Zuhause ist es immer noch am schrecklichsten. Da geht man über die Straße und wird gegrüßt von einem, den man doch eigentlich gar nicht mehr kennen will. Der Nachbar wünscht einen guten Tag, doch weiß man: gerade eben hat er hinter verschlossener Tür seine Frau angeschrien. Und am schlimmsten: die eigenen Geheimnisse stehen für alle sichtbar auf der gerunzelten Stirn geschrieben.

Sherwood Anderson hat über die kleinen privaten Geheimnisse, Schrecklichkeiten, Abgründe ein Buch geschrieben, das vielleicht schönste Buch, das während des ersten Weltkriegs verfasst wurde. »Winesburg, Ohio« heißt dieses Portrait einer Kleinstadt im nördlichen Nirgendwo Amerikas und dort, in diesem fiktiven Ort, spielt sich auch das Geschehen ab: Junge Männer hadern mit ihrer Zukunft, die Alten versinken in Depressionen, die Frauen sind vergrämt und ein quirliger Reporter der Lokalzeitung »Winesburg Eagle« bringt sie alle zusammen. Mit dem Progressivismus und kurz vor dem Beginn der Industrialisierung verlieren die Menschen die Nerven und den Sinn für die Traditionen des Landlebens. Die Stadt lockt mit Versprechungen, doch wer wagt schon den ersten Schritt ins Neue?

Die kranke Frau verbrachte die letzten Monate ihres Lebens mit der Sehnsucht nach dem Tod.

In rund zwanzig lose zusammenhängenden Episoden schildert der Erzähler das Leben in Winesburg, blickt dabei tief in die Augen der Bewohner. Pfarrer Curtis wird beobachtet, wie er den weltlichen Versuchungen zu widerstehen versucht. Es wird die unglückliche Liebesgeschichte von Belle Carpenter geschildert und die Lethargie des müden Doktors Parcival. »Es waren die Wahrheiten, die die Leute zu grotesken Gestalten machte«, steht in diesem Buch – es ist der Leitspruch aller hier versammelten Erzählungen.

Sherwood Anderson schrieb einige Jahre an diesem Erzählband, der 1919 veröffentlicht wurde. Er modellierte das fiktive Winesburg nach dem Vorbild der Kleinstadt, in der er selbst sozialisiert wurde: Clyde, Ohio. Die Desillusionierung der Menschen hat er eingefangen und schildert sie in knappen Erzählungen. Hier wimmelt es von Selbstbetrug, Täuschungen und Argwohn. Dass die Geschichten in ihrer Dramatik, in ihrem Duktus an die Erzählstrukturen der Bibel erinnern, das ist kein Zufall. Entsprechend groß ist die Verführung, anhand der auftretenden Personenschar Allegorien auszumachen, dem großen Ganzen hinterherzujagen. Die Erkenntnis kommt zum Schluss: es ist nicht vorhanden. Es sind traurigen Geschichten, die das Leben schreibt.

In der Beziehung zwischen Seth Richmond und seiner Mutter gab es etwas, was seinen gesamten Umgang mit Männern schon im Alter von achtzehn Jahren geprägt hatte.

Trotz des vermuteten Überbaus und der teilweise mitunter artifiziellen Sprache liest man jede der rund 300 Seiten mit klopfendem Herzen und glühenden Fingern. Der Manesse-Verlag hat diesem schmalen, zeitlosen Meisterwerk nun eine Neuübersetzung geschenkt, die der erfahrene Eike Schönfeld übernommen hat. Daniel Kehlmann hat ein lesenswertes Nachwort verfasst. Doch muss man es eigentlich niemandem mehr erklären: Längst ist »Winesburg, Ohio« zu einem Klassiker des frühen amerikanischen Realismus avanciert, einem Vorkämpfer der Shortstory, für Hemingway, Carver und Johnson. Die Menschen, die in diesem Winesburg leben, haben Haut und Haare. Mit scharfen, präzisen Sätzen kommt ihnen Anderson auf die Schliche, zeichnet ihre Charaktere mit wenigen Strichen. Und wird dieser Erzählband nun bald 100 Jahre alt sein, so kann er uns doch immer noch eine Menge über uns und unsere Zeit verraten.

 

Sherwood Anderson: »Winesburg, Ohio«. Eine Reihe von Erzählungen aus dem Kleinstadtleben Ohios. Aus dem amerikanischen Englisch von Eike Schönfeld. Nachwort von Daniel Kehlmann. Manesse Verlag: Zürich 2012.

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