darauf bekommen hat, ziehen sich wie ein roter Faden durch die von ihm herausgegebene Gedichtsammlung: Eine, die von Frantz Wittkamp, hat uns besonders gut gefallen:

Weißt du nicht, wo ein Wort entsteht?
Im Buchstabengarten, im Alpha-Beet.

Neben allerlei Sprachspielereien wie dieser bietet die Anthologie ABC-Gedichte, Verse die wir alle noch aus unserer eigenen Kindheit kennen, visuelle Poesie, Rätsel in Gedichtform, Humorvolles, Philosophisches, aber auch Ernsthaftes. Dazu zählt etwa das Gedicht »Ein Koffer spricht«, das Ilse Weber vor ihrer Deportation von Theresienstadt nach Auschwitz verfasst hat.

Die Welt der Wörter steht im Fokus, es geht darum was wir mit Worten machen und was Worte mit uns machen, so wie es Max Kruse beschreibt:

Worte können dich betören,
lügen, prahlen oder schwören,
dich in tiefstem Schmerz ertränken
und die höchsten Freuden schenken.

Auch ältere Gedichte aus dem frühen 19. Jahrhundert sind neben den eigens für die Anthologie verfassten Beiträgen von bekannten und weniger bekannten Autoren zu finden. Im Ganzen liegt der Schwerpunkt jedoch auf Texten aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Zu den insgesamt über 150 Autoren zählen bekannte (Kinder-) Lyriker und Schriftsteller wie Josef Guggenmos, James Krüss, Bertolt Brecht, Joachim Ringelnatz, Christian Morgenstern, Christine Nöstlinger und Paul Maar, um nur einige von ihnen zu nennen.

Allerdings sollten nicht nur die Worte, sondern auch die Bilder erwähnt werden, die eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Gelberg hat Künstler wie Rotraut Susanne Berner, Axel Scheffler, Nikolaus Heidelbach und viele mehr für sein Projekt gewinnen können. So sind tolle Illustrationen entstanden, Illustrationen, die eine gekonnte Verbindung zwischen Text und Bild herstellen.

Die Gedichtsammlung ist vielfältig: Sie macht vor allem Spaß, zuweilen aber auch nachdenklich, sie bringt uns oft zum Lachen, manchmal aber auch zum Innehalten. Sie macht auf die unglaubliche Vielfalt von Sprache aufmerksam. Der Untertitel, übrigens eine Idee von Gelbergs Enkelin Elisa, trifft den Nagel auf den Kopf: »Gedichte und Bilder aller Art« für Kinder – und Erwachsene!

Zum Schluss noch ein Vers von Frantz Wittkamp:

Der Letzte macht das Gedicht aus.

Hans-Joachim Gelberg (Hrsg.): Wo kommen die Worte her. Neue Gedichte für Kinder und Erwachsene. Gedichte und Bilder aller Art. 2. Auflage. Beltz & Gelberg: Weinheim u.a. 2012

Maurice Sendak (Foto: John Dugdale)
Maurice Sendak (Foto: John Dugdale)

Im Mai dieses Jahres verstarb der Illustrator und Kinderbuchautor Maurice Sendak. Sein weltberühmtes Buch »Wo die wilden Kerle wohnen« war die erste Begegnung vieler Menschen mit Literatur. Unsere Autorin Franziska Vorhagen hat einen Nachruf geschrieben.

Als »Wo die wilden Kerle wohnen«, Sendaks bis heute populärstes Bilderbuch, 1963 in Amerika erschien, stieß es auf viel Kritik. Neben dem gegenständlichen Zeichenstil – Sendak zählte Ludwig Richter, Wilhelm Busch und Heinrich Hoffmann zu seinen Vorbilder –, der nicht der zeitgemäßen Ästhetik entsprach, war es vor allem der Inhalt, an dem man Anstoß nahm. Man empfand das Bilderbuch als zu gewalttätig für Kinder, geht es in der Geschichte doch wenig zimperlich zu:

Die wilden Kerle brüllten ihr fürchterliches Brüllen und fletschten ihre fürchterlichen Zähne und rollten ihre fürchterlichen Augen und zeigten ihre fürchterlichen Krallen.

Und dennoch schaffte Sendak mit diesem Bilderbuch seinen Durchbruch, auch international. 1967 erschien die deutsche Übersetzung beim Diogenes Verlag, der das Buch auch heute noch verlegt. Man hatte wohl erkannt, dass das Gewaltsame in Sendaks Geschichten nicht Selbstzweck ist, sondern es vielmehr um die Stärkung der kindlichen Persönlichkeit geht.
Da gibt es zum Beispiel Max, den Protagonisten. Im Traum segelt er dorthin, wo die wilden Kerle wohnen. Mit ihrem kämpferischen Gebaren können sie ihn nicht einschüchtern. Er schaut ihnen einfach so lange in die Augen (ohne dabei zu blinzeln, das ist der Trick!)  bis sie ihn, davon schwer beeindruckt, »den wildesten Kerl von allen« nennen, zu ihrem König ernennen und gemeinsam mit ihm eine gute Zeit verbringen.

Ich glaube nicht daran, dass man Kindern dies sagen darf, jenes aber nicht. Man soll ihnen alles sagen.

Sendak war der unpopulären Meinung, Kindern keine eigens für sie gestaltete, beschönigte Welt zu zeigen, sondern plädierte dafür, Kindern stets die Wahrheit zu sagen, ihnen nichts vorzuenthalten, weil sie früher oder später sowieso mit der Wirklichkeit konfrontiert werden würden. Eine Überzeugung, die sich in der Kinder- und Jugendliteratur erst in den 1970er Jahren auf breiter Ebene durchsetzen sollte.

Seine eigene Kindheit verbrachte der Sohn polnisch-jüdischer Immigranten zusammen mit zwei Geschwistern im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Schon als Kind soll er den Wunsch gehabt haben, Buchillustrator zu werden. Mit zwanzig Jahren fing er im New Yorker Spielzeugladen F.A.O. Schwarz als Schaufensterdekorateur an. Der Bucheinkäufer des Ladens stellte den Kontakt zu Ursula Nordstrom her, die Lektorin beim Verlag Harper & Row war und ihm seine ersten Aufträge verschaffte. Bevor 1956 »Kenny‘s window«,  sein erstes eigenes Kinderbuch, erschien, illustrierte Sendak Bücher anderer Autoren. Er war außerordentlich produktiv, sein Gesamtwerk beläuft sich auf über einhundert Bücher, die von den 1950er Jahren an bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts erschienen und für die er mit zahlreichen Preisen geehrt wurde – unter ihnen der Hans-Christian-Andersen-Preis (1970) und der Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis (2003).

Maurice Sendak, einer der bedeutendsten Kinderbuchautoren und -illustratoren des 20. Jahrhunderts, ist am 8. Mai in Danbury, Conneticut gestorben. Er wurde 83 Jahre alt.

Leif Randt veröffentlichte im August 2011 seinen zweiten Roman »Schimmernder Dunst über CobyCounty«, für den er im Juni mit dem Düsseldorfer Literaturpreis 2012 ausgezeichnet wird. Der Roman erzählt von einer Stadt am Meer, in der für Bewohner und Touristen ein sorgenfreies Leben möglich scheint. Es handele sich um einen »epochalen Generationenroman« schrieb die FAZ über diese milde Utopie, unter deren Oberfläche der Schrecken lauert.

Der Autor im Interview über Gymnasiallehrer, Rapmusik und erhabene Traurigkeit.

Lieber Leif Randt, fahren Sie gerne mit der Mitfahrgelegenheit?

Ich bin Zugfahrer. Meine letzte Mitfahrgelegenheit habe ich 2005 genommen. Ich habe diese Fahrt aber noch in guter Erinnerung. Es saßen vier junge Männer zusammen in einem Nissan. Drei Hessen und ein Südamerikaner. Es war Sommer. Wir sprachen von Grillpartys und Vietnamreisen.

Ihre Kurzgeschichte »Spätsommer 2010« spielt in einem Auto und auf einer Raststätte. Es passiert nicht viel, doch fühlt man sich nach dem Lesen seltsam leer und stumpf. Wie entgeht man der Falle, ein Misanthrop zu werden?

Durch Sport und guten Tee. Früher hatte ich öfter misanthropische Phasen. Heute kommt es mir so vor, als würde meine Herzlichkeit mit jeder Woche wachsen. Vor ein paar Tagen suchte ich nach einer Lesung gezielt das Gespräch mit jemandem aus dem Publikum, der meinen Text und meine Art darüber zu reden, deutlich kritisiert hatte. Ich hatte ihn vom Podium aus noch geschnitten. Später wollte ich das angetrunken versöhnen. Der Typ war Germanist und Gymnasiallehrer. Er sagte: »Wenn ich abends Rilkes Prosaminiaturen lese, brauche ich kein Bier.«

Ha – mein Deutschlehrer war ebenfalls Rilke-Enthusiast. Trauriger Charakter, so ca. »Der Panther«. Warum war dieser Lehrer bei Ihrer Lesung? Um zu prüfen, ob »Schimmernder Dunst über CobyCounty« das Zeug zur Schullektüre hat? Würden Sie das überhaupt zulassen?

Ich fände CobyCounty als Schullektüre fantastisch. Das könnte mal so ein leicht staubiger und kaum nachvollziehbarer Text aus einer alten Zeit werden.

In Ihren Geschichten erliegen die Protagonisten einem inneren Zwang der permanenten Selbstreflektion. In Ihrem Debüt-Roman »Leuchtspielhaus« ist es Eric, in »Schimmernder Dunst über CobyCounty« Wim. Was ist das Verführerische an stetiger Selbstkontrolle?

Ich glaube, man kann sich das nur bedingt aussuchen. Wenn man reflektieren kann, sollte man das tun. Es muss ja nichts Verbissenes haben. Man darf sich nur nicht zu viel Input in Form von Meinungstexten zuführen. Ich lese in den letzten Monaten etwas mehr Zeitung. Ich glaube, das bekommt mir nicht.

Ihre Hauptfiguren lachen selten. Ist das Lachen etwa ein Zeichen mangelnder Selbstkontrolle und vielleicht sogar ordinär?

Das ist ein guter Hinweis. Eric und Wim lachen beide selten. Aber Eric ist ja auch eher eine schüchterne Kamera als ein echter Junge. Wim verfügt über eine erhabene Traurigkeit, da wäre Gelächter unpassend. Ich denke, dass in meinem nächsten Buch mehr gelacht werden wird. Ich lache selbst auch gar nicht so selten, wie manche unterstellen … das waren schon immer Leute, mit denen ich nichts anfangen konnte, Leute, die zu mir kamen und fragten: »Lächelst du denn auch mal?« Übergriffige, unangenehme Menschen, die sich außerdem irren.

Haben Krankheit und Tod Platz in einer Stadt wie CobyCounty? Oder werden sie bloß verschwiegen?

Es gibt im Buch einen Satz über Beerdigungen: »Wenn ein Bewohner von CobyCounty stirbt, gibt es meistens ein Fest, auf dem zuerst geweint und später frenetisch getanzt wird. Aber wenn man verlassen wird, gibt es nur gewöhnliche Strandpartys (…)« Das ist Seite 69. Krankheiten gibt es nicht so viele, weil die Leute sich bewusst ernähren und Freude am Sport haben. Allerdings trinken sie viel und nehmen Drogen. Aber das Trinken und Drogennehmen passt zu ihrem Lebensgefühl, es lockert sie auf und führt psychologisch zu einer Befreiung. Das Positive überwiegt, deshalb schadet es ihnen nicht.

Thomas Bernhard schreibt in seinem Buch »Der Untergeher«: »Lange vorausberechneter Selbstmord, dachte ich, kein spontaner Akt von Verzweiflung.« Wäre das etwas für Wim?

Wenn er sich umbringen wollen würde, dann ja. Das wäre auch eine Formulierung für ihn. Aber Wim will sich nicht umbringen. Auf gar keinen Fall. Er mag schwermütig sein, aber er ist nicht depressiv.

Der Schriftsteller Jan Brandt erklärte uns, »dass sich dort, wo immer Menschen sind, Abgründe auftun.« Sind die Abgründe in CobyCounty tief?

Ich schätze, dass sie weniger tief sind als die in Frankfurt am Main. In CobyCounty sind sie teils mit feinem Sand zugeschüttet. Jan Brandt äußert viele präzise Sätze über sein Buch und das Erzählen. Einen wollte ich neulich zitieren: »Bücher, die mir die Welt erklären wollen, sind keine Literatur, sondern Propaganda.« Kurz darauf dachte ich dann aber, dass ich selbst jetzt auch in eine propagandistischere Richtung gehen könnte.

Wie könnte diese propagandistische Richtung aussehen? Können sich Schriftsteller nach dem »Fall Christian Kracht« so etwas überhaupt noch trauen?

Eines Tages möchte ich einen Ratgeber über die Liebe schreiben. Voller klarer Anweisungen, wie man zu lieben hat. Die Geste wäre: Folgt mir und lernt das Glück.

CobyCounty ist ein Ort, den der Leser zu kennen glaubt. Doch bei aller Vertrautheit erscheint er ihm auch irreal und fremd. CobyCounty ist frei von Konflikten und Katastrophen – ist es ein utopischer Ort, oder kann es ihn wirklich geben?

Vielleicht nicht in dieser Größe. Aber einzelne Straßenzüge oder Viertel können vorübergehend so sein. Oder auch ganze Lebensphasen. Ich glaube, viele Menschen erleben CobyCounty-Jahre.

Slavoj Žižek schreibt, dass der Kapitalismus einen wahrhaft utopischen Kern habe, der in der Idee besteht, dass sich die  negativen Seiten der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, zum Beispiel Ausbeutung, Armut und Hunger, in Zukunft beheben lassen. Ist CobyCounty die literarisierte Version dieses utopischen Kerns des Kapitalismus und erscheint es uns vielleicht deshalb so vertraut und fremd gleichermaßen?

Das klingt gut und stimmig. Ich würde eigentlich »Ja!« dazu sagen, habe aber trotzdem das Gefühl, dass Wim der Sache nicht zu Hundertprozent traut. Er ist CobyCounty-zentristisch erzogen worden, trotzdem ahnt er, dass es auf der Welt auch anderes geben könnte. Da glimmt ein Unbehagen in ihm, deshalb muss er sie sich sein Leben immer wieder erklären. Er hat ein latent schlechtes Gewissen. Dabei bräuchte Wim das gar nicht zu haben. CobyCounty schont die Ressourcen und beutet niemanden aus.

Das Cover des in den Feuilletons des Landes bejubelten Albums »DMD KIU LIDT« von Ja, Panik ist ein Spiegel, ähnlich dem, der »Schimmernder Dunst über CobyCounty“ ziert. Ist es die Aufforderung an den Leser, sich in Ihrem Buch selbst zu spiegeln?

Wahrscheinlich ist das die Aufforderung, aber das kann man ja nicht von allen verlangen. So schön das Cover ist, inhaltlich ist es eine halbe Bevormundung. Für viele ist CobyCounty ja nur fremd. Die können sich dann auch nicht spiegeln und auch nicht so viel Spaß an dem Buch finden. Sie verstehen es nicht. Und ich verstehe diese Leser nicht. Und dann sitzt man sich gegenüber und versteht sich nicht.

Neulich, bei einer Lesung von Christian Kracht, war ich kurzzeitig davon überzeugt, dass die Rezeption von Literatur abhängig von ihrer Inszenierung ist. Der Zauber kann verfliegen, wenn der Autor vor Publikum aus seinen eigenen Büchern liest. Haben Sie Erwartungshaltungen an sich selbst, wenn Sie vor Publikum lesen?

Ich mag Lesungen gern. Sie dürfen nur nicht zu lang sein. Ich versuche, mir selbst dabei zuzuhören. Manchmal fallen mir dann beim Vorlesen neue Sachen auf, die ich schlimm finde oder lustig. Die eigene Vorlesestimmung überträgt sich auf das Publikum. Man kann das nicht wirklich planen.

Während einer Lesung in Frankfurt sprachen Sie kürzlich über Popmusik und dass diese in der Hauptsache von »broken hearts« handelt. Kann man der Popmusik überdrüssig werden?

In meinem Text »Von der Flüssigkeit Magnon« habe ich geschrieben: »Im Licht der Straßenlaternen stapelt sich frisches Herbstlaub, und das Radio spielt aktuelle Popmusik, in der es um Liebe oder gebrochene Herzen geht, aber niemals um Aufbruch. Radio-Popmusik ist ein Musikstil, mit dem Jerome wohl niemals etwas anfangen konnte, der ihn nie interessierte, den er vielleicht auch nie wirklich kennengelernt hat.« Jerome hat immer nur Rapmusik gehört, die »die glaubhaft von dem Aufbruch in ein besseres Leben erzählt«. Ich kann ihn gut verstehen, aber ich halte es selbst nicht so wie Jerome. Beim Autofahren trommle ich zum Hit-Radio auf dem Lenkrad rum.

Leif Randt wurde 1983 in Frankfurt am Main geboren. Er ist freier Schriftsteller und lebt in Maintal und Berlin. Für seinen zweiten Roman »Schimmernder Dunst über CobyCounty« wurde er unter anderem mit dem Düsseldorfer Literaturpreis 2012 ausgezeichnet.

In den letzten Jahren ist der Literaturwissenschaftler Terry Eagleton einem größeren Publikum im deutschsprachigen Raum vor allem durch zwei Bücher bekannt geworden: »Der Sinn des Lebens« von 2008 und »Das Böse« von 2011. In beiden Büchern stellt Eagleton genuin philosophische Fragestellungen und Problemlagen mit der ihm eigenen Leichtigkeit und Verständlichkeit dar und bringt sie so auch dem interessierten Laien näher. Sein jüngstes Werk mit dem Titel »Warum Marx recht hat« setzt diesen Weg fort, handelt es sich doch um eine ebenso fundierte wie streitbare Einführung in die Theorie von Karl Marx und den Marxismus. Ein schwieriges Unterfangen, zweifellos, denn über kaum jemand ist soviel gesagt und geschrieben worden wie über Marx – was natürlich den Grund darin hat, dass kaum jemand das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert so stark geprägt hat wie Marx. Vor allem aber sind über kaum einen Philosophen und dessen Theorie derart viele Unwahrheiten, Halbwahrheiten und Verzerrungen im Umlauf. Weiterlesen

Liegt die Zukunft bereits hinter uns? Benjamin Stein entwirft in seiner kühlen sozial-medialen Utopie »Replay« das Bild eines gläsernen Menschen, der sich freiwillig der Diktatur der Technologie unterwirft.
Menschen tragen in dieser nahen Zukunft ein Implantat namens »UniCom«. Es zeichnet die Bilder des Lebens auf: Erwachen, den Gang zur Toilette, Gespräche, erotische Erlebnisse. Alles kann der Träger im Nachhinein bearbeiten, er kann die aufgezeichneten Bilder immer wieder neu betrachten und durchleben. Und das Beste: All diese beliebigen, persönlichen Augenblicke können über eine Datenbank mit anderen Implantat-Trägern geteilt werden, die wiederum all diese Erlebnisse selbst durchleben können.
Es ist das Weiterspinnen des Social-Media-Wahns, wie wir ihn bisher kennen: Menschen filmen oder fotografieren ihr Leben, platzieren diese Aufnahmen im Internet, während die Betrachter der Aufzeichnungen zu jeder Zeit diese kommentieren und bewerten können. Diese Welt, die Benjamin Stein in seinem dritten Roman entwirft, die gibt es schon – doch ist sie noch nicht ganz so pervers und hypersozial, wie sie in »Replay« vorgedacht wird.

Ich fürchte mich vor Erscheinungen, die ich nicht selbst erfunden habe.

Die Geschichte ist schnell umrissen: Der Chefentwickler des Implantats, Ed Rosen, hat sich verfangen in dieser Welt, zwischen Aufzeichnungen und gegenwärtig Erlebtem. Der Leser ahnt dies schon bald, doch verfällt auch er der Faszination der Reproduktion des Erlebten. Im Vordergrund stehen hierbei sexuelle Ereignisse, die Ed Rosen immer wieder vor dem geistigen Auge abspielen lässt, sie immer wieder neu durchlebt. Es spielt keine Rolle, wie viel Zeit seit der Aufzeichnung vergangen ist – denn die Gegenwart ist uninteressant, sofern sie das Aufgezeichnete nicht überbieten kann. Was zählt, das ist einzig die Realität, die das »UniCom« seinem Träger vorspielt. Das Glück, so will es Ed Rosen, ist ein immerwährender und immer abrufbarer Zustand.

Der Verführung dieses radikalen Konstruktivismus, den Benjamin Stein in »Replay« beschreibt, kann sich der Leser kaum erwehren: Die Realität wird von den Trägern des »UniCom« im Geiste konstruiert, es ist ein willkürliches Springen zwischen den intensivsten, schönsten Aufzeichnungen des bisherigen Lebens und den damit einhergehenden Sinnesreizen. Fast scheint dies wie eine Spielart des Solipsismus: Ein paar gute Jahre und glückliche Momente reichen dem Träger des »UniComs« aus, um sich seine Welt aus den Erinnerungen immer wieder neu zusammenzubauen. Eine tatsächliche Welt brauchte es nicht mehr. Das Bewusstsein schafft sie sich schon selbst.

Die Pornoindustrie, die damals wegen der vielen freien Quellen im Netz kränkelnd darniederlag, sprang mit Begeisterung auf den Zug auf.

Foto: © Chris Janik (2011)
Benjamin Stein (Foto: © Chris Janik (2011))

Ed Rosen, Entwickler und erster Träger des »UniComs«, steht dem Implantat unvoreingenommen und naiv gegenüber. Man würde ihm gerne Dürrenmatts »Die Physiker« in sein »UniCom« eintrichtern, ihm seine Verantwortung für diese soziale Diktatur verdeutlichen. Stattdessen beobachtet man sich selbst, wie man Freunden via Facebook den visuellen Buchtrailer des Buches auf die Pinnwand postet. Die totale Transparenz, das stetige Konsumieren von Glück ist verführerisch – doch macht es auch stumpf und abhängig. Kann man dieser Sucht entrinnen? Ed Rosen beantwortet diese Frage am Ende des Romans.

Krell leuchten die Warnsignale in just diesem Moment, in dem Rosen von seinem Kompagnon Matana über das Wesen sozialer Netzwerkdienste unterrichtet wird:
»Es gibt in diesen wuchernden Systemen so gut wie keine Funktion negativer Rückkopplung. Man kann Interessantes weiterverbreiten und Beiträge anderer mit einem Klick auf den Like-Button adeln. Einen Dislike-Button hingegen gibt es nicht. Kein Benutzer wird darüber informiert, wenn er von anderen geblockt wurde. Das System bietet nur Funktionen an, die zur noch intensiveren Nutzung des Systems motivieren. Sie animieren dazu, mehr und mehr Menschen zu involvieren.«
Und weiter: »Es ist wie eine Umpolung des Wattschen Dampfreglers. Je schneller die Maschine dreht, desto mehr Dampf gibt das Ventil frei. Systemtheoretisch betrachtet, kann ein solches dynamisches System, das sich allein auf positive Rückkopplung stützt, nur in die Katastrophe steuern. Aus winzigen Turbulenzen werden wahre Stürme, eine sich immer schneller drehende Spirale ungebremster Wucherung.«

Ich höre den Jingle der Corporation, und kaum hat der erste Beitrag begonnen, habe ich gar keine Lust mehr, aufzustehen und aus dem Haus zu gehen.

Wohin die Reise führt? Sicherlich nicht in die Unendlichkeit. Es ist eine grandiose Selbsttäuschung, eine Utopie, die bitter schmeckt, weil sie nicht wirklich utopisch zu sein scheint. Benjamin Stein hat mit »Replay« einen Roman geschrieben, der lange nachwirkt, der Angst macht, entsetzt. Und den man nicht aus der Hand legen kann, ehe man ihn zu Ende gelesen hat.

Benjamin Stein: »Replay«. C.H. Beck: München 2012.

Dietmar Dath, Schriftsteller und Journalist, und Barbara Kirchner, Professorin für theoretische Chemie, haben ein Buch geschrieben mit dem sperrigen Titel »Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee«. Doch ist der Titel allein, verglichen mit dem, was die Lektüre dieses buchgewordenen Ungetüms dem geneigten Leser abverlangt, noch vergleichsweise harmlos, denn auf gut 800 Seiten gehen Dath und Kirchner der Frage nach, »ob und wie so etwas wie sozialer Fortschritt gedacht und, wichtiger, gemacht werden kann«. Dazu durchforsten sie die Tiefen und Untiefen von Wissenschaft und Philosophie, Kunst und Literatur und picken sich heraus, was ihnen gelegen kommt und was gerade passt. Das Resultat ist ein Buch, das in seiner Komplexität und Vielschichtigkeit kaum zu fassen ist, so vollgepackt mit Informationen, Reflexionen und Ideen ist es. Weiterlesen

Denis Scheck ist Literaturkritiker, Übersetzer, Herausgeber und Journalist. Bekannt wurde der Schwabe als Moderator des Büchermagazins »Druckfrisch«, das einmal pro Monat in der ARD ausgestrahlt wird. Im vergangen Jahr wurde die Sendung mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet.

Der Literaturkritiker im Interview über Altersrassismus im Kulturbetrieb, Charlotte Roche und die Vielfalt der US-amerikanischen Literatur.

 

Lieber Denis Scheck, kann man über Literatur auch im Jogginganzug urteilen?

Gewiss. Aber wie in der Literatur ist auch in der Gesellschaft Formlosigkeit nicht immer von Vorteil.

Welchen Anzug würden Sie bei einer Begegnung mit Thomas Pynchon tragen?

Wenn ich es recht weiß, hatte ich einen ganz normalen schwarzen an.

John Updike, J.D. Sallinger, Thomas Pynchon, Philip Roth, T.C. Boyle – die Liste der von Ihnen geschätzten amerikanischen Romanautoren ist lang. Was ist das Besondere der zeitgenössischen amerikanischen Literatur?

Mit Sonnenbrille: Scheck trifft Boyle (Foto: ARD)

Sie haben meinen besonderen Liebling William Gaddis vergessen. Und Joan Didion, James Tiptree, Paul Auster, Don DeLillo, Bret Easton Ellis, Toni Morrison, Kurt Vonnegut, Nichsolson Baker, Robert Stone, Siri Hustvedt, Padgett Powell und Jack Vance. Jeffrey Eugenides, Jonathan Franzen und Padgett Powell. Damit wird ja schon deutlich: die besondere Qualität der US-amerikanischen Literatur ist ihre Vielfalt. Außerdem fürchte ich, daß es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen militärisch-ökonomischer Macht und künstlerischen Blütezeiten gibt. Ohne Augustus kein Ovid.

T.C. Boyle schrieb einmal: »Romane sind wie Rockkonzerte: Entweder bringst Du die Leute zum Tanzen, oder sie feuern Dir Bierdosen an den Kopf.« Zu welchen aktuellen deutschsprachigen Romanen tanzen Sie?

Hier irrt Boyle. Romane sind Romane, Rockkonzerte sind Rockkonzerte. Aber die Verwechslung zwischen beiden ist ein zeittypisches Phänomen, das insbesondere auf Erfolg bedachten Rampensäuen schon mal häufiger unterläuft. Literatur entsteht nur in der Interaktion zwischen Leser und Text, alles andere ist – sorry T.C. –  Event und Performance. Macht auch Spaß, ist aber was anderes. Doch wie schreibt Flaubert in Madame Bovary so schön: »Des Menschen Wort ist wie eine gesprungene Pauke, auf der wir eine Melodie heraustrommeln, nach der kaum ein Bär tanzt, während wir die Sterne bewegen möchten.«
Im Moment wippt mein Tanzbein ganz leicht bei Christian Krachts »Imperium« und bei Christopher Eckers »Fahlmann«.

Mit dem Zweiten sieht man besser. (Foto: Boris Schöppner)

Junge deutschsprachige Autoren wie Leif Randt, Jan Brandt, Antonia Baum oder Rafael Horzon finden in Ihrer Sendung »Druckfrisch« leider kaum statt. Warum?

Der insbesondere im deutschen Kulturbetrieb besonders verbreitete Altersrassismus und der für die Kritik typische Entjungferungswahn protegiert Debütanten ohnehin schon stark. Aber Franziska Gerstenberg, Mariam Kühsel-Hossaini und Abbas Khider waren ja zum Beispiel auch nicht alt oder etabliert, als sie in der Sendung vorkamen. Die Erfahrung lehrt, daß die besten Bücher selten von den jüngsten Autoren geschrieben werden – und daß man selbst schon renommierte Autoren wie Antje Ravic Strubel, Sibylle Lewitscharoff oder Feridun Zaimoglu einem größeren Fernsehpublikum erst bekannt machen muß. Zudem ist Interviewtwerden genau wie Schreiben etwas, das man lernen muß.

Ihr Interview mit Michel Houellebecq zu dessen Roman »Karte und Gebiet« ist sehr intensiv und auch skurril. Das Gespräch wirkt seltsam entrückt, geradezu gespenstisch. Kann man so etwas planen?

Ja.

Welches Interviewerlebnis war das für Sie außergewöhnlichste?

Ein Interview mit Ray Bradbury, bei dem nicht alle Gesprächsteilnehmer Beinkleider trugen.

In einem Interview sagten Sie einmal, dass Sie zwischen 150 und 180 Bücher pro Jahr lesen. Das sind etwa drei Bücher pro Woche. Wie halten Sie das Tempo?

Was wäre denn die Alternative? Golf spielen?

Ihr Kollege Hellmuth Karasek sammelt Lexika. Sammeln auch Sie ausgefallene Bücher?

Als Kind und Jugendlicher habe ich sehr passioniert Science Fiction und Fantasy gesammelt: »Ace Doubles«, »Galaxy«, »Astounding Stories« und so was, auch alte amerikanische Pulp-Magazine oder der fast zeitgleich mit »Weird Tales« oder »Amazing Stories« erschienene deutsche »Orchideengarten«. Aber in den Häusern von Fischern stößt man selten auf Aquarien.

Auf dem Rad: Scheck trifft Kracht (Foto: ARD)

Was haben Sie von Fritz J. Raddatz gelernt?

Daß man im literarischen Leben keine Dankbarkeit erwarten sollte.

Und von Marcel Reich-Ranicki?

Daß ein Bad in Drachenblut von Vorteil ist.

Beide Literaturkritiker, Raddatz wie auch Reich-Ranicki, schreiben in ihren Autobiografien ausführlich über öffentliche Auseinandersetzungen wie auch Freundschaften mit berühmten Schriftstellern wie etwa Günter Grass oder Martin Walser. Werden Sie in Ihrer Autobiografie auch aus dem Nähkästchen plaudern?

Ich will hoffen, daß mir unverschämt hohe Schweigegeldzahlungen das Maul stopfen.

Wären Sie selbst gerne Romanautor?

Solange darunter sowohl Nabokov wie Charlotte Roche und Susanne Fröhlich fallen, wüßte ich meinen Wunsch bei einer plötzlich auftauchenden guten Fee anders zu stellen.

Denis Scheck wurde 1964 im schwäbischen Bretzenacker geboren. Er ist Literaturkritiker und Journalist. Seit Februar 2003 moderiert er das Büchermagazin »Druckfrisch«, das einmal pro Monat in der ARD ausgestrahlt wird.

 

 

beginnersEs ist das Ende, das entscheidet. In der erschütternden Kurzgeschichte »Sag den Frauen, wir gehen« wird es deutlich, welche Auswirkungen die Arbeit des Lektoren Gordon Lish auf die Texte von Raymond Carver hatte. Plötzlich ist alles anders.

Doch der Reihe nach: Die Short Stories von Carver, die John Updike und Philip Roth zum Schreiben bemüßigten, faszinierten die Verschwörungstheoretiker über Jahre hinweg: Was bleibt übrig von Carver, wenn man Lish subtrahiert? Ist Carver überhaupt Carver? Was ist Carver wirklich? Ist es wahr, dass die Texte von Raymond Carver, der als »the godfather of literary „minimalism“«¹ gefeiert wird, von seinem Lektoren Gordon Lish nicht nur teilweise bis zu 70% reduziert wurden, sondern auch Handlungen und auch Charaktere gebeugt wurden?

Nur schwerlich konnte man diese Gerüchte auf den Prüfstand stellen, galten die Manuskripte doch  mitunter verschollen. Dem italienischen Schriftsteller und Literaturkritiker Alessandro Baricco fiel einst das Original der Kurzgeschichte »One more thing« in die Hände, die er sogleich mit der veröffentlichten Version verglich. Erschüttert schrieb er: »Es ist, als ob man entdeckt, dass die Originalversion von „Warten auf Godot“ damit endet, dass Godot auftaucht und etwas Sentimentales sagt.«² Baricco fragte, ob »eines der größten Vorbilder zeitgenössischer Erzählkunst ein künstliches Modell war. Im Labor erzeugt.«² Doch kann man diesen Sachverhalt verifizieren, wenn nur ein einziger Textvergleich der Öffentlichkeit vorliegt?

»Das nennst du Liebe, L.D.?«, sagte sie und blickte ihm ins Gesicht. Es war ein grausamer, bohrender Blick, und er hielt ihn aus, solange er konnte.

Im Jahre 2009 gaben Tess Gallagher, die Witwe Raymond Carvers, William L. Stull und Maureen P. Carroll »Beginners« heraus, die Manuskripte der berühmten Kurzgeschichten-Kollektion »What we talk about when we talk about love«, die in der Bibliothek der Universität Indiana lagerten. Ausgehend hierfür ist das Manuskript, das Carver 1980 an Gordon Lish schickte. Lish kürzte diese Versionen um mehr als 50%. Die Veröffentlichung von »Beginners« im Jahre 2009 war eine Sensation, führten diese Manuskripte doch der staunenden Weltöffentlichkeit vor, wie unterschiedlich Originale und späteren Veröffentlichungen tatsächlich waren. Nun veröffentlicht der S. Fischer Verlag diese Manuskripte erstmals in deutscher Sprache.

Raymond Carver
Raymond Carver

Auch in den präzisen Übersetzungen von Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié und Antje Rávic Strubel wird deutlich, wie wichtig die Lakonie, die Aussparungen, das Skizzenhafte der Kurzgeschichten Carvers ist. In den Originalversionen tauchen plötzlich Namen auf, wo man bisher Anonymität vermutete. Weiterhin knapp, skizzenhaft, beängstigend – denn das konnte auch Carver. Doch sind die Sätze bei ihm länger, ausgeschmückt. Biografische Verweise vertiefen die Charaktere, Schauplätze werden offensichtlich. Es ist insbesondere das Ende, die letzten Zeilen der Kurzgeschichte »Sag den Frauen, wir gehen«, das vorführt, wie Carver seine Geschichten entwarf und Lish sie zu Ende dachte.

Die »bedrohliche Ästhetik«, der »K-Mart-Realismus«, das wird hier deutlich, ist mitunter ein Verdienst der sprachlichen Radikalität von Gordon Lish. Carvers eigentlicher Sound ist weicher, beinahe versöhnlicher. Doch sind seine Geschichten in der ursprünglichen Version immer subtiler, in ihrer Deutlichkeit noch verstörender. Baricco schreibt: »Carver hatte vielleicht etwas Schreckliches, doch Faszinierendes im Kopf. Dass das Leid der Opfer unbedeutend ist.«²

»Am Morgen gießt sie mir Teacher’s Whisky auf den Bauch und leckt ihn ab. Am Nachmittag versucht sie aus dem Fenster zu springen.«

Lish verknappte die Geschichten, brach sie auf ihr Skelett herunter. Härter als Hemingway, trostloser als Updike – die Short Stories erzählen das Leben der Verlierer des American Dreams. Getrieben von Alkohol und anderen Süchten, manövrieren sich die Charaktere in eine unausweichliche Isolation. Die Leiden dieser amerikanischen Untergeher sind es, die ein Bild von Amerika zeichnen, welches es so in der Literatur nicht eben häufig gibt. Seine Geschichten sind allesamt suchterregend, in ihrer Ödnis faszinierend brutal. Es ist ein bisschen so, wie beim Trinken eines Whiskeys: Man kann das nur in Maßen genießen, Schluck für Schluck. Ist man maßlos, dann wird man stumpf und besoffen vor Destruktivität und Angst. Es geht dem Leser so, wie Carvers Charakteren.

Doch sind es nur die Geschichten, die ausschlaggeben sind? Was ist mit der Atmosphäre, dem Stil, dem Sound? Die Lakonie, die Aussparungen – sie tragen maßgeblich zur Faszination der Kurzgeschichten bei. Es ist nicht zu leugnen.

Gordon Lish
Gordon Lish

Die Eingriffe Lishs ließen Carver nicht kalt, sie zermürbten ihn. »Beginners: Uncut – Die Originalfassungen« ist eine Auswahl der Briefe angefügt, die Carver an seinen Lektoren schrieb. Hin- und hergerissen zwischen Dank, Unterwerfung, Verzweiflung und Unsicherheit, schrieb Carver:

»Wenn das Buch herauskommt und ich […] das Gefühl habe, dass ich zu viele Zugeständnisse gemacht habe, […] dann kann ich mir selbst nicht in die Augen schauen und vielleicht nie wieder schreiben.«

Bleibt die Frage, von welcher Relevanz diese Offenlegung nun in der Rezeption der Kurzgeschichten Carvers ist. Spielt es eine Rolle? Verlieren die Geschichten nun ihre Faszination? Nein.

Die Veröffentlichung von »Beginners: Uncut – Die Originalfassungen« ist eine Erweiterung der verstörenden Weltansicht Carvers. Sie zeigen das Elend in größeren Ausschnitten, pathetischer vielleicht, aber nicht eben liebevoller. Es ist der Beweis, dass Raymond Carver der große Schriftsteller war, für den man ihn seit »Will you please be quiet, please?« halten konnte: Als mitunter wichtigste Stimme der zeitgenössischen amerikanischen Literatur.

Raymond Carver: »Beginners: Uncut – Die Originalfassungen«. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié und Antje Rávic Strubel. S. Fischer Verlag:  Frankfurt 2012.

 

¹ Kirk Nesset, »The Stories of Raymond Carver. A Critical Study«, Athens: Ohio University Press, 1995, S. 2.

² Alessandro Baricco, »Godot ist doch gekommen. Wie Lektoren Literaturgeschichte umschreiben«, in: Die Welt, 29.05.19999, S. 9.

An die Arbeitsweise des Journalisten richten sich besondere Ansprüche. So hat sich ein Journalist natürlich an die Fakten zu halten, klar, aber Fakten können auch der Literatur als Grundlage dienen. Wo ist also der Unterschied? Vielleicht liegt der Unterschied darin, dass Literatur nicht »wahr« sein muss, während ein journalistischer Text sehr wohl einer »Wahrheit« verpflichtet ist, um es pathetisch zu sagen. Aber was heißt das, einer »Wahrheit« verpflichtet zu sein? Worin besteht diese »Wahrheit« des Journalismus? Das ist keine rhetorische Frage, im Gegenteil. Zweifellos ist es eine grundlegende Frage, aber darum ist sie nicht weniger komplex. Was macht also einen gelungenen journalistischen Beitrag, einen »wahren« Beitrag aus? Zumindest im deutschsprachigen Raum wird diese Frage oft mit dem seltsamen Wort »Objektivität« beantwortet. Dagegen ist zweierlei einzuwenden: Erstens, dass es diese Objektivität, außer vielleicht als Ideal, nicht gibt und nicht geben kann. Man kann sich einem Sachverhalt von unterschiedlichen Seiten nähern, man kann verschiedene Zugänge einander entgegen halten und abwägen, aber das ist nicht objektiv, sondern allenfalls intersubjektiv, und auch dies nur in einem beschränkten Maße. Und zweitens, dass der Anspruch auf Objektivität leider mitunter dazu führt, dass journalistischen Texte eine Nüchternheit, ja man möchte sagen: eine Langeweile und eine Ödnis an den Tag legen, weil sie der irrigen Annahme folgen, dass der Verzicht auf rhetorische Mittel und sprachliche Finessen einen Text automatisch objektiv mache – nach dem Motto: nichts wagen, auch nicht sprachlich, und bloß nicht »ich« sagen. Weiterlesen