Pilarczyk schreibt: »Genau wie das Wort Neger steht die Praxis, sich das Gesicht schwarz anzumalen, in einer rassistischen Tradition: In den Minstrel-Shows, die nach dem Bürgerkrieg in den USA sehr populär waren, malten sich weiße Amerikaner ihre Gesichter an, um sich über Schwarze lustig zu machen, um sie als dumm und als faul darzustellen. […] Was man Scheck allerdings zugestehen muss, ist eine Konsequenz, die andere Kommentatoren in der Kinderbuch-Debatte bisher nicht gezeigt haben. Sein schwarzes Gesicht ist sozusagen die visuelle Repräsentation dessen, was in der Kinderbuch-Debatte Land auf, Land ab gefordert worden ist: das Festhalten an Begriffen, deren rassistischer Ursprung unbestritten ist. Scheck hat diese Forderung nur theatralisch ausagiert.«
Kein Weg führt daran vorbei, an einer Liste der besten Bücher des Jahres 2012.
Sie soll als Protokoll dienen, als Licht im Dschungel, Happening, Klischeebekundung und unbedingte Empfehlung.
Wir haben uns im Dienste der Literatur die Haare gerauft und Koalitionen geschlossen. Doch kam niemand von uns an diesen zehn Büchern des Jahres vorbei. Es sind die besten Bücher. Finden wir! (Die Liste ist nach alphabetischen Gesichtspunkten sortiert. Ohne Präferenzen.)
Halleluja! Wir eröffnen unsere Adventsverlosung mit dem Skandalbuch des Jahres: »Imperium« von Christian Kracht. Doch bevor es jetzt sofort zu Missverständnissen kommt: Wir meinen natürlich nicht diesen läppischen Artikel im Fachblatt für Hitler-Studien, der den Autor des Romans zum »Türsteher der rechten Gedanken« erklärt. Der eigentliche Skandal besteht doch darin, dass »Imperium« beim Deutschen Buchpreis, der ja immerhin den »besten Roman des Jahres« prämieren will, schon an der Longlist scheiterte. Für einen anderen Literaturpreis hat es hingegen gereicht, und der hat sogar einen richtigen Namen. Weiterlesen →
Bald ist es wieder soweit. Die Tagen werden kalt, kurz und grau. Blätter fallen von den Bäumen und das Singen der Vögel ist seit Wochen schon verstummt. Menschen verwandeln sich in getriebene, rücksichtslose Zombies, denen Freundschaft und Liebe nichts mehr bedeutet. Und über alle Städte und Dörfer legt sich ein schleimiger Film aus Kitsch und Konsum.
Angesichts der Inflation der Literaturpreise ist es fast schon eine Auszeichnung, keine Auszeichnung zu erhalten. Zur kleinen Riege der Verschmähten zählte bislang auch Christian Kracht, der nicht zuletzt mit seiner Erfolglosigkeit im Trophäenkampf auch offensiv kokettierte. So ganz stimmte das zwar nicht, immerhin verstaubt der Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar schon drei Jahre im Regal, doch die wichtigen (soll heißen: hoch dotierten) Literaturpreise sind an Kracht bisher tatsächlich vorübergegangen. Von nun an ist es mit der Unschuld allerdings vorbei, denn Krachts Roman »Imperium« um den Aussteiger und Kokovoren August Engelhardt wird mit dem renommierten Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet. In der Begründung der Jury heißt es, »Imperium« entwerfe ein »groteskes Sittenbild des frühen 20. Jahrhunderts, in dem Lebensbewegte, Lebensreformer, bärtige Bohemiens und aufbegehrende Aussteiger ihren privaten Wahnsinn zu Welterlösungsideen ausweiteten, übers Meer fuhren, um Land zu gewinnen, und Wahnsinn fanden, den lachenden Tod«. Der Roman balanciere auf »der Grenze zwischen Komik und Schrecken […] mit großer Sicherheit und bildet so einen bedeutenden Knoten im Gewebe der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur«. Ob das Preisgeld in Höhe von dreißigtausend Euro über den Verlust der literaturpreislichen Jungfräulichkeit hinweg zu trösten vermag?
Ein Debütroman ist immer etwas Besonderes, oft blitzt hier am meisten das literarische Genie des Autors hervor und zeigt auf, in welche Richtungen es sich entfalten kann.
Doch selbst unter Erstlingswerken sticht Olga Grjasnowas Roman hervor: Schon der Titel besticht durch seine außergewöhnliche Länge (übrigens ein Zitat aus Anton Tschechows »Die drei Schwestern«), dieses Außergewöhnliche wird auch das ganze Buch über beibehalten, Grjasnowa zeichnet ein schwermütiges Bild des Lebens, sie gibt den Blick frei auf die Themen Freiheit und Tod, Abschied und Vergessen. Weiterlesen →
Eistee, Flachbildschirme und Strandpartys – es sind die Säulen eines beklemmenden Schreckens-Szenarios. Leif Randt entwirft in seinem Roman „Schimmernder Dunst über Coby County“ eine milde Utopie, einen Wohlfühl-Schauder, in dem jeder Satz bedrohlich wirkt.
„Als wir die Kinder von Coby County waren, wussten wir noch nicht, dass wir an einem der besten Orte der Welt lebten. Heute ahnen wir es. Aber das macht es nicht leichter.“
In Coby County schmerzt das Leben nicht, es ist wohltemperiert und vitaminreich. Den Menschen hier geht es gut, Geld ist zu genüge vorhanden, die Ernährung ist sehr bewusst und die College-Jacken von modischem Chic. Man arbeitet hier in der Mode- und Kosmetikbranche, in Medien- oder Dienstleistungsunternehmen. Der Mittzwanziger Wim Endersson lebt als Verlagslektor ein ausgeruhtes Leben. Gerne fährt er mit seinem besten Freund Wesley Alec Prince auf trendigen Fahrrädern durch das sonnengeflutete Coby County, entlang der Strandpromenade, vorbei an Hotelkomplexen und dem BakeryExpress. Nizza fällt dem Leser hier ein, vielleicht auch Miami – doch ist Coby County ein Ort jenseits des Globus. Menschen kommen aus Europa, aus Amerika angereist, um hier den Frühling zu erleben. Touristen, die aus ihrer Lebenswirklichkeit ausbrechen, um sich auf Wasserbetten auszuruhen und Wodka-Apfelsaft zu trinken. Das Wetter ist mild, im Winter regnet es ab und an. Für die Einwohner der Stadt ein allgegenwärtiger Zustand des Glücks. Amerikanische Highschool-Serien wie etwa „Dawson‘s Creek“ oder „O.C., California“ stehen für den Sound und die Atmosphäre dieses Wellness-Paradieses Pate.
„Als Teenager sind wir davon ausgegangen, dass ein Leben in kleinen, in sich abgeschlossenen Episoden stattfindet. Also haben wir uns irgendwann zum ersten Mal verliebt und es zu sinnlichen Knutschszenen auf Wiesen und Anhöhen kommen lassen. Später mussten wir tragische Trennungen hinnehmen und feierten dann aus Trotz ausschweifende Tanzpartys am Strand. […] Gut daran ist, dass sich bis heute nie etwas verschlechtert hat.“
Wim, ein Kind der Sonne, ist stolz auf die leichte Melancholie, die er in seine E-Mails einstreut, die er in wohldurchdachten SMS durchschimmern lässt. Jeder seiner Sätze ist konstruiert, jede Kommunikation reflektiert. Wim weiß genau, weshalb seine Freundin Carla Keyboard spielen sollte oder sein Freund Wesley ab und an Coby County verlassen muss. Wim lässt sich nicht locker und strengt sich ungeheuer an, so wahrgenommen zu werden, wie er es für richtig hält. Er ist damit nicht alleine. Alle Einwohner Coby Countys verhalten sich cool, gelassen, souverän – doch niemals natürlich.
Die wohlige Kulisse von Coby County beginnt zu bröckeln, als die Hochbahn entgleist und einige Menschen dadurch in Lebensgefahr geraten. Plötzlich scheint die Zeit still zu stehen. Die Menschen sind schockiert, die Nachrichtensprecher hyperventilieren und daten stetig News up. Die allgegenwärtige Unaufgeregtheit bricht für einen Moment in sich zusammen.
Es ist ein nichtiges Ereignis, das von den Menschen aufgeblasen wird. Es ist genauso nichtig wie eine Undergroundparty in einer Shopping-Mall oder das drohende Unwetter, das von einigen Einwohnern zur Apokalypse heraufbeschworen wird.
„Am Tag danach wissen wir eigentlich nicht, ob das Handynetz jemals ausgefallen war. Jedenfalls können wir nun, seit wir unsere Telefone wieder eingeschaltet haben, auch problemlos Kurznachrichten und Anrufe empfangen.“
Der Erzähler wirkt mindestens ebenso sachlich und souverän wie Wim. Der Fokus weicht niemals ab, kommentiert nicht. Trocken und verständnisvoll wird berichtet, wie dieses watteweiche Leben ab und an von der Seite angepustet wird. Doch entwickelt man im Laufe der knapp 200 Seiten eine eigenartige Sympathie für den Protagonisten, der mit großen Augen staunend auf die Welt blickt. Er kennt keine Niedertracht und Falschheit, keine Gemeinheit. Notlügen, das ist das Äußerste der Gefühle. Es ist das Bild, das man längst vom unbekümmerten, tumben Apple-Nutzer entwickelt hat, der über seinen iPod Songs von Coldplay hört. Wüsste man es nicht besser, so würde man Wim Endersson als Autisten beschreiben.
Dieses brutale Offenlegen von Unzulänglichkeiten und die Schilderung einer verdrehten Moral hat sich Randt bei Bret Easton Ellis abgeschaut. Auch Randt ist mit seinen Charakteren schonungslos. Doch ist seine Brutalität subtiler. Er lässt den Leser in die Falle seiner Wohlfül-Welt hineintappen. Bis dieser merkt, dass er sich in der Seichtheit von Coby County verfangen hat, ist es zu spät. „Schimmernder Dunst über Coby County“ denkt das zu Ende, was Christian Kracht in „Faserland“ umrissen hat. Eine gleichgeschaltete Gesellschaft, die sich in ihrer vermeintlichen Individualisierung verirrt.
„Ich höre auf zu tippen, weil plötzlich mein Handy in der Sporttasche vibriert. Ich kann Wesleys Namen durch das dünne Nylon des Außenfachs hindurch auf dem Display leuchten sehen. Ich zögere für einen Moment, greife zuerst nach einem Weingummi, aber dann doch nach dem Telefon.“
Dass der Leser am Ende dieses ungeheuerlichen Romans selbst ins Visier gerät, dass er sich ob seiner eigenen Position gewahr wird, das ist das Verdienst von Leif Randt. Ein Roman, der Menschen zum Nachdenken zwingt, zum Reflektieren. Und dabei so süffig geschrieben ist, dass man ihn nicht aus der Hand legen will. Der letzte deutschsprachige Autor, dem dies geglückt ist, ist Christian Kracht. Leif Randt wird mit seinem zweiten Roman nun zwar kein neues Zeitalter deutschsprachiger Literatur einleiten, doch hat er sie auf eine neue Ebene gehoben. So kühl und so beängstigend.
Leif Randt: „Schimmernder Dunst über Coby County“. Bloomsbury Verlag: Berlin 2011.