Als Vorbote des jüngsten Gerichts kommt der personifizierte Tod in der Offenbarung des Johannes auf einem fahlen Pferd dahergeritten. Hinter dem vierten Reiter der Apokalypse öffnet die Hölle ihre Pforten. Gäbe es einen treffenderen Titel für solch einen monströsen Roman? Einen Roman, in dessen Mittelpunkt nicht nur das Treiben eines umtriebigen Todesboten steht, sondern dessen Verfasser selbst anderen den Tod brachte? Im Wissen um das Leben Boris Sawinkows, der sich in der Zeit nach der Jahrhundertwende der Sozialrevolutionären Bewegung anschloss und unter anderem an der Ermordung des russischen Innenministers Wjatscheslaw von Plehwe sowie an dem durch Iwan Kaljajew verübten Attentats auf den Großfürsten Sergei Romanow, Sohn des schon 1881 von der Untergrundorganisation Narodnaja Wolja (deutsch: »Volkswille«) getöteten Zaren Alexander II., beteiligt war, ist man dazu verführt, die in knappen Tagebucheinträgen geschilderten Vorgänge als literarisch stilisierten Tatsachenbericht zu lesen, der begleitet wird von Überlegungen zum Ziel und zur Notwendigkeit revolutionärer Gewalt.Boris Sawinkows Roman präsentiert sich als ein Zeugnis, dass den Lauf des Terrors in Russland zunächst literarisch formt und sich im Zuge dieser Übertragung ins Literarische en passant an einer moralischen und politischen Rechtfertigung versucht.
Heute ist der erste Mai – das Fest der Arbeiterschaft. Ich liebe diesen Tag. Er ist voll Licht und Freude. Am allerliebsten würde ich heute den Generalgouverneur umbringen.
In der Tat sind bei näherem Hinsehen zahlreiche Anklänge an historisch verbürgte Ereignisse und Personen auszumachen. Der Roman, 1909 zunächst in einer gekürzten Fassung und unter Pseudonym erschienen, erzählt von einer Gruppe russischer Revolutionäre, die einen Bombenanschlag auf den Generalgouverneur von Moskau plant. In seinem Aufzeichnungen berichtet George, der Anführer der Gruppe, vom Alltag der Attentatsvorbereitung und notiert Gespräche innerhalb der Gruppe, wodurch die unterschiedlichen Beweggründe der einzelnen Gruppenmitglieder deutlich werden. Während der fromme Wanja aus seinem christlichen Glauben eine Ermächtigung zum Töten herzuleiten versucht, kämpft der Student Heinrich, ein überzeugter Sozialist, für die Befreiung der Bauern und Arbeiter. Der Schmied Fjoder »hat seine Frau verloren«, wie es lakonisch heißt, wohingegen die Chemikerin Erna, die in ihrem Hotelzimmer die Sprengsätze für die Anschläge der Gruppe konstruiert, hoffnungslos in George verliebt ist.
Der wiederum nimmt ihre sexuellen Offerten zwar bereitwillig an, ihre Liebe aber erwidert er nicht. Stattdessen sehnt er sich nach der verheirateten Jelena, was der Geschichte eine vollkommen neue Dimension verleiht. Nicht nur wird der sonst so kühle und abgeklärte George plötzlich von Emotionen beherrscht und es nagen Zweifel und Ängste an seiner Selbstsicherheit. Es zeigt sich auch und gerade in der Schilderung jener wechselvollen Liebesgeschichte eine ungeheure Sprachmacht. Ebenso wie die beinahe lyrischen Naturbeschreibungen bergen diese Passagen mitunter eine Schönheit, die ihre eindringliche Wirkung nicht zuletzt im Kontrast zu den pathetischen Allmachtsfantasien des eigenen gewalttätigen Handelns gewinnt.
Doch was wäre mein Leben ohne den Terror? Was wäre mein Lebe ohne den Kampf, ohne die beglückende Gewissheit: Die Gesetze der Welt sind nicht für mich?
Anders als seine Komplizen kennt George keine höheren Ziele, unternimmt nicht den Versuch, seine Taten moralisch oder ideologisch zu begründen. Er mordet, weil er es kann und weil er es will. Seine Handlungen rechtfertig er nicht, denn sie bedürfen seiner Auffassung nach keiner Rechtfertigung. Weder die Überzeugung, einen Kampf gegen die Unterdrückung zu führen, gibt ihm Halt, noch der Glaube. Und doch ist der gesamte Roman weit über die Wahl des Titels hinaus durchsetzt mit biblischen Bildern, Anspielungen und Zitaten. In seinen Anmerkungen hat Alexander Nitzberg, dem die glänzende Neuübersetzung des Romans zu verdanken ist, diese und weitere Bezüge akribisch herausgearbeitet. Mit Gewinn lesen sich aber auch die beiden Aufsätze, die die Neuausgabe abrunden. Der Historiker Jörg Baberwoski geht der Bedeutung Sawinkows für die Geschichte des russischen Terrorismus nach und entwirft eine Typologie des Terroristen, seiner Motive und psychischen Dispositionen. Nitzberg hingegen gibt einen Überblick über Leben und Werk des lange vergessenen Autors. Abenteuerlich ist demnach auch die Geschichte, wie der Terrorist Sawinkow überhaupt zum Schriftsteller wurde.
Der drohenden Hinrichtung entfloh er über Skandinavien nach Paris, wo er zunächst hoffte, den Kampf gegen die russische Obrigkeit fortführen zu können. Doch anstelle von Kampfgenossen fand er den Kontakt zu einer Gruppe russischen Exilanten um die Lyrikerin Sinaida Hippius und ihren Ehemann Dmitri Mereschkowski, die den Geflohenen in seinen literarischen Ambitionen bestärkten. Um der Langweile und Untätigkeit zu entkommen suchte der »Tatmensch« Sawinkow ein neues Betätigungsfeld – und schrieb neben seinen Memoiren, die unter dem Titel »Erinnerungen eines Terroristen« veröffentlicht wurden und auch in deutscher Übersetzung vorliegen, mehrere Romane, wobei sich mit dem letzten Roman der Kreis zum Erstling schließt. »Das schwarze Pferd«, 1923 erschienen, unternimmt »eine abgründige literarische Aufarbeitung des russischen Bürgerkriegs«. Zusammen erweisen sich beide Romane, so Nitzberg, »als zwei Seiten derselben Medaille und stellen mit aller Eindringlichkeit die Frage nach dem historischen Schicksal Russlands«. Dass es in Sawinkows letztem Roman daher auch nur ansatzweise weniger grausam und düster zugeht, darf bezweifelt werden. In der Offenbarung trägt der Reiter des schwarzen Pferdes eine Waage – er ist der unheilvolle Bote des Hungers.
Boris Sawinkow: Das fahle Pferd. Roman eines Terroristen. Aus dem Russischen übersetzt und kommentiert von Alexander Nitzberg. Mit einem Dossier zu Boris Sawinkow von Alexander Nitzberg und Jörg Baberowski. Galiani: Berlin 2015.