fertigFrank Witzel, Buchpreisträger und Autor des alle Rahmen sprengenden Romans »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969«, hat uns vor seiner Lesung im Frankfurter Hof in Mainz zu einem kurzen Gespräch getroffen – über amerikanische Pop, den Wahn der Gesellschaft und natürlich auch seine schriftstellerischen Zukunftspläne.

Herr Witzel, vielen Dank, dass Sie sich vor der Lesung noch die Zeit genommen haben! Die Jury des Deutschen Buchpreises hat Ihr Werk ein »maßloses Romankonstrukt« genannt, man könnte aber auch sagen, dass es eine Überwindung bestehender Normen ist, um mit neuem Blick auf die deutsche Geschichte zu schauen. In Ihrem Werk tauchen Philosophen wie Artaud und Derrida auf, die beide die Sprache hinterfragt und erweitert haben. Inwiefern wollten Sie sich von der deutschen Sprache und den etablierten Literaturformen befreien und weshalb?

Ich bin Romancier, das habe ich bewusst so gewählt. Aber die Reflexion spielt bei mir immer eine ganz große Rolle. In meinem Roman gibt es lange Passagen, die theoretisch sind. Da fühle ich mich auch der französischen Denkart sehr verwandt, die diese Trennung zwischen Literatur und Reflexion – die oft noch in Deutschland herrscht – aufgehoben hat. Es gibt natürlich auch eine philosophische Bewegung, für die Roland Barthes oder auch Derrida stehen. Barthes würde sagen: Man kann die Welt als Text lesen. Und Derrida – also unter anderem, beide sagen recht viel – würde sagen: Jeder hat das Recht, einen Text auf seine ganz eigene Weise zu lesen und zu interpretieren.

Es gibt ja auch die Lektüre gegen den Autor. So etwas finde ich interessant. Diese theoretischen Passagen sind aber auch immer in Erzählstrukturen eingebettet. Ich verweigere mich gerne dem Plot, dem Handlungsstrang, dem linearen Erzählen. In diesem Roman kommen ganz verschiedene Textformen vor, deshalb kann er auch als eine Art – in Anführungszeichen – Poetologie gelesen werden. Gleichzeitig werden meine Romanfiguren immer auch von der Reflexion und der Phantasie angetrieben. Beide sind aber nie Selbstzweck oder Spiel, sondern haben immer etwas sehr Existenzielles.

 

Oft wird der Leser bei diesen Gedankengängen auf den Holzweg geführt. Der Teenager denkt sich ständig: »Das könnte eine Fangfrage sein.« Ist hier ein Gefühl Ihrer Generation beschrieben?

Ja, es gibt eine gewisse Skepsis – also ich weiß nicht, ob andere, jüngere Generationen da blauäugiger sind. Im Grunde müsste die Skepsis durch das Internet ja eigentlich noch gestiegen sein. Dadurch, dass man oft überhaupt nicht mehr weiß, mit wem man da wirklich kommuniziert. Solche Dinge sind natürlich in der Literatur generell angelegt, aber auch da, wo der Teenager versucht, die Welt zu verstehen, sie aber nur ausschnittsweise verstehen kann. Zum einen geht es oft um den Nationalsozialismus, der in den 50er, 60er Jahren schlichtweg tot geschwiegen wurde. Es gab überhaupt keinen Ansatz von Verarbeitung. Das heißt, der Teenager versucht auch das quasi zu erfinden.

Er versucht gleichzeitig das, was in der Gegenwart passiert, zu erfinden, und natürlich beinhalten solche Imaginationen auch immer einen Ausblick in die Zukunft: Was wird aus mir? Wo muss ich mich positionieren? Deswegen ist der Holzweg auch so ein schöner, heideggerscher Begriff. Diese Idee, dass man da in den Wald hineingeführt wird und dort um seiner selbst willen herumirrt, das ist aber nicht nur ein Spiel für mich, denn diese Holzwege haben tatsächlich immer auch eine eigene Bedeutung. Sie fragen: Gibt es noch eine andere Ebene? Kann ich das noch von einer anderen Warte aus sehen und interpretieren? Darum geht es mir in dem Roman, der ja auch eher multiperspektivisch angelegt ist.

Hat der Teenager deshalb keinen Namen und altert kaum? Überhaupt scheinen die Figuren sehr jung – oder gefangen in ihrer Pubertät. Müssen sie vielleicht auch alterslos und namenlos sein?

Das stimmt genau – mit diesem Gefangensein. Es gibt ja einen Blick aus der Gegenwart, vom erwachsenen Teenager, der im Jetzt lebt und zurückschaut. Aber er schaut so zurück, als hätte es die 80er, 90er gar nicht gegeben. Als wäre da überhaupt nichts geschehen. Darum ging es mir. Es ist eine Art Verharren, das natürlich auch etwas Beklemmendes hat. Es ist aber auch ein Beharren auf einem gewissen Gefühl und darauf, dieses Gefühl lösen zu wollen. Nicht zu sagen: Ok, dann gehe ich weiter. Gehe zu Punk, dann zur Neuen Deutschen Welle und dann zu Synthie-Pop – jetzt mal in musikalischen Begriffen gesprochen. Sondern ich verharre an einem Punkt, weil dort irgendetwas mit mir passiert ist. Und das ist dieser Schnittpunkt, den jeder in seiner Entwicklung hat, wo ich merke: Ich bin kein Kind mehr. Ich bin aber auch nicht erwachsen. Alles ist plötzlich möglich. Das bietet einen großen Einfallswinkel für die Umwelt, weil die mit einem Mal an Bedeutung rasant zunimmt. Deswegen gibt es auch dieses stures Beharren, weil hier vielleicht die Lösung versteckt ist.

In dieser Schwellenerfahrung …

Genau.

Was ist das eigentlich für eine Rote Armee Fraktion 1913? Diese Erfindung, mit der der Teenager sich der Realität zu nähern, aber auch zu entfernen versucht? Warum der zum Verwechseln ähnliche Name?

Die Rote Armee Fraktion existiert ja 1969 vom Namen her noch nicht. Sie wird also antizipatorisch von ihm erfunden. Es gibt schon die Figuren. Es gibt schon die Kaufhausbrände in Frankfurt. Ensslin, Baader, Proll, Söhnlein warten auf ihren Prozess. Das ist eine diffuse Zeit. Es gibt den Terrorismus noch nicht, aber es gibt schon so etwas wie eine Brandstiftung. Das war für die Bundesrepublik schon etwas. Und dort habe ich den Teenager hineingesetzt. Wie soll ich sagen … Ich habe ihn praktisch ein bisschen von der Realität weggeschoben, um diese besser fassen zu können. Ich wollte ja nicht ein weiteres Buch über die RAF schreiben. Es kommen ja Heiligen-Geschichten vor, die sind ganz phantastisch und haben mit dem Ganzen eigentlich wenig zu tun. Trotzdem führt das alles zu einem Innengefühl, für das, was passieren wird oder auch schon passiert ist.

Der Teenager arbeitet sich unaufhörlich an seinem Welterklärungsmodell ab, an diesen Heiligen-Geschichten. Seine Religion erklärt er sich mit der Hilfe amerikanischer Popstars. Hier prallt provinzielle Erziehung auf amerikanische Popkultur. Wie viel Autobiographisches steckt hier?

Der Einbruch des Pop in diese Welt ist wirklich nicht zu unterschätzen, weil er so vehement kam, eben mit der Musik, der man sich gar nicht entziehen konnte. Also ich zumindest nicht. Und im Schlepptau kam noch so viel anderes. Es kamen die Mode, die Frisuren … Es kam dann auch die Literatur. Man hat sich plötzlich dafür interessiert, was in den USA passiert, wo so viel herkommt, was ich toll fand. Man hat versucht, das irgendwie nachzumachen, zu adaptieren. Und so geht es dem Teenager auch. Er beobachtet das ja aus einer provinziellen Perspektive, aber nicht nur aus dieser. Er ist mit dreizehn natürlich auch gar nicht in der Lage, wie seine großen Brüder, oder die, die er als Oberstufler bezeichnet und die er gerne beobachtet, diesen Aufbruch richtig auszuleben. Er kann nicht nach Berlin oder Frankfurt gehen, sich die Haare wachsen lassen und dann dort die Nächte durchmachen. Er ist gefangen in seiner kleinen Welt, wo er von den Eltern, von der Schule, von der Kirche dominiert wird. Umso mehr spornt das seine Phantasie an. Dieses Wenige, was praktisch wie ein Lichtstrahl hereinbricht, macht alles noch umso wertvoller.

Es gibt eine Schlagersendung in der Woche. Er sitzt mit seinem Tonband davor und versucht, sie aufzunehmen. Im Elektroladen gibt es nur einige ausgewählte Singles. Man liest zwar die Bravo, und es gibt irgendwelche anderen Zeitungen, aber letztlich recht wenig Information. Im Vergleich zu heute, wo wir mit dem Überfluss zu kämpfen haben, existierte damals noch eine Kultur des Mangels. Wenn die Platten vergriffen waren, dann kamen die erstmal jahrelang nicht wieder und waren auch nicht mehr zu hören. Man hatte schlechte Aufnahmen, wo irgendein Sprecher in den Song hineingeredet hat, oder er wurde hinten abgebrochen. Ich wusste jahrelang nicht, dass »Stairway to Heaven« so einen langen Vorlauf hat, weil ich nur das Ende auf Band hatte. Das machte es umso wertvoller, weil immer mit Phantasie ausgefüllt oder ergänzt werden musste, was fehlte. Da kommt auch das Religiöse ganz stark ins Spiel.

Im 32. Kapitel, also noch relativ am Anfang Ihres Romans, erläutern Sie nach einer amerikanischen Studie des Instituts MIT den Nazi Word Factor in der deutschen Sprache. Hier fragen Sie: »Aber wie stellt man es an, heute immer noch mit der gleichen Naivität auf die Welt zu schauen wie damals? Liegt es allein an der nazifizierten Sprache, die wir immer noch zu sprechen haben? Warum konnte man sich nicht wenigstens von Wörtern mit einem NWF von über 8 oder wenigstens 10 trennen?« Was bedeutet diese Studie?

Also, die Studie ist natürlich von mir erfunden. Ich habe mir erlaubt, von einer messbaren Einteilung auszugehen, anhand derer man feststellen kann, wie viel Nazihaftigkeit noch in einem Wort mitklingt. Was dahinter steckt, ist allerdings ein ernsthafter Gedanke. Mir fällt oft auf, wie geschichtsvergessen Sprache benutzt wird. Man kann es jetzt aktuell sehen, wenn von „Fluten“, von „Massen“ oder den „Flüchtlingen“ gesprochen, wenn wieder eine entsprechende Terminologie benutzt wird. Das ist eine Sprache, wo der Nazi Word Factor bis zur oberen Kante ausschlagen würde. Darum geht es mir. Aber man sollte sich durch so etwas auch nicht ausbremsen lassen. Es kommen ja auch ganz witzige Passagen vor, in denen es heißt: Es ist fast unmöglich noch den Mund aufzumachen.

Wie das Nazi-Kochbuch?

Genau. Es scheint dann eher konsequent, zu schweigen. Das liegt einem Depressiven ohnehin nah, dass er schweigt, dass er sich zurückzieht, dass er in der Depression versinkt. Das kann aber nicht die Lösung sein, vielmehr geht es um ein bewusstes Damit-Umgehen und darum, sich der Historie bewusst zu werden. In meiner Kindheit hat man wirklich noch gesagt: Willst du das noch bis zur Vergasung anziehen? Solche Sätze, die gab es einfach noch. Die waren noch alltäglich. Wie lang hat man noch »Neger« gesagt, ohne das Wort zu reflektieren? Bis in die 70er.

Wir entwickeln uns ja ständig weiter und differenzieren den Sprachgebrauch aus. Natürlich kommt da der Einwand: „Ach, dass behindert die Sprache.“ Ich würde auch sagen, dass man aufpassen muss, eine Sprache nicht zu zerstören, gleichzeitig ein Bewusstsein für Sprache schaffen sollte. Und das habe ich in diesem Nazi-Kapitel, in dem ich jedem Wort und selbst noch dem Wort, das das andere analysiert einen NWF zugewiesen habe. Damit habe ich versucht, ein Bewusstsein für Historie und was Sprache mit Historie zu tun hat, zu schaffen.

Ich dachte schon, Sie wollten die deutsche Sprache abschaffen…

Nein, nein. Ich gehöre nicht zu denen. Ich würde eben nicht, wie meinetwegen Heidegger, versuchen eine eigene Sprache zu entwickeln. Ich würde sie annehmen, aber wieder mit eigenem Inhalten füllen und mich ganz klar von Worten trennen wollen, oder die nur historisch gebrauchen, die eine Ideologie mit sich herumschleppen.

In ihrem wunderbaren Theaterstück erklärt der Klinikmanager, dass der Depressive sich nach einer Aufgabe sehnt, die ihn von seiner Depression befreit. Hierfür wäre der Terrorismus eine lohnende Aufgabe. Ist der Terrorismus also ein Mittel? Was ist hier Ihre Definition von Terrorismus?

Der Terrorismus hat sich natürlich als eine Fehlentwicklung erwiesen, weil die Gewaltspirale nie mit Gewalt aufzuheben ist. Das wäre meine klare Haltung dazu. Gleichzeitig stellt sich, glaube ich, jeder irgendwann mal die Frage: Wie kann man bestehende Strukturen verändern? Man sieht ja, wie mühselig das ist und wie dominant bestehende Strukturen sind. Wie oft Gegenbewegungen sofort vereinnahmt und in ihr Gegenteil verkehrt werden, wie versucht wird, Dinge auszusondern. In dem terroristischen Gedanken steckt natürlich auch die Idee: Kann ich mit einer Tat etwas so radikal – auch für mich – verändern, dass es kein Zurück mehr gibt? Also, kann ich mich selbst überlisten, indem ich sage: Ich tue jetzt was, ohne weiter zu überlegen und dann muss ich mein Leben lang mit den Folgen zu Recht kommen?
Diesen Ansatz, den würde ich zumindest als Überlegung gern bewahrt haben. Ich würde sagen, es geht um viele kleine Bewegungen, während die eine Tat, die eine terroristische Tat, zum Scheitern verurteilt ist. Sie nähert sich auch immer dem Wahnsinn, wo man auch in einer anderen Welt lebt. Manchmal mag man sich danach sehnen, alles aufzugeben, einfach verrückt zu werden. Gleichzeitig weiß man, wie viel Leid in jeder Krankheit steckt. Die Antipsychiatrie hat die Verrückten als normal bezeichnet. Aber auch hier findet keine wirkliche Aufhebung des Unterschieds zwischen Normalität und Wahnsinn,statt. Für den Teenager hingegen existiert dieser Dualismus noch nicht.

Die Wahnsinnigen sind die Normalen. Da wären wir wieder bei Artaud…

Genau. Artaud ist natürlich ganz wichtig. Er klingt als Subtext immer mit und vor allem im Theaterstück spielt er eine Rolle. Er wird hier zitiert und paraphrasiert, weil er natürlich sehr viel durchlitten hat durch die Elektroschockbehandlung und weil er auf sehr interessante Ideen gekommen ist. Eine Grundidee, die er in Bezug auf Van Gogh beschrieben hat, ist, dass man durch die Gesellschaft »geselbstmordet« wird. Le suicidé par la société. Das finde ich einen tollen Gedanken, dass der Selbstmord nicht nur eine individuelle Tat ist, sondern dass die Gesellschaft auch mitverantwortlich dafür ist.

Noch eine letzte Frage: In ihrem neuen Werk soll ein Bildzerstörer die Hauptrolle spielen. Also wieder jemand, der mit gegebenen Konventionen und der materiellen Kultur bricht. Aus welchem Antrieb heraus handelt diese Figur? Gibt es da schon erste Ideen?

Daran arbeite ich noch. Der Anlass ist eine Figur, die auch in diesem Roman vorkommt, nämlich Hans-Joachim Bohlmann. Der wird in dem Hamburg-Kapitel auf ein, zwei Seiten beschrieben. Mich hat diese Figur , nachdem ich so kurz über ihn geschrieben hatte, stärker beschäftigt. Er fängt im deutschen Herbstjahr ’77 mit seinem Zerstörungszug an. Da hätten wir erneut die Frage: Inwieweit nimmt ein Individuum politische Schwingungen auf und setzt sie dann ganz anders um. Er hat sich immer als unpolitisch – völlig unpolitisch! – bezeichnet, auch nie Angaben gemacht, warum er das gemacht hat. Dabei ist es interessant, was für Bilder er sich ausgesucht hat. Das waren immer Familienporträts oder Porträts von Herrschern, die er zerstört hat. Gleichzeitig schließt sein Handeln an eine Kunstbewegung an: Fluxus, Arnulf Rainer, der Bilder übermalt, die Bildzerstörung, die in der Kunst selbst existiert … Diese drei Ebenen: die politische, die künstlerische und die individuelle, das jemand quasi ganz unberührt daherkommt und dann den größten individuellen Zerstörungsfeldzug ausführt, die sind für mich interessant. Er hat bis zu seinem Tod beinahe 40 Jahre lang Bilder zerstört. Er war oft in der Psychiatrie, in Gefängnissen. Aber er kam dann raus und fing gleich wieder an. Er war besessen davon. Diese Figur fasziniert mich. Ihr versuche ich in meinem nächsten Roman auf die Spur zu kommen.

Wir freuen uns schon darauf, das braucht dann aber hoffentlich nicht noch einmal 15 Jahre. Vielen Dank für das Gespräch!

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