Marcel Reich-Ranicki ist tot. Das ist er zwar schon länger, aber die Leerstelle, die er hinterlassen hat, wartet noch immer schmerzend auf einen Nachfolger. Und während das Literarische Quartett in der ersten Sitzung der Neubesetzung dem kurz zuvor verstorbenen Helmut Karasek gedachte und Maxim Biller sich Mühe gab, der neue Reich-Ranicki zu werden, scheint der gegen seinen Willen zum »Literaturpapst« gekrönte Verstorbene langsam in Vergessenheit zu geraten. Nur gut, dass es die Deutsche Verlags-Anstalt gibt. Die veröffentlichte diesen Herbst nämlich einen neuen Band mit zahlreichen Essays Reich-Ranickis, quasi ein Memorium. »Meine deutsche Literatur seit 1945« heißt der von Thomas Anz herausgegebene Sammelband und schließt somit nahtlos an den Vorgänger »Meine Geschichte der deutschen Literatur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart« an.

Nun gab es auch schon vorher bereits Sammlungen von Essays und Kritiken, teilweise sogar von Reich-Ranicki selbst veröffentlicht – man denke an das brillante Sammelbändchen »Lauter Verrisse«, erschienen im DTV – der geneigte Leser kann sich also zurecht an dem Sinn eines solchen Kompendiums zweifeln, doch sollte man dabei nicht vergessen, dass die Deutsche Verlags-Anstalt jahrzehntelang sozusagen Reich-Ranickis verlagliche Heimat war und Thomas Anz (seines Zeichens Literaturprofessor an der Universität Marburg) mit der Materie des Kritikers nicht unvertraut ist. Bei »Meine deutsche Literatur seit 1945« handelt es sich nicht einfach um die Neuverwertung und den Ausverkauf bereits vorhandener Texte und Inhalte, sondern um eine sorgfältige, ja fast liebevolle Auswahl von Facetten, um eine Persönlichkeit zu porträtieren, die in titanischer Größe über alle ihre Artgenossen hinweg ragt – unbesiegbar, aber einsam.

Wenn man den Namen Marcel Reich-Ranicki denkt, fallen einem natürlich sofort die großen Momente des Zorns ein: Die ewigen Wortgefechte mit Sigrid Löffler im Literarischen Quartett, die vollständige Zerlegung der Karriere Elke Heidenreichs, der deutsche Fernsehpreis. Doch allzu oft vergisst man, die andere Seite des Kritikers zu betrachten, ein Blick, den zu werfen »Meine deutsche Literatur seit 1945« sich glücklicherweise nicht zu schade ist. Und mit einem Mal zeigt sich ein ganz anderer Reich-Ranicki als der, den alle zu kennen meinen. Einer, der still die Sitzungen der Gruppe 47 dokumentiert und als Zeitzeuge ihre Hochphase, aber auch ihre Auflösung miterlebt. Einer, der nie ein Blatt vor den Mund nahm und nicht davor zurückscheute, die Hardliner der deutschen Literaturszene ebenso anzugreifen wie die Anfänger (Unter anderem findet sich in der Sammlung von Kritiken auch die Rezension zu Grass‘ »Blechtrommel«, die einen der größten Verrisse darstellen dürfte, die dieses Werk je erfahren hat).

Allein anhand der beinhalteten Rezensionen lässt sich bereits erahnen, welche Bedeutung Reich-Ranicki für die deutsche Literaturkritik über Jahrzehnte hinweg gehabt haben musste. Von Alfred Andersch bis Martin Walser, von Arno Schmidt über Peter Handke bis Sven Regener, alles was Rang und Namen hat wird hier versammelt, um Lobpreisung oder das allseits geschätzte, charakteristische »Grässlich!« zu erhalten. Dabei zeigt sich der Kritiker durchaus differenzierter, als man ihn vielleicht in Erinnerung gehabt haben mag – zumindest in den ersten Jahrzehnten. Geordnet ist die Sammlung chronologisch, aber zugleich auch thematisch und geopolitisch. Dass das eine sinnvolle Entscheidung war, zeigt die Vielzahl an Texten der Nachkriegszeit, in denen Literatur und Politik verschmolzen werden – eine Disziplin, wie sie von Heinrich Böll, Uwe Johnson und Wolf Biermann gepflegt wurde – und die sich kaum ohne ihren geopolitischen Kontext lesen lassen.

Alles in allem ist »Meine deutsche Literatur seit 1945« also nicht eine bloße Kompilation als vielmehr ein Zeitzeugnis, ebenso wie Reich-Ranicki zu Lebzeiten eines war, als Kritiker, als Polemiker, als einsamer Titan. Alternativ – und vor allem, um »Geschwafel«, wie es der Verstorbene wohl selbst bezeichnet hätte, zu vermeiden – folgt abschließend eine Beurteilung des Werkes in Zahlen. Enthalten sind: über 40 Rezensionen, drei Berichte über die Gruppe 47, zwei (sehr amüsante) Angriffe auf Christa Wolf, vier Essays, fünf Fest-, Lob- und Trauerreden, ein Brief an Günther Grass, ungefähr 30 Kilogramm Lispeln, neun Aufzeichnungen aus dem Literarischen Quartett und ein Marcel Reich-Ranicki. Ein Paket also, das sich lohnt.

Marcel Reich-Ranicki: Meine deutsche Literatur seit 1945. DVA: München 2015.

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