Mehr noch als der beispiellose Zuspruch an sich ist bemerkenswert, dass David Graebers »Schulden. Die ersten 5000 Jahre« diesen quer durch das politische Spektrum erfährt, von der konservativen »FAZ» bis zur linken »Konkret«. Spricht der in den Augen vieler unlängst zum Kapitalismuskritiker geläuterte »FAZ«-Herausgeber Frank Schirrmacher schlicht von einer »Befreiung«, so wundert sich der »Konkret«-Rezensent Matthias Becker in der Juli-Ausgabe des Magazins, dass »Schulden« trotz der Lobeshymnen von »FAZ«, »Spiegel« und Co. »ein großartiges Buch« geworden sei. Dabei lässt der große Erfolg bei Kritikern wie Lesern (aktuell Platz 6. der »Spiegel«-Bestsellerliste Sachbuch) vermuten, dass »Schulden« so etwas wie das Buch zur Krise ist – der lang ersehnte Versuch, die unglaublichen Vorgänge in Europa und weltweit zu begreifen. Doch dieser Eindruck täuscht zumindest teilweise: Obwohl »Schulden« durchaus versucht, den Bogen zu aktuellen Entwicklungen zu spannen, taucht die Schuldenproblematik der Gegenwart nur am Rande auf, nämlich im ersten und letzten Kapitel. Das ist nur zu begrüßen, immerhin zirkulieren Deutungen der Krise allenthalben und doch mangelt es meist am historischen Weitblick, um die derzeitigen ökonomischen Verwerfungen verstehbar und somit auch jenseits einfacher moralischer Schuldzuweisungen kritisierbar zu machen. Stattdessen dominieren Einschätzungen, die sich meist der hergebrachten wirtschaftswissenschaftlichen Ansätze bedienen und folglich jene Ideologie reproduzieren, die zur gegenwärtigen Misere wesentlich beigetragen hat. Kein Wunder, dass das schließlich zu solch absurden Forderungen wie der nach einem »neuen Kapitalismus« führt, aber dazu hat die »Titanic« ja bereits alles notwendige gesagt – »Jedes System hat halt die Logiker, die es verdient«.

Zurück zu »Schulden«: Wenn Graebers Buch doch von größter Aktualität ist, dann deshalb, weil es diesen bislang fehlenden historischen Hintergrund bereitstellt. Detailliert stellt der Ethnologe Graeber dar, wie schon frühe Hochkulturen Kreditsysteme etablierten und somit ihr Wirtschaftssystem auf einer Form von »virtuellem Geld« aufbauten. Bereits im Mesopotamien der Bronzezeit wurde etwa präzise dokumentiert, wer einem anderen etwas schuldete. Von dort aus und auf der Basis eines ausgiebigen Quellenstudiums nimmt »Schulden« den Leser mit zu einer rund  5000 Jahre umfassenden Revue, zu den Großreichen in China und Indien ebenso wie zu afrikanischen Stammeskulturen und dem Europa des Mittelalters und der frühen Neuzeit sowie darüber hinaus. Dass der Leser ob der schieren Masse an Informationen und der Ausführlichkeit, mit der Graeber sich seinem Thema widmet, nicht die Geduld verliert, verdankt sich nicht zuletzt der launigen und kurzweiligen Schreibweise, die eine oder andere Pointe inbegriffen.

Hinter diesem historischen Parcours steht ein doppelter Ansatz: Erstens zeigt Graeber, welch fundamentale Bedeutung das System der Schulden für die Entwicklung der gegenwärtigen marktwirtschaftlichen Ordnung hatte und gleichzeitig, wie eng es mit Formen der Ausbeutung, Unterdrückung und Sklaverei verbunden war und immer noch verbunden ist. Schon immer waren Schulden ein Instrument der Herrschenden und Mächtigen, was sich nicht zuletzt in einer bemerkenswerten Ungleichbehandlung zeigt, die bis heute anhält: Sind Schulden zwei einerseits egalitär und abstrakt, so bestimmt doch letztlich die Stellung des Schuldners in der Machthierarchie, ob dieser einen geschuldeten Betrag zahlen muss oder nicht. Und zweitens stellt Graeber dar, dass das System der Schulden extreme Wandlungen durchlaufen hat, und das keineswegs immer freiwillig. Im Laufe der Jahrtausende haben sich ihm von Seiten der Betroffenen, also der Schuldner, teils erstaunlich erfolgreiche Widerstände in den Weg gestellt. Manch antiker Herrscher führte einen regelmäßigen Schuldenerlass ein um Aufstände der Bevölkerung zu vermeiden, zudem wendeten sich nahezu alle bedeutenden Religionen gegen das Prinzip, Geld für Zinsen zu verleihen. Doch weder Zugeständnisse noch moralische Verurteilungen konnten verhindern, dass es immer wieder zu Revolutionen kam, die primär das Ziel hatten, die Schulden der einfachen Bevölkerung zu tilgen, tabula rasa zu machen – eine Vorstellung, die heute, da die Rückzahlung von Schulden zum sakrosankten moralischen Prinzip erhoben wird, unvorstellbar erscheint.

Zusammen führt das zu einem paradoxen Bild: So grundlegend das System der Schulden auch ist und so fatal sich seine Auswirkungen für die Menschen bisweilen darstellen, so ist es doch von Menschen gemacht und keinesfalls so »natürlich« wie mitunter gern von seinen Profiteuren behauptet wird. Gerade die Tatsache, das keine Gesellschaftsform ganz ohne Schulden auskommt, ermöglicht doch einen neuen Blick auf die Frage, ob Schulden tatsächlich und um jeden Preis beglichen werden müssen. Denn diese Vorstellung ist nicht nur relativ neu, sondern überdies ökonomisch falsch: Würden Schulden tatsächlich immer zurückgezahlt werden, bestünde ja kein Risiko und das ganze System bräche in sich zusammen. Gleichzeitig lässt sich hier die Entwicklung eines unbedingten moralischen Imperativs beobachten, der im Zusammenhang von materiellen Schulden und individueller Schuld besteht. Schuldner werden nicht nur für beinahe rechtlos, sondern darüber hinaus noch für moralisch »schuldig« erklärt. Doch wie gesagt, Graebers Sache ist nicht die Analyse der Gegenwart, vielmehr schärft er den Blick für die Hintergründe und Entwicklungen. Sein großer Verdienst besteht darin, dass er aufzeigt, wie sich das System der modernen Versklavung mittels Schulden entwickelt hat – wie es sich beseitigen lässt, das müssen andere sagen und schreiben, und mehr noch, denn Worte allein helfen wohl kaum. Immerhin, der Erfolg von Graebers Buch gibt Anlass zur Hoffnung.

David Graeber, geboren 1961, war Professor für Ethonologie in Yale und lehrt derzeit am Goldsmiths College in London. Der Anarchist Graeber gilt als Vordenker der »Occupy«-Bewegung und ist u.a. Mitglied der »Industrial Workers of the World«

David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Aus dem Amerikanischen von Ursel Schäfer, Hans Freundl und Stephan Gebauer. Klett-Cotta: Stuttgart 2012. 

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