Ein Park irgendwo in Japan als Schauplatz einer zaghaften Begegnung. Zunächst sind es noch zwei Bänke, auf denen die beiden Männer sitzen, jeder für sich allein. Von seiner Bank aus beobachtet der Erzähler, ein menschenscheuer junger Mann namens Taguchi Hiro, über Tage hinweg, wie ein alternder Büroangestellter Stunde um Stunde auf der gegenüberliegenden Bank verbringt, mit Zeitung lesen, Vögel füttern, Löcher in die Luft starren, schlafen. Jeden Tag, von Montag bis Freitag, sitzt er dort und vertreibt sich so die Zeit. Zwischendrin wird er von Tränen übermannt. Weil der Erzähler den Namen des Fremden aber anfangs nicht kennt, muss dessen charakteristisches Kleidungsstück, eine rotgrau gestreifte Krawatte, als Namensgeber herhalten. »Ich nannte ihn Krawatte« ist das dritte Buch der jungen österreichischen Autorin Milena Michiko Flašar und trotz der wenigen beschriebenen Seiten eine große Sensation.

Ich nannte ihn Krawatte.

Der Name gefiel ihm. Er brachte ihn zum Lachen.

Rotgraue Streifen an seiner Brust. So will ich ihn in Erinnerung behalten.

In poetischen Bildern und glasklar entrückter Sprache erzählt »Ich nannte ihn Krawatte« vom Schicksal der beiden Männer und wie sie sich näher kommen, kennen lernen, anfreunden. Ganz ohne Effekthascherei, dabei aber höchst effektiv, genügen wenige Worte um ein subtiles Gefühl der Melancholie zu evozieren, ja mithin schon ein Versprechen zu geben auf das, was da noch kommen wird: keine heitere Geschichte. Nicht nur, dass der Fremde von tiefer Trauer und Unglück gezeichnet scheint. Auch der bisherige Lebensweg des Erzählers gleicht einer kleinen, privaten Tragödie. Denn die letzten zwei Jahre verbrachte er allein und abgeschottet in seinem Zimmer im Haus der Eltern, ohne Kontakt zur Außenwelt. »Hikikomori« nennt man diese überwiegend jugendlichen oder jungen Exilanten, die für Monate oder gar Jahre die Flucht ins Allerprivateste antreten. In Japan ist das längst ein Massenphänomen, die Schätzungen reichen bis hin zu einer Million Betroffener, wobei die Dunkelziffer sehr hoch ist.

Mein Dasein bestand darin, dass ich fehlte. Ich war das Sitzkissen, auf dem keiner saß, der Platz am Tisch, der leer blieb, die angebissene Pflaume auf dem Teller, den ich zurück vor die Tür gestellt hatte.

»Ich nannte ihn Krawatte«
»Ich nannte ihn Krawatte«

Im Gespräch mit Krawatte legt Taguchi langsam seine Ängste ab, er tritt den schwierigen und langen Weg zurück in die Gesellschaft und in seine Familie an. Parallel erzählt er, wie es dazu kam, dass er eines Tages mit den Worten »Ich kann nicht mehr« in seinem Zimmer verschwand, das fortan für zwei Jahre zu seiner Höhle, seinem Zufluchtsort werden sollte. Es ist eine berührende Geschichte über die eigene Scham und den Verlust eines geliebten Menschen, welcher Krawatte aufmerksam folgt. Umgekehrt erzählt Krawatte aber auch von sich, dass er seine Arbeit verloren hat und sich nicht überwinden kann, es seiner Frau zu sagen. Stattdessen verlässt er weiterhin täglich zur gewohnten Zeit das Haus, doch anstatt ins Büro geht er in den Park. Scham und Angst, auch auf dieser Seite der Parkbank. Im Gefühl, den Ansprüchen nicht genügen zu können, sind der Hikikomori und Krawatte verbunden, und eben diese Verbundenheit gibt ihnen Halt.

Wir sagen beide dabei zu, wie uns alles entglitt, und fühlten beide eine heimliche Erleichterung darüber, nicht in der Lage zu sein, die Dinge gerade zu biegen. Vielleicht war das der Grund, warum wir aufeinandergetroffen waren.

Die große Stärke des Romans besteht zweifellos darin, dass er ohne jede Sentimentalität von zwei Existenzen erzählt, die im Jargon der so genannten Leistungsgesellschaft als »gescheitert« gelten dürften. Er erweckt kein Mitleid, aber er gibt Hoffnung. Was geschehen ist, lässt sich nicht rückgängig machen, aber die Erinnerung, die im gegenseitigen Erzählen festgehalten ist, spendet immerhin Trost. Eingeschlossen in Melancholie und Traurigkeit zeugt »Ich nannte ihn Krawatte« so vom Willen, trotz aller Widrigkeiten und Rückschläge weiterzumachen, und verbreitet einen zarten Hauch von Optimismus. »Wir wollen das Leben nicht, aber es muss gelebt werden«, heißt es bei einem anderen großen Österreicher. Flašars Figuren sind am Ende einen Schritt weiter, auch wenn sie nur eines gelernt haben: »Dass es sich lohnt, am Leben zu sein«.

 

Milena Michiko Flašar (geb. 1980) studierte Komparatistik, Germanistik und Romanistik in Wien und Berlin. Die Tochter eines Österreichers und einer Japanerin lebt heute als Schriftstellerin in Wien und unterrichtet nebenbei Deutsch als Fremdsprache. »Ich nannte ihn Krawatte« war auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012.  

 

Milena Michiko Flašar: »Ich nannte ihn Krawatte«. Wagenbach: Berlin 2012. 

Rainald Goetz wütet wieder, nicht jedem gefällt das. All der Spott, die Verachtung, die »Denunziation seiner Figuren«, auf die Dauer kann das ziemlich anstrengend werden. Man vergisst dann beinahe, dass es nie wirklich anders war und dass das genüssliche Auskotzen von Hass, Hass und noch mehr Hass bei Goetz einfach dazu gehört. Ja, Empathie ist seine Sache nicht unbedingt, aber braucht die Literatur das Mitgefühl? Oder entstehen die besseren Bücher nicht gerade aus der Weltverachtung heraus, wohlgemerkt aus der Verachtung einer ganz bestimmten Welt, in diesem Fall der Welt des Kapitals? Um eben jene alles verdummende und erniedrigende »Herrschaft des KAPITALS« dreht sich »Johann Holtrop«, Goetz‘ jüngster Roman über den Vorstandsvorsitzenden eines großen deutschen Medienkonzerns namens Assperg AG. Der Protagonist, besagter Johann Holtrop ist ein egomanisches und narzisstisches Arschloch, aber immerhin ist er nicht allein. Seine Kollegen, Geschäftspartner, Konkurrenten und Rivalen stehen ihm in Puncto Niederträchtigkeit und Stumpfsinn in nichts nach, weshalb es aber nicht schade ist, wenn Holtrops Untergebene – »Finanzflasche Ahlers, Schleimflasche Wenningrode, Egoflasche Leffers und Flascheleerflasche Thewe«  – von diesem ohne Umschweife in Gedanken zur Altglassammlung verfrachtet werden. Zwischendrin macht auch der Erzähler immer wieder unmissverständlich deutlich, was er von dieser Entourage, inklusive Holtrop, hält: Trottel, Deppen und Nullen aller Art bilden das Personal des Romans, dass es nur so eine Freude ist.

Das wäre doch das Ideal: aus der Normalität des realen Lebens heraus eine maximal asoziale Kunst zu machen, Sozialtextkunst.

(Rainald Goetz: »Klage«)

So steht es geschrieben, datiert auf den 19. April 2007, in »Klage«, dem Eröffnungsband des Werkteils »Schlucht«, also dem Vorvorgänger von »Johann Holtrop«. Zuvor geht es wie so oft um Thomas Bernhard, der, so Goetz‘ Erzähler, »den widernatürlichsten und schönsten Entwicklungsweg« genommen habe: »immer platter, immer deutlicher, immer zugänglicher«. »Jedes Wort ein Treffer. Jedes Kapitel eine Weltanklage. Und alles zusammen eine totale Weltrevolution bis zur totalen Auslöschung«, so hat Bernhard die Maxime seines Lebens und Schreibens einmal zusammengefasst. Auf Goetz trifft das ebenfalls zu, aber »Johann Holtrop« ist noch mehr. Der Roman verbindet eine bernhardeske Lust am Wüten mit einem unbedingten Erkenntnisauftrag. Es gilt auch weiterhin Satz #1 der Goetzsatzung: Ziel ist das »wirklich wahre Abschreiben der Welt«. Eine Zeit lang nannte man das Pop, vielleicht sollte man aber besser von einem reflektierten Realismus sprechen, der das eigene Sich-Aussetzen, das Eintauchen in fremde Milieus und Diskurse  zum Mittel der Welterfahrung macht.

Im Grunde ist Goetz ein Aufklärer, ein letzter Moralist in einer unmoralischen Welt. »Johann Holtrop« malt das Panorama eines kaputten Systems, in dem Gier und Machtstreben Menschlichkeit und Ratio längst ersetzt haben, und gibt kurzweilige Einblicke in die Psychoarchitektur der Machtelite. Die Handlung setzt kurz nach dem 11. September 2001 ein, der Vorstandsvorsitzende der Assperg AG erreicht gerade den Zenit seiner Macht. Die Menschen in seiner Umgebung verachtet er ebenso sehr, wie diese dem aufstrebenden Holtrop die Anerkennung und den Erfolg missgönnen. Dann geht die Wirtschaft den Bach runter und parallel dazu folgt der sukzessive berufliche und persönliche Abstieg Holtrops bis zur vorübergehenden Einweisung in die Psychiatrie, womit sich gewissermaßen der Kreis schließt zu »Irre«, Goetz‘ gefeiertem Debüt von 1983. Bis es aber soweit ist, kann der Leser sich rund dreihundert Seiten lang an ausufernden Satzungetümen erfreuen, gespickt mir absurd übersteigerten Neologismen, all das wohlgemerkt höchst virtuos inszeniert. Der Goetzkenner kennt das nicht anders, aber doch wird auch er hier nicht selten an Bernhard erinnert werden  – schließlich macht die Lektüre fast genauso viel Spaß.

Rainald Goetz:  »Johann Holtrop«
Rainald Goetz: »Johann Holtrop«

»Johann Holtrop« nennt sich Roman, aber Gattungsangaben dieser Art sind bei Goetz wenn überhaupt als grobe Empfehlung zu verstehen, siehe das Internettagebuch »Abfall für alle«, der »Roman eines Jahres«. Und darum wird in Besprechungen und Rezensionen bereits munter spekuliert, welche realen Personen sich hinter der literarischen Verkleidung verbergen, wer hier wie und warum gedisst wird. So erwartbar, so langweilig. Spannend wird es, wenn man »Johann Holtrop« als Ganzes nimmt, nicht als Beschreibung einer Person, sondern als genuin künstlerische Annäherung an die Mechanismen und Folgen einer Produktions- und Wirtschaftsweise. Und siehe da, realiter die gleiche Undurchsichtigkeit, der gleiche Irrsinn wie in echt. Warum die Personen so handeln wie sie handeln, und wie sie handeln, soll heißen: was sie tun, wissen weder sie selbst noch der Leser. Klar wird nur, dass die schöne neue Welt des Kapitalismus schlussendlich im Chaos versinkt, zusammen mit dem Protagonisten, naturgemäß und verdientermaßen. Aber in der wenig versteckten Genugtuung ob Holtrops Untergang steckt der Haken: Goetz‘ Furor ist der Ohnmacht geschuldet, nichts ausrichten zu können. Es ist nicht der Erzähler, der Holtrop zu Fall bringt, sondern eben jenes System, das ihn erst nach oben gespült hat. Der Gegenwartschronist spuckt Gift und Galle, nicht weil er verachtet, was er zu beschreiben verdammt ist, sondern weil er zusehen muss, wie alles auch weiterhin seinen Lauf nimmt. Keine Illusionen, nur mehr Wut, das ist die bittere Konsequenz. »Mit der Klarheit nimmt die Kälte zu.« Auch so ein Bernhardsatz.

 

Rainald Goetz (geb. 1954) ist promovierter Mediziner und Historiker und ein maßgeblicher Protagonist der so genannten Popliteratur der 80er und 90er Jahre. Zum Werkteil »Schlucht« gehören außer »Johann Holtrop« die Bände »Klage« (2008), »loslabern« (2009), »elfter september 2010« (2010), »D.I.E abstrakte« (2010, zusammen mit Albert Oehlen), »Kapitalistischer Realismus« (2010) sowie »politische fotographie« (2011). »Johann Holtrop« schaffte es auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012.  


Rainald Goetz: »Johann Holtrop«. Suhrkamp: Berlin 2012. 

 

Der Kreis der potenziellen Preisträger wird kleiner. Auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2012, die heute vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels bekannt gegeben wurde, finden sich noch sechs Titel, darunter allein drei des Berliner Suhrkamp Verlags. Auch Wolfgang Herrndorf, der für seinen zu recht gefeierten Roman »Sand« bereits den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat, ist weiter im Rennen.

Der Gewinner wird bei der Preisverleihung zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse am 8. Oktober bekannt gegeben.

 

 

 

 

 

 

Die Nominierten der Shortlist:

• Ernst Augustin: »Robinsons blaues Haus« (C.H.Beck, Januar 2012)

• Wolfgang Herrndorf: »Sand« (Rowohlt.Berlin, November 2011)

• Ursula Krechel: »Landgericht« (Jung und Jung, August 2012)

• Clemens J. Setz: »Indigo«(Suhrkamp, September 2012)

• Stephan Thome: »Fliehkräfte« (Suhrkamp, September 2012)

• Ulf Erdmann Ziegler: »Nichts Weißes« (Suhrkamp, August 2012)

»How dare you?« (Quelle: london.indymedia.com)
»How dare you?« (Quelle: london.indymedia.com)

Donnerstag, 4. August 2011, im Londoner Stadtteil Tottenham. Auf dem Weg nach Hause wurde Mark Duggan von der britischen Polizei erschossen. Umgehend ließ ein Polizeisprecher verlauten, dass der 28-Jährige zuerst das Feuer eröffnet habe. Eine Lüge, wie sich im Nachhinein herausstellte. Duggans Tod war die Initialzündung für die schwersten Unruhen, die das Vereinigte Königreich seit Jahren erlebt hat. Brennende Autos, geplünderte Geschäfte, Polizei auf den Straßen. Für wenige Tage herrschte in der britischen Hauptstadt der Ausnahmezustand, die Staatsgewalt war an ihre Grenzen gestoßen. Doch die Reaktion folgte umgehend: willkürliche Verhaftungen, denen hunderte Menschen zum Opfer fielen, eine massive Zunahme polizeilicher Repression und schließlich Verurteilungen, die nach allen Standards der Rechtsstaatlichkeit eine Farce waren.

Für die bürgerlichen Medien und die politische Führung war die Sache erwartungsgemäß schnell klar: Einhellig wurde ein hartes Durchgreifen gefordert, Politiker und Kommentatoren sprachen den Unruhen jegliche politische Dimension ab. Es handle sich, so der Tenor, schlicht und ergreifend um Akte sinnloser Gewalt, verübt von Kriminellen, die Duggans Tod als Ausrede für ihre Lust an der Destruktion missbrauchten. Beobachter aus dem linken Lager taten sich hingegen schwer, die Ereignisse zu analysieren und einzuordnen. Auf eine Einschätzung folgte die nächste und wiederum die nächste, immer schwankend zwischen Solidarität mit den Aufständischen und Kritik an der Form des Aufstands. Der Sammelband »Wenn die Toten erwachen. Die Riots in England 2011«, erschienen in der Reihe Laika Diskurs, versucht nun einen Überblick über dieses Gewirr von Stimmen zu verschaffen.

»Wenn die Toten erwachen. Die Riots in England 2011«
»Wenn die Toten erwachen. Die Riots in England 2011«

Äußerst heterogen ist dieser Sammelband, und das in vielerlei Hinsicht. Er versammelt Pamphlete, Stellungnahmen und Analysen, geschrieben von Einzelnen oder Gruppen, anonym oder mit Namen versehen. Vieles davon ist lesenswert, anderes uninteressant, weniges ärgerlich. Doch tauchen immer wieder die gleichen Fragen auf: Es geht um die politische Dimension der Aufstände, um die Folgen und Konsequenzen, um die Anschlussfähigkeit linker Politik und das Verhältnis zu den Revolten der Vergangenheit und heute, im Nahen Osten und Nordafrika – Fragen, auf die Texte ganz unterschiedliche Antworten geben. Nur eines scheint sicher zu sein: Die Situation ist »komplexer […], als es der Trommelwirbel aus Angst und Verachtung in den Konzernmedien vermuten ließe«. Aus diesem Grund sind aber eben jene Beiträge besonders bedenkenswert, die diese Komplexität anerkennen, die die Ambiguitäten nicht auflösen und die nicht versuchen, die Ereignisse in ein festes Interpretationsschema zu pressen.

Viele fragen sich: Was wollen die denn? Die Antwort schien zu lauten: Turnschuhe. Was soll daran politisch sein, bei Foot Locker zu klauen?

Diejenigen, die im August 2011 randalierten und plünderten, sehen sich um ihr Glück betrogen und sind nicht so dumm, den alltäglichen Beteuerungen und Beschwichtigungen länger zu glauben. Ihre Gewalt richtete sich aber nicht primär gegen die, die für diese Zustände verantwortlich sind, sondern gegen Menschen, denen es nur unwesentlich besser geht – kleine Ladenbesitzer, Nachbarn und Anwohner. Evan Calder Williams weist in seiner Analyse darum ganz zurecht auf den Umstand hin, dass Opfer und Täter nicht allzu verschieden sind. Außerdem merkt er an, dass die Unruhen eines ganz materialistischen Kern haben, nämlich die Befriedigung von Konsumbedürfnissen. Auch dieser Aspekt wird in den Texten immer wieder aufgegriffen. In eben diesem Sinne sieht etwa Slavoj Žižek in den Protesten eine »ironische Antwort auf die Konsumideologie«:

Ihr ruft uns auf zu konsumieren und nehmt uns zugleich die Mittel, dies zu tun – hier sind wir nun und machen es in der einzigen Weise, die uns bleibt!

Zugleich bemängelt er aber »die Tatsache, dass die Aufständischen kein Programm haben«. Der »Protest am Nullpunkt« bringe »eine authentische Wut zum Ausdruck, die jedoch nicht in der Lage ist, sich in ein positives Programm gesellschaftlichen Wandels zu transformieren«. Es herrsche »der Geist der Revolte ohne Revolution«. Übrigens ist Žižeks Text mit dem Titel eines Smiths-Klassikers überschrieben: »Shoplifters of the World«. Er traut sich nicht hinzuzufügen: »Unite and take over«.

»Wenn die Toten erwachen. Die Riots in England 2011«. Laika: Hamburg 2012. 

 

In Juli Zehs Roman »Nullzeit« bricht das Unheil in Person eines Touristenpaars herein. Sie hört auf den klangvollen Namen Jolanthe Augusta Sophie von der Pahlen, kurz Jola, und ist Darstellerin in einer Seifenoper mit Ambitionen auf die große Filmkarriere. Er heißt Theodor und schreibt Romane, doch seine einzige Veröffentlichung liegt Jahre zurück. Zusammen machen sie Urlaub auf Lanzarote, wo Jola zur Vorbereitung auf eine Filmrolle das Tauchen lernen will. Es soll ihr Durchbruch werden, und aus diesem Grund engagiert sie den erfahrenen Tauchlehrer Sven, einen Auswanderer, der Deutschland vor nunmehr vierzehn Jahren den Rücken gekehrt hat und der mit Unterstützung seiner Freundin Antje abenteuerlustige Touristen in die Tiefen den Atlantiks führt. Weiterlesen

Die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012 steht fest. Unter den zwanzig Nominierten finden sich sowohl Newcomer wie Olga Grjasnowa, die mit »Der Russe ist einer, der Birken liebt« für Furore sorgte, als auch alte Bekannte, unter anderem Rainald Goetz, dessen neuer Roman »Johann Holtrop« im Spätsommer erscheinen wird, und Clemens J. Setz, der bereits im vergangenen Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse gewann. Insgsamt zeichne sich die diesjährige Longlist durch eine verblüffende »Welthaltigkeit« aus, so Jury-Sprecher Andreas Isenschmid: »Kaum eine Dimension, die nicht vorkommt: die große Liebe und der avancierteste Kapitalismus, die Erfahrung des Heiligen so gut wie Schocks der Kälte und Einsamkeit. Unsere zwanzig besten Romane greifen aus: in den Jemen, nach Nordafrika, nach Polen und nach Argentinien, ins gänzlich Imaginierte sowieso.«

Die Shortlist mit verbleibenden sechs Titeln wird am 12. September bekannt gegeben, der Gewinner bei der Preisverleihung zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse am 8. Oktober.

Die Longlist des Deutschen Buchpreises 2012:

• Ernst Augustin: Robinsons blaues Haus (C. H. Beck, Januar 2012)

• Bernd Cailloux: Gutgeschriebene Verluste (Suhrkamp, Februar 2012)

• Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend (Knaus, September 2012)

• Milena Michiko Flašar: Ich nannte ihn Krawatte (Wagenbach, Ja-nuar 2012)

• Rainald Goetz: Johann Holtrop (Suhrkamp, September 2012)

• Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt (Hanser, Februar 2012)

• Wolfgang Herrndorf: Sand (Rowohlt.Berlin, November 2011)

• Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben Zügen (Frankfurter Verlags-anstalt, September 2012)

• Germán Kratochwil: Scherbengericht (Picus, Februar 2012)

• Ursula Krechel: Landgericht (Jung und Jung, August 2012)

• Dea Loher: Bugatti taucht auf (Wallstein, März 2012)

• Angelika Meier: Heimlich, heimlich mich vergiss (Diaphanes, März 2012)

• Sten Nadolny: Weitlings Sommerfrische (Piper, Mai 2012)

• Christoph Peters: Wir in Kahlenbeck (Luchterhand, August 2012)

• Michael Roes: die Laute (Matthes & Seitz Berlin, September 2012)

• Patrick Roth: Sunrise (Wallstein, März 2012)

• Frank Schulz: Onno Viets und der Irre vom Kiez (Galiani Berlin, Februar 2012)

• Clemens J. Setz: Indigo (Suhrkamp, September 2012)

• Stephan Thome: Fliehkräfte (Suhrkamp, September 2012)

• Ulf Erdmann Ziegler: Nichts Weißes (Suhrkamp, August 2012)

Update 22.08.2012: Einen schönen und informativen Überblick über die die nominierten Titel inklusive Kurzvorstellung gibt es hier.

Lässt sich die Verwechslung des einfältigen, aber grundsympathischen Donny in »The Big Lebowski« allein auf den ähnlichen Klang der Namen zurückführen? Oder weist sie nicht auch subtil darauf hin, dass John Lennon allgegenwärtig ist, Wladimir Iljitsch Lenin aber allenfalls noch als historische Person wahrgenommen wird? Man mache die Probe und spaziere mit offenen Augen durch eine x-beliebige Buchhandlung: Lenins umfangreiches Werk, das inklusive der Briefe mehr als fünfzig Bände umfasst, ist verschwunden, aus den Regalen und aus den Köpfen. In einer Zeit, in der Marx mit allerlei Verrenkungen zum Gewährsmann selbstkritischer Liberaler entstellt wird, ist von einem seiner bedeutendsten Nachfolger weit und breit nichts zu sehen respektive zu lesen. Woran liegt das? Und lohnt es sich, dem entgegenzuwirken oder ist Lenins Werk zurecht in Vergessenheit geraten? Weiterlesen

In Max Barrys Roman »Maschinenmann« nimmt der Drang zur permanenten Selbstoptimierung der menschlichen Physis erfrischend rustikale Züge an. Kein Fitnessstudio, um Muskeln aufzubauen und die Kondition zu erhöhen, keine plastische Chirurgie, um die Haut zu straffen und die perfekte Silhouette herzustellen. Der Körper ist kein Teil der Lösung, sondern ein Teil des Problems. Das wird Charlie Neumann bewusst, als das wenig spektakuläre Leben des scheuen Ingenieurs plötzlich durch einen Unfall aus den Fugen gerät. Eine hydraulische Zwinge hat Charlies Bein vom Oberschenkel abwärts in einen Haufen Matsch und Blut verwandelt, und die Prothese ersetzt das fehlende Glied nur äußerst unzureichend. Beim Versuch, die künstliche Bein zu verbessern, muss Charlie schnell erkennen, dass die mimetische Nachbildung der Natur in eine Sackgasse führt. Weiterlesen

»Das Gespenst des Kapitals« – der Titel von Joseph Vogls 2010 erschienenem Essay, der  gleichermaßen an Marx‘ Opus Magnum wie an Derridas »Spectre de Marx« erinnert, gibt die Richtung vor. Hier betreibt jemand die Fortführung einer Kritik der politischen Ökonomie mit poststrukturalistischem Begriffs- und Analyserepertoire. Und wie! Unerbittlich und doch präzise seziert Vogl die liberal-kapitalistische »Oikozidee«, wonach »der Markt« die Dinge früher oder später schon regeln wird. Bisweilen kann man ob der Belesenheit des Autors dabei beinahe vergessen, dass der Literaturwissenschaftler Vogl gar nicht vom Fach ist. Für den in ökonomischer Theorie weitgehend unbewanderten Leser gestaltet sich die Lektüre nicht unbedingt einfach, aber die Mühe lohnt. Muss man alles en détail verstehen, was Vogl herbeizitiert? Nein. Muss man »Das Gespenst des Kapitals« trotzdem lesen? Unbedingt.

Aus der Klassikerkiste: Bertolt Brechts »Die heilige Johanna der Schlachthöfe«. Zwar immer noch und im Zuge der Finanzkrise sogar wieder vermehrt auf deutschsprachigen Bühnen gespielt, zuletzt unter anderem am Wiener Burgtheater, in Darmstadt und in Weimar, ist »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« wohl nicht das bekannteste Stück Brechts, sicher aber eines der radikalsten. Ein Abgesang auf den Idealismus und die auch heute weit verbreitete Manier, Politik durch Moral zu ersetzten. Zu spät merkt Johanna, die namensgebende Protagonisten des Stücks, dass Appelle an Großzügigkeit und Humanität zu keinem Ausweg führen: »Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht […]«. Merke: Wenn man nach der Lektüre die anhaltende Lust verspürt, das System zu stürzen, war das Lesen nicht vergebens.

Noch mal »Suhrkamp«, noch mal Berlin. Vielleicht liegt es am unheilvollen Einfluss dieser Stadt, in der nichts fertig zu werden scheint, keine Flughäfen und jetzt auch keine Bücher? Jedenfalls wurde die Veröffentlichung des Sammelbands »Demokratie?« (genau, mit Fragezeichen dahinter) immer wieder verschoben, jetzt wird der 13. August angepeilt. Wollen wir hoffen, dass es dabei bleibt, denn wenn die klügsten und interessantesten Köpfe der kritischen Gegenwartsphilosophie sich zum Thema Demokratie auslassen, ist wohl mehr zu erwarten als die immer gleichen hohlen Phrasen und liberales Sonntagsgeschwätz. Agamben, Badiou, Rancière, Žižek – Demokratie!

Mehr noch als der beispiellose Zuspruch an sich ist bemerkenswert, dass David Graebers »Schulden. Die ersten 5000 Jahre« diesen quer durch das politische Spektrum erfährt, von der konservativen »FAZ» bis zur linken »Konkret«. Spricht der in den Augen vieler unlängst zum Kapitalismuskritiker geläuterte »FAZ«-Herausgeber Frank Schirrmacher schlicht von einer »Befreiung«, so wundert sich der »Konkret«-Rezensent Matthias Becker in der Juli-Ausgabe des Magazins, dass »Schulden« trotz der Lobeshymnen von »FAZ«, »Spiegel« und Co. »ein großartiges Buch« geworden sei. Dabei lässt der große Erfolg bei Kritikern wie Lesern (aktuell Platz 6. der »Spiegel«-Bestsellerliste Sachbuch) vermuten, dass »Schulden« so etwas wie das Buch zur Krise ist – der lang ersehnte Versuch, die unglaublichen Vorgänge in Europa und weltweit zu begreifen. Doch dieser Eindruck täuscht zumindest teilweise: Obwohl »Schulden« durchaus versucht, den Bogen zu aktuellen Entwicklungen zu spannen, taucht die Schuldenproblematik der Gegenwart nur am Rande auf, nämlich im ersten und letzten Kapitel. Das ist nur zu begrüßen, immerhin zirkulieren Deutungen der Krise allenthalben und doch mangelt es meist am historischen Weitblick, um die derzeitigen ökonomischen Verwerfungen verstehbar und somit auch jenseits einfacher moralischer Schuldzuweisungen kritisierbar zu machen. Stattdessen dominieren Einschätzungen, die sich meist der hergebrachten wirtschaftswissenschaftlichen Ansätze bedienen und folglich jene Ideologie reproduzieren, die zur gegenwärtigen Misere wesentlich beigetragen hat. Kein Wunder, dass das schließlich zu solch absurden Forderungen wie der nach einem »neuen Kapitalismus« führt, aber dazu hat die »Titanic« ja bereits alles notwendige gesagt – »Jedes System hat halt die Logiker, die es verdient«. Weiterlesen