Wie sehr das ganze Dasein dieses Volkes auf einer fortlaufenden Lüge beruht, wird in unvergleichlicher Art in den von den Juden so unendlich gehassten »Protokollen der Weisen von Zion« gezeigt. Sie sollen auf einer Fälschung beruhen, stöhnt immer wieder die »Frankfurter Zeitung« in die Welt hinaus: der beste Beweis dafür, dass sie echt sind… Wenn das Buch erst einmal Gemeingut eines Volkes geworden sein wird, darf die jüdische Gefahr auch schon als gebrochen gelten.

Diese Einschätzung eines gescheiterten österreichischen Kunstmalers zitiert Umberto Ecos »Der Friedhof in Prag« in seinem Anmerkungsapparat. Auch die genaue Quelle ist angegeben: Adolf Hitlers »Mein Kampf«, erster Band, von 1925. Die Vorgeschichte der von Hitler und anderen Antisemiten aufgegriffenen »Protokolle der Weisen von Zion«, die erstmals 1905 auf Russisch erschienen sind und sich innerhalb kürzester Zeit verbreitet haben, steht im Zentrum von Ecos jüngstem Roman. Und obwohl die Handlung dementsprechend ausschließlich im neunzehnten Jahrhundert angesiedelt ist, zunächst in Italien und später dann in der französischen Metropole Paris, ist »Der Friedhof in Prag« von höchster Aktualität in einer Zeit, in der in den Feuilletons und anderswo über die Chancen und Risiken einer kommentierten Publikation von »Mein Kampf» diskutiert wird, während gleichzeitig judenfeindliche Ressentiments einer neuen Studie zufolge in ganz Deutschland stetig zunehmen. Er habe einen Roman mit »pädagogischer Absicht« schreiben wollen, ließ Eco verlautbaren, und auf eine angenehme Weise ist ihm das gelungen. Angenehm, weil »Der Friedhof in Prag« nicht das Offensichtliche wiederholt, nämlich die traurige Tatsache, dass der Antisemitismus eine scheinbar unausrottbare Geißel ist – an solchen Bekundungen, so richtig sie auch sind, fehlt es nicht. Sondern weil der Roman die unheilvolle Wirkungsweise antisemitischer Verschwörungstheorien eindrucksvoll demonstriert, ihre Entstehung und Verbreitung ebenso beleuchtet wie ihre Wirkung und den Nutzen, den bestimmte politische Kräfte aus ihnen ziehen.

Zumindest eine gewisse Spannung bietet auch »Der Friedhof in Prag«, geht es doch um Spionage und Gegenspionage, um Intrigen und Verschwörungen, Rätsel und Geheimnisse. Zwischendurch passiert auch mal ein Mord.  Es sind also die üblichen Zutaten, aus welchen Eco routiniert eine allseits bekannte Mischung kredenzt. Doch anders als in »Der Name der Rose« fehlt hier eine Figur, mit der sich der Leser identifizieren kann – und sei es bloß im Negativen. Der Protagonist Simon Simonini, ein von Amnesie befallener Fälscher, Hochstapler und Betrüger, ist zwar ein widerwärtiges Scheusal, aber kein teuflischer Superschurke, der eine irgendgeartete Faszination auszustrahlen vermag. Im Hinblick auf das zentrale Thema des Romans ist das konsequent und auch richtig. Immerhin erzählt »Der Friedhof von Prag« die fiktive Entstehungsgeschichte eines bedauerlicherweise ganz realen Textes: »Die Protokolle der Weisen von Zion«. In Ecos Roman ist Simonini, ein glühender Antisemit mit hebräischem Vorname, der Verfasser dieser unheilvollen Hetzschrift, und wie verführerisch und auch nachvollziehbar wäre es doch, ihn als einen Dämon in Menschengestalt erscheinen zu lassen. Stattdessen präsentiert »Der Friedhof in Prag« dem Leser eine abstoßende, aber auch jämmerliche Figur – gewissermaßen eine literarische Personifikation jener sprichwörtlich gewordenen »Banalität des Bösen« (Arendt).

Aller Ironie und allen Übertreibungen zum Trotz ist dieser Simon Simonini im Kern eine realistische Figur, und das, obwohl er zugleich die einzig fiktive Figur des ganzen Romans ist. All die Personen, denen Simonini im Roman über die Jahre hinweg begegnet – vom italienischen Widerstandskämpfer Garibaldi über den Antisemiten Édouard Drumont bis hin zu einem ominösen jüdischen Arzt namens »Doktor Froide« – , haben tatsächlich existiert und »haben gesagt und getan, was sie hier sagen und tun«. Simoninis Gedanken und seine Handlungen mögen hingegen frei erfunden sein, dennoch sind sie traurige Wirklichkeit insofern, als sie wesentliche Aspekte der antisemitischen Denkweise exemplarisch vorführen. Als »Gerücht über die Juden« (Adorno) ist der Antisemitismus von Grund auf phantasmatisch: Seiner Gedankenwelt liegen keine wirklichen Erfahrungen zugrunde, sondern Vorstellungen bar jedes Realitätsbezugs. Aus diesem Grund muss der überzeugte Antisemit aber auch niemals einem Juden begegnen, es genügt, dass er die antisemitischen Wahnvorstellungen anderer wiederholt – so wie Simonini es tut:

Über die Juden weiß ich nur das, was mich mein Großvater gelehrt hat: »Sie sind das gottlose Volk par excellence«, erklärte er mir. »Sie gehen von der Idee aus, dass sich das Gute auf Erden verwirklichen muss, nicht im Jenseits. Daher tun sie alles, um diese Welt zu erobern.«

Die Jahre meiner Kindheit waren beherrscht und verdunkelt von ihrem Phantom. Der Großvater beschrieb mir jene lauernden Augen, die einen so falsch ansehen, dass man unwillkürlich erbleicht, jenes schleimige Lächeln, jene hyänengleich über die Zähne zurückgezogenen Lippen (…).

Von den Juden habe ich Nacht für Nacht geträumt, jahrelang.

Zum Glück bin ich nie einem begegnet, abgesehen von der kleinen Nutte aus dem Turiner Ghetto, als ich ein Junge war (aber wir haben nicht mehr als zwei Worte gewechselt), und von diesem österreichischen Doktor (oder deutschen, aber das kommt auf dasselbe hinaus).

Von einer Verharmlosung des Antisemitismus kann hier keine Rede sein, im Gegenteil. Und auch der Vorwurf, der Roman verfehle die kollektive Dimension antisemitischer Verschwörungstheorien, weil er die »Protokolle« als das Produkt eines verirrten Individuums darstelle, geht an der Sache vorbei. Auch hier trifft das Gegenteil zu: Simonini ist zwar der Verfasser der »Protokolle«, doch ist er nicht der originäre Schöpfer des unheilvollen Gedankenguts, das ihnen zu Grunde liegt. Vielmehr sind die »Protokolle« ein vollkommenes Pastiche, die Abschrift einer Abschrift einer Abschrift. Kaum etwas darin ist wirklich neu, sondern die wesentlichen Inhalte finden sich so oder so ähnlich bereits in anderen Texten dieser Couleur. Lediglich die Zusammenstellung und Akzentuierung ist den aktuellen Bedürfnissen von Simoninis Auftraggebern angepasst und mit fein dosierten Neuerungen versehen. Dabei sind diese Wiederholungen durchaus gewollt, denn im Ergebnis führt das zu einem Netz von einander legitimierenden Verweisen, was bei unbedarften Lesern schnell den Eindruck erwecken kann, dass das Dargestellte der Wahrheit entspricht. Ironischerweise ist dieses Verfahren demjenigen von Ecos Romanen gar nicht unähnlich, denn in ihrer postmodernen Zitierwut bedienen auch diese sich aus allen möglichen und unmöglichen Quellen und Vorlagen. Ganz anders hingegen der Effekt, denn schließlich geht es Verschwörungstheorien nicht darum, Zweifel zu streuen, sondern den Leser von ihrer Sicht der Dinge zu überzeugen, indem sie vermeintlich übergeordnete Zusammenhänge im großen Chaos herzustellen vorgeben und somit eine verborgene »Wahrheit« suggerieren. Im Fall der »Protokolle« besteht diese »Wahrheit« bekanntlich in der absurden Vorstellung einer jüdischen Verschwörung mit dem Ziel, die Weltherrschaft zu erlangen. Dass diese »Wahrheit« dennoch geglaubt wird, verdankt sich nicht zuletzt einer perfiden Strategie der Selbstimmunisierung, wonach jeder Beweis der Falschheit der »Protokolle« nur ein weiterer Beleg für die Allmacht der jüdischen Propaganda ist – nicht anderes argumentiert Hitler in der eingangs zitierten Passage von »Mein Kampf«.

Man kann von Ecos Roman in der Tat viel lernen, sowohl über den Antisemitismus als solchen als auch über seinen Kontext im neunzehnten Jahrhundert. Das ist oft anstrengend und fast immer abstoßend, wenn sich der Protagonist und seine Kumpanen in ihren Ressentiments suhlen und von den »bösen Juden« fantasieren. Und vielleicht verliert »Der Friedhof in Prag« bei all seinem Wissen und seinen Ambitionen auch die eigentliche »Geschichte« gegen Ende immer mehr aus den Augen, wie einige enttäuschte Leser in ihren Kommentaren meinen. Aber wer sagt, dass Literatur nicht auch unbequem sein darf – zumal für den Leser?

Umberto Eco: Der Friedhof in Prag. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Carl Hanser Verlag: München 2011.