An die Arbeitsweise des Journalisten richten sich besondere Ansprüche. So hat sich ein Journalist natürlich an die Fakten zu halten, klar, aber Fakten können auch der Literatur als Grundlage dienen. Wo ist also der Unterschied? Vielleicht liegt der Unterschied darin, dass Literatur nicht »wahr« sein muss, während ein journalistischer Text sehr wohl einer »Wahrheit« verpflichtet ist, um es pathetisch zu sagen. Aber was heißt das, einer »Wahrheit« verpflichtet zu sein? Worin besteht diese »Wahrheit« des Journalismus? Das ist keine rhetorische Frage, im Gegenteil. Zweifellos ist es eine grundlegende Frage, aber darum ist sie nicht weniger komplex. Was macht also einen gelungenen journalistischen Beitrag, einen »wahren« Beitrag aus? Zumindest im deutschsprachigen Raum wird diese Frage oft mit dem seltsamen Wort »Objektivität« beantwortet. Dagegen ist zweierlei einzuwenden: Erstens, dass es diese Objektivität, außer vielleicht als Ideal, nicht gibt und nicht geben kann. Man kann sich einem Sachverhalt von unterschiedlichen Seiten nähern, man kann verschiedene Zugänge einander entgegen halten und abwägen, aber das ist nicht objektiv, sondern allenfalls intersubjektiv, und auch dies nur in einem beschränkten Maße. Und zweitens, dass der Anspruch auf Objektivität leider mitunter dazu führt, dass journalistischen Texte eine Nüchternheit, ja man möchte sagen: eine Langeweile und eine Ödnis an den Tag legen, weil sie der irrigen Annahme folgen, dass der Verzicht auf rhetorische Mittel und sprachliche Finessen einen Text automatisch objektiv mache – nach dem Motto: nichts wagen, auch nicht sprachlich, und bloß nicht »ich« sagen.

Wenngleich der erste Einwand sicher triftiger ist, möchte ich ihn doch an dieser Stelle beiseite lassen und nur auf den zweiten Einwand eingehen, und zwar, indem ich ein Gegenbeispiel anführe. Denn natürlich – auch das muss gesagt werden – sind nicht alle journalistischen Texte langweilig und öde. Dazu eine Vorgeschichte: Als der Journalist und Schriftsteller Marc Fischer vor ziemlich genau einem Jahr verstarb, am 2. April 2011, konnte ich mit dem Namen nichts verbinden. Ich las einen Nachruf, ich glaube es war in der »SZ«, zuerst wenig aufmerksam, doch dann fiel der Name »Tempo« und das Interesse nahm zu. Die Zeitschrift »Tempo« war mir ein Begriff, obwohl ich sie nie in der Hand hielt und gelesen hatte. Aber ich wusste, dass sie zu ihrer Zeit, in den Jahren 1986 bis 1996, den New Journalism nach Deutschland brachte und außerdem so etwas wie ein Biotop war für Autoren, die ich heute sehr schätze. Im selben Atemzug mit »Tempo« sind beispielsweise die Namen Christian Kracht und Moritz von Uslar, Rainald Goetz und Maxim Biller zu nennen. Das ist kein Zufall, wenn man sich die Art und Weise vor Augen führt, wie »Tempo« seinerzeit Journalismus und Literatur miteinander zu einem Amalgam verband, das in Deutschland zuvor nahezu unbekannt war.

Der Anspruch auf Objektivität hält die Sache ja einfach, er erlaubt es, zwischen Journalismus und Literatur eine klare Grenze zu ziehen. Aber es ist letzten Endes eine illusorische Grenze und vor allem ist es eine Grenze, die den Journalismus beschränkt und ihm nicht zu Gute kommt, erst recht dann nicht, wenn aus dem Objektivitätsstreben tatsächlich nichts als ausgetrocknete Textwüsten resultieren. Im Grunde erzählen Journalisten wie Schriftsteller doch gleichermaßen Geschichten – und warum sollten sie das nicht auf eine ähnliche Weise tun? Freilich würde das verlangen, eine neue differentia specifica anzugeben, anhand derer sich die Schreibweisen voneinander unterscheiden ließen, wollte man nicht ihre Eigenständigkeit aufgeben. Nun, vielleicht ist es möglich, eine solche differentia specifica zu finden, obwohl ich nicht glaube, dass die Dinge so einfach liegen, wie es sich auf den ersten Blick darstellt. Ich für meinen Teil kann aber auch gut damit leben, dass es bei manchen Texten in der Tag nicht möglich ist, eine klare Unterscheidung zu treffen und sie zweifelsfrei der einen oder anderen Seite zuzuordnen. Denn diese Vermischung und Uneindeutigkeit kann auch äußerst produktiv sein, sowohl in journalistischer als auch in literarisch-ästhetischer Hinsicht – und damit zurück zu Marc Fischer.

Für Zuspätgekommene wie mich, aber nicht nur für diese, hat Kiepenheuer & Witsch im März diesen Jahres dankenswerterweise einige der besten und prägnantesten Arbeiten Fischers zu einem Sammelband mit dem schönen Titel »Die Sache mit dem Ich« zusammengefasst. Dieses Buch sollte man entgegen seiner ursprünglich intendierten Verwendungsweise als Lehrbuch nutzen. Angehende Journalisten könnten durch die Lektüre nicht nur lernen, wie man gut und spannend schreibt, sondern auch, wie man zu einem, zu seinem Thema kommt. Denn das ist die eigentliche Schwierigkeit, und hier zeigt sich die subtile, aber große Kunst: Eine Reportage über LSD-Wandern im Burgenland oder einen achtzehnstündigen ARD-Marathon, über eine Autofahrt mit einem Teenager oder Nächte im Hotel – wieso nicht? Und selbst wenn Fischer über die Rolling Stones schreibt, über die ja alles mögliche und unmögliche bereits gesagt und geschrieben scheint, dann ist sein Zugang doch so frisch und unkonventionell, dabei gleichzeitig aber auch entlarvend. Und nicht zuletzt: immer »ich« sagen. Fischers Reportagen sind kleine Erzählungen und sie sollten auch so gelesen werden. Das heißt nicht, dass sie nicht informativ sind und nichts über die Welt sagen. Ja, sie verraten viel über Marc Fischer, über seine Lieben und Vorlieben, damit aber noch weitaus mehr über die geliebten Personen und Phänomene. Im Spiegel der subjektiven Empfindungen und Erfahrungen gewinnen diese eine Brillanz und Schärfe, die wohl keine »objektive« Annäherung je erreichen könnte. Der vielleicht ungewöhnlichste, aber auch stärkste Text in »Die Sache mit dem Ich« handelt von Kate Moss, oder besser: von der Liebe zu Kate Moss. Schauplatz ist ein Hotel in Paris, irgendwann in den Neunziger Jahren. Fischer und Moss trinken Kaffee, rauchen, reden, vertreiben sich die Zeit. Schließlich trennen sie sich und Moss fährt zu Johnny Depp, mit dem sie zu dieser Zeit liiert war, an den Flughafen. Und obwohl nicht viel gesagt wird und noch weniger passiert, hat der Leser nach nur sieben Seiten einen unauslöschlichen Eindruck davon erlangt, wie eine Person eine fast übermenschliche Faszination und Anziehungskraft ausüben kann. Ganz obendrein sind diese sieben Seiten literarisch im besten Sinne.

Marc Fischer: Die Sache mit dem Ich. Reportagen. Kiepenheuer & Witsch: Köln 2012.

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