Lässt sich die Verwechslung des einfältigen, aber grundsympathischen Donny in »The Big Lebowski« allein auf den ähnlichen Klang der Namen zurückführen? Oder weist sie nicht auch subtil darauf hin, dass John Lennon allgegenwärtig ist, Wladimir Iljitsch Lenin aber allenfalls noch als historische Person wahrgenommen wird? Man mache die Probe und spaziere mit offenen Augen durch eine x-beliebige Buchhandlung: Lenins umfangreiches Werk, das inklusive der Briefe mehr als fünfzig Bände umfasst, ist verschwunden, aus den Regalen und aus den Köpfen. In einer Zeit, in der Marx mit allerlei Verrenkungen zum Gewährsmann selbstkritischer Liberaler entstellt wird, ist von einem seiner bedeutendsten Nachfolger weit und breit nichts zu sehen respektive zu lesen. Woran liegt das? Und lohnt es sich, dem entgegenzuwirken oder ist Lenins Werk zurecht in Vergessenheit geraten?

Lenin ist aktueller denn je, meint Dietmar Dath, der die Einführung zur Neuauflage von Lenins »Staat und Revolution« in der Reihe »Marxist Pocket Books« geschrieben hat:

Ein Buch, das rund einhundert Jahre alt ist, erinnert uns an Vorraussetzungen, Umstände, absehbare Folgen, historische und logische Bedingungen auch und gerade der alleraktuellsten Kämpfe gegen Unterdrückung, Ausschluss, Unrecht und Lüge.

Die Einzelheiten unserer Kämpfe konnte der Verfasser nicht kennen.

Was er sagt, spricht dennoch an vielen Stellen verblüffend unmittelbar von ihnen, nämlich von den Konturen des Wünschenswerten im Schlamm des Vorhandenen, die man wird herausarbeiten müssen.

Dath macht von Anfang an klar, dass er Lenins Einsichten und die daraus abgeleiteten Forderungen teilt. Konkret heißt das: die Abschaffung der kapitalistischen Eigentumsordnung, mithin ein Ende aller Verhältnisse, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Weil aber zu erwarten ist, dass das ohne den Widerstand derjenigen, die momentan vom Elend anderer profitieren, nicht zu machen ist: »Revolution«. Und weil der Staat zwar ein Übel ist, die Antwort aber nicht »kein Staat«, sondern nur »Diktatur des Proletariats« lauten kann: »Staat«.

Zusammen also: »Staat und Revolution«.

Und by the way gibt Dath somit nicht nur eine Erklärung, warum man Lenin heute publizieren und lesen sollte, sondern auch woher die anhaltende Ignoranz rührt. Denn Lenin ist von allen, die Marx weiter gedacht haben, der illiberalste, der unbequemste. Vielleicht gerade deswegen aber auch der treuste. Womit wir wieder bei «The Big Lebowski» sind: »It‘s like Lenin said…« Oder Dath, dessen kenntnisreiche Einführung grandios geschrieben ist. Sie kann die Lektüre von »Staat und Revolution« nicht ersetzen, wohl aber anregen. Ein Klassiker, den es neu zu entdecken gilt – bitte revoltieren Sie!

Dietmar Dath, geboren 1970, ist Autor, Übersetzer und Journalist. Er war von 1998 bis 2000 Chefredakteur der »Spex« und anschließend bis 2007 Redakteur der »FAZ«, für die er auch heute wieder schreibt. Sein umfangreiches Werk umfasst unter anderem Prosa, Lyrik und Sachbücher. Zuletzt erschien in Zusammenarbeit mit Barbara Kichner im Frühjahr 2012 »Der Implex«.

In der Reihe »Marxist Pocket Books« sind außerdem erschienen: Terry Eagleton zu Karl Marx/ Friedrich Engels: »Manifest der kommunistischen Partei« (Bd. 1) (zu Eagletons »Warum Marx recht hat«: hier) und Barbara Kirchner zu Alexandra Kollontai: »Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin« (Bd. 3) (zu »Der Implex« von Dath und Kirchner: hier). In Planung sind u.a. Bände zu Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, Antonio Gramsci: »Der moderne Prinz«, Paul Lafargue: »Das Recht auf Faulheit« und Oscar Wilde: »Der Sozialismus und die Seele des Menschen«. 

Dietmar Dath zu Wladimir Iljitsch Lenin: Staat und Revolution. Laika: Hamburg 2012 (=Marxist Pocket Books Bd. 2).

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