9783423280570Wer kennt sie nicht aus Kindertagen? Die großformatigen, bunten, lebendigen, schier unerschöpflichen und mit einem leisen Humor versehenen Bildwelten Ali Mitgutschs, der als Erfinder des sogenannten Wimmelbilderbuches gilt. Heute ist sein 80. Geburtstag – wir gratulieren. Und sind neugierig geworden.

Ali Mitgutsch wurde am 21. August 1935 in München geboren. In zahlreichen Interviews beschreibt er seine Kindheit als nicht besonders glücklich, bisweilen sogar als »beschissen« (Jan Pfaff: In einer eigenen Welt). Er wuchs als jüngstes Kind in einer siebenköpfigen Familie auf, die während des Zweiten Weltkriegs aus der Münchner Maxvorstadt zunächst in den Bayerischen Wald und später ins Allgäu evakuiert worden ist, wo er, das Stadtkind, ein Außenseiter war. Nach Kriegsende kehrte die Familie nach München in die alte Wohnung in der Schraudolphstraße zurück. Die Erinnerungen an eine sicherlich nicht einfache und von Krieg, Not, Entbehrung und Hunger geprägte Kindheit kann man in der im Mai erschienenen Biografie »Herzanzünder. Mein Leben als Kind« nachlesen, die der Publizist Ingmar Gregorzewski zusammen mit Ali Mitgutsch verfasst hat.

Die Biografie ähnelt im Aufbau seinen Illustrationen, auf denen sich unzählige Geschichten tummeln. Überall gibt es etwas zu entdecken, überall lohnt es sich hinzuschauen. Einzelne, nicht streng chronologisch gegliederte und lebendig beschriebene Szenen fügen sich darin zu einem authentischen Gesamtbild zusammen – Mitgutschs Kindheit. Als Leser bekommt man den Eindruck, dass sie auch ihre guten Seiten hatte:

Unsere Wohnung war für mich eine uneinnehmbare Festung. Es gab eine Küche, in der sich das Familienleben vorrangig abspielte. Sie kam mir vor wie ein winziges Boot, um das herum das Weltmeer bedrohlich toste. Mächtige Wellen drohten über uns zusammenzuschlagen und uns alle in die Tiefe zu ziehen. Das durfte nicht passieren. Die Enge der Küche war auch mein großer Trost. An diesem Ort konnte uns nichts und niemand auseinanderreißen. Auf dem geschenkten und winzigen Sofa durfte derjenige liegen, der krank war und besonderen Schutz brauchte. Gut aufgehoben und geborgen unter uns anderen. Gewärmt von der Liebe der Familie.

Zu den positiven Aspekten dieser Kindheit zählt neben dem Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit sicherlich auch, dass sie alles andere als langweilig war. Die Trümmerfelder des Zweiten Weltkriegs waren für ihn und andere Kinder seiner Generation, die in ihrer Freizeit weitgehend sich selbst überlassen waren und sich in Straßenbanden zusammenrotteten, ein riesiger und nicht ungefährlicher Abenteuerspielplatz:

Abgrundtiefe Kellerschächte, Bombentrichter und Reste von Gewölben führten ins Ungewisse. Diese Labyrinthe bewachten die Geheimnisse der Stadt mit unheimlicher Stille. Für uns Kinder war dieses verheerende Chaos aber auch verlockend und abenteuerlich: Die Anforderungen einer heilen Welt lasteten nicht auf unseren Schultern, uns lag eine Welt zu Füßen, in der Kinder nichts mehr kaputtmachen konnten. Wir waren frei.

Dem Abenteuerdasein in einer zerstörten Großstadt nach dem Zweiten Weltkrieg, die stets von einer dünnen Rußschicht bedeckt war, hat Ali Mitgutsch, der eigentlich Alfons mit Vornamen heißt, seinen Spitznamen zu verdanken – kam er doch einmal am Ende eines Tages gehörig verdreckt nach Hause und wurde von seiner Mutter mit den Worten »Oh Gott, wie schaust du denn aus! Wie der Ali Baba und die vierzig Räuber!« begrüßt…

Selbstverständlich werden auch negative Erlebnisse nicht ausgespart und zahlreiche Erinnerungen sind mitgeprägt von damals allgegenwärtigen Themen wie Armut, Krankheit, Tod, Denunziantentum, Gewalt, Selbstjustiz oder Habgier.

Eines der in der Biografie beschriebenen Erlebnisse kann man als Schlüsselszene für die spätere Erfindung der Wimmelbücher betrachten, es schildert die Erinnerung an Mitgutschs erste Fahrt in einem Riesenrad auf der »Auer Dult«, einem traditionellen Münchner Jahrmarkt:

Von oben suchten meine Augen die Welt nach neuen, ungewohnten Bildern ab. Es waren Bilder mit vielen Details, es passierte so viel gleichzeitig, die Geschichten gingen nicht aus: Menschen liefen über den Platz, kamen zu Gruppen zusammen, lösten sich wieder auf, Kinder jagten hintereinander her, Karren wurden gezogen, eine Frau sammelte ihren Einkauf vom Pflaster und ein Junge kletterte einen Laternenpfahl hinauf. Es gab unendlich viel zu sehen, auf gewisse Weise hatte alles seine Ordnung und dann auch wieder nicht. Dieses Gewimmel begeisterte mich sofort. Ich wollte mehr davon und jauchzte jedes Mal auf, wenn es wieder nach oben ging.

Der Anstoß zu seinem ersten Wimmelbuch kam von Kurt Seelmann, einem Kinderpsychologen, der in den 1960er Jahren das Münchner Jugendamt leitete. Er wandte sich an Mitgutsch, der inzwischen eine Ausbildung zum Lithografen abgeschlossen und an der grafischen Akademie in München studiert hatte: »Ich brauche ein Kinderbuch, das nicht so schnell leer wird. Ein Buch, das die Kinder immer wieder anschauen können und dabei jedes Mal etwas Neues entdecken.« (Jan Pfaff: In einer eigenen Welt). 1968 ist mit »Rundherum in meiner Stadt« Mitgutschs erstes Wimmelbuch entstanden, für das er 1969 mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde. Anfängliche Befürchtungen, die dargestellten Bildwelten könnten für Kinder zu unübersichtlich und zu komplex sein, haben sich schnell als unwahr erwiesen – es hat sich gezeigt, dass Kinder dazu in der Lage sind, selektiv zu sehen, das heißt die Fähigkeit besitzen, nur das zu sehen, was sie im Moment des Betrachtens interessiert und alles andere ausblenden können.

Neben dem oben beschriebenen Erlebnis im Riesenrad, das auch die für seine Wimmelbilder so typische Kavaliersperspektive [1] geprägt hat, waren die Dioramen [2] an den Wallfahrtsorten, zu denen er von seiner tief religiösen Mutter häufig mitgenommen worden ist, eine weitere Inspiration für seine Wimmelbilderbücher, die sich bis heute unverändert großer Beliebtheit erfreuen und zahlreiche Nachahmer gefunden haben.

Bedenken des Verlags, dass die dargestellten Gegenstände, etwa Autos, Kleidungsstücke oder technische Geräte, heute nicht mehr so aussehen wie in den 1970er Jahren, haben dazu geführt, dass neue Versionen des Stadt- und des Land-Wimmelbuches entstanden sind. Die alten Versionen haben sich jedoch weiterverkauft und so existieren nun beide Ausgaben nebeneinander.

Auch wenn Mitgutsch zurecht als Erfinder der Wimmelbilderbuches gilt, kann man die Bilder der niederländischen Renaissance-Maler Hieronymus Bosch und Pieter Brueghel dem Älteren in mancherlei Hinsicht durchaus als Vorläufer betrachten. Mitgutsch selbst merkt in einem Interview mit dem Deutschlandfunk an, dass er Hieronymus Bosch vor allem hinsichtlich der Motivik weniger als Vorbild betrachtet, dafür seien dessen Bilder »zu grausig«. Die Bildwelten von Ali Mitgutsch sind insgesamt natürlich idyllisch und leben, da sie ohne Worte auskommen müssen, von der starken Gestik der Figuren. Letztendlich zeigen sie den Alltag jedoch in all seinen Facetten: Es wird geweint und gelacht, man streitet und versöhnt sich, es passieren Missgeschicke und Mini-Unfälle, man liegt beim Zahnarzt im Behandlungsstuhl – und in der Sonne am Strand. Und beim Betrachten spürt man, dass der Erfinder all dieser Bilder den Schalk im Nacken hat und uns zum Schmunzeln bringen möchte – etwa, wenn man den Mann im Zoo entdeckt, der so in ein Gespräch vertieft ist, dass er nicht merkt, wie die Ziege hinter ihm genüsslich den Blumenstrauß verspeist, den er in der Hand hält…

Ali Mitgutsch mit Ingmar Gregorzewski: Herzanzünder. Mein Leben als Kind. Deutscher Taschenbuch Verlag: München 2015.

[1] Mitgutsch selbst nennt diese Perspektive, die aufgrund der leichten Erhöhung einen guten Überblick bietet, die »demokratische Perspektive«, da alle Figuren gleichberechtigt dargestellt werden.

[2] Dioramen sind Schaukästen, die Alltagsszenen bzw. an Wallfahrtsorten häufig religiöse Szenen darstellen.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.