enjoy140 Zeichen hat der User auf »Twitter« zu Verfügung, um zu kommunizieren. Die Folge: extrem verdichtete Satzkonstruktionen, Bedeutungsverschiebungen und grammatikalische Katastrophen. Die getippte Sprache büßt in sozialen Netzwerken ihre Funktion ein und wird sich über kurz oder lang der Übermacht des bewegten Bilds geschlagen geben müssen. Die Verlinkung eines Videos ist die Sprache der Zukunft. Was tun?, fragt sich der Nostalgiker.

Liebhaber des gedruckten Worts wie Solange Bied-Charreton können nur eines tun: Literatur produzieren, die auf Gefahren der Digitalisierung hinweist. Denn nicht nur die Sprache verändert sich, auch der Nutzer, ja der Mensch, unterliegt einer Entwicklung, die ihn zum »digital native« werden lässt. Eine gern und häufig verwendete Bezeichnung in den Lebensläufen dieser Tage. Doch ist »digital native«-sein erstrebenswert? Was bleibt auf der Strecke, wenn das Virtuelle zum Lebensraum wird?

Diesen Fragen geht Bied-Charreton in ihrem Romandebüt »Enjoy« nach. Erschienen ist das Buch 2012 in Frankreich. In diesem Jahr nun in der deutschen Übersetzung. In ambitionierter Sprache greift die Autorin Problematiken mit sozialen Netzwerken auf. Sie positioniert knapp 250 Seiten gegen die Mechanismen von »Facebook, Twitter« & Co. Dabei bündelt sie die Netzwerke der Realität in eine einzige, dem Text eigene, Plattform, die sie »ShowYou» nennt.

Die Existenz war ein Spiegel, in welchem man sich reflektierte, ohne zu reflektieren. Alles war tot, einzig der Bildschirm war das Leben.

»ShowYou» ist die überspitzte Version eines »sozialen« Netzwerks, das den User zwingt, aktives Mitglied zu sein. Pro Woche muss ein Video hochgeladen werden, sei es so belanglos wie es nur wolle – Hauptsache Content. Unübersehbar: die Verwandtschaft zu zweifelhaften Statusmeldungen oder überflüssigen Hashtags. Verweigert man sich »ShowYous» Nutzerbedingungen folgt der sofortige Ausschluss, der in Bied-Charretons erzählter Welt einem undenkbaren Szenario gleicht. Dystopische Elemente lassen sich erahnen – da ist Dave Eggers »Der Circle« in greifbarer Nähe.

Was Bied-Charreton inszeniert, ist die Erkenntnisfähigkeit des Protagonisten Charles, der dem Sog von »ShowYou» zwar verfällt, sich aber noch rechtzeitig für die »richtige« Seite entscheidet. Eine Wunschvorstellung? Seine Freundschaft zu Anne-Laure, die jegliches digitales Angebot meidet und immer mit dickem Buch unter dem Arm anzutreffen ist, öffnet Charles die Augen. Mit ihr entdeckt er die Katakomben der Stadt, den Klang handgemachter Musik und die Leidenschaft für das geschriebene Wort.

Die Stadt war nur der Deckel einer anderen Stadt, unterirdisch, im Geheimen erlaubt. Dies war die wirkliche Welt, ohne Computer dargeboten, ohne soziales Netzwerk.

Und noch viel wichtiger: Charles wird sich seiner Selbst bewusst. Wo zu Beginn des Romans ein Paradebeispiel für eine meinungsmüde Generation stand, zeigt sich gegen Ende ein Protagonist, der über sein Leben zu entscheiden weiß und vor allem seine Zeit mit Verantwortung einsetzen will. Den Verlust an Identität, der durch das digitale Miterleben anderer Lebensentwürfe seine eigenen Ambitionen auszulöschen droht, nimmt Charles nicht klaglos hin. Er begehrt auf, sogar gegen seinen Arbeitgeber – eine Seltenheit.

»Enjoy« ist ein kluges Buch, das vor allem Stärke in der Bestandsaufnahme der digitalen Generation zeigt. Es mag an der Übersetzung liegen: ab und an liest sich die bewusst eingestreute Sprache aus dem Netz holprig und verfehlt die mögliche ironische Intention. Ebenso wirkt die ein oder andere Eskapade rund um Charles’ Arbeitgeber so, als wäre der Wunsch aufgekommen, noch ein wenig mehr zu wollen.

Solange Bied-Charreton geht kühn den Weg der Nostalgikerin, der Zeigefinger bleibt nur Kontur und sie wird paradoxerweise, aber mit gutem Recht, zahlreiche nach oben gestreckte Daumen auf ihrer Facebook-Seite ergattern können.

Solange Bied-Charreton: Enjoy. Aus dem Französischen von Annemarie Berger. Sujet Verlag: Bremen 2015.

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