Hat mal Baseball gespielt: Chad Harbach (Foto: Beowulf Sheehan)

Fangen und rennen, werfen und spucken: Baseball ist in Deutschland ein weißer Fleck auf der Sportlandkarte. Umso mutiger erscheint es auf den ersten Blick, dass der Kölner DuMont Verlag in Deutschland einen Sportroman (!) über jene Sportart veröffentlicht.
Doch bereits auf den zweiten Blick lichtet sich der Nebel: Für 665.000 Dollar sicherte sich der Verlag Little, Brown and Company die Rechte an dem Roman »The Art of Fielding« des 37-Jährigen Amerikaners Chad Harbach. 2011 wurde der Debütroman von Harbach in den USA veröffentlicht und eilte fortan von Erfolg zu Erfolg.
Jonathan Franzen, der mit seinem Epos »Freedom« vor einigen Jahren zwar einen größeren, aber immerhin prognostizierbaren Erfolg einfahren konnte, überschüttete den debütierenden Autoren mit Lorbeeren: »Debütromane von solcher Vollkommenheit und Sogkraft sind sehr, sehr selten.«
Und auch John Irving, der Charles Dickens der gegenwärtigen amerikanischen Literatur, ließ es sich nicht nehmen, ein paar warme Worte auf das Cover des Buches drucken zu lassen: »Chad Harbach hat das Spiel für sich entschieden. Wunderbar zu lesen, das reinste Vergnügen.«

Jetzt erscheint der Roman mit dem Titel »Die Kunst des Feldspiels« also in Deutschland und die FAZ ruft: »Willkommen in der Topliga, Junge! Ganz Amerika liest Die Kunst des Feldspiels mit Begeisterung.« Da ist Vorsicht geboten.
Doch tatsächlich: Der Roman hält, was die Lobesworte versprechen. »Die Kunst des Feldspiels“ ist ein brillanter Coming-of-Age-Roman über den Zweifel und das Scheitern, über Drogen, Sex und Sport.
Die Erzählung steht in der Tradition von Salingers »Der Fänger im Roggen«, von »The Great American Novel« von Philip Roth, Don DeLillos »Unterwelt« und dem ersten Teil der Rabbit-Reihe von John Updike.

»Die Kunst des Feldspiels« erzählt die Geschichte von Henry Skrimshander, einem Baseball-Talent, wie es seit vielen Jahren keines mehr gab. Henry ahnt die Flugbahn der Bälle bereits vor dem Abschlag. Er ist ein blasser, unscheinbarer, wortkarger Junge aus der amerikanischen Provinz der aufgrund seiner besonderen Fähigkeit in die Mannschaft des Westish College aufgenommen wird. Durch sein Talent verhilft Henry der Mannschaft zu neuem Glanz und bringt sie gemeinsam mit seinem Kommilitonen und Mentoren Mike Schwartz auf Erfolgskurs. Eines Tages missglückt Henry ein Standardwurf, der ihn und das Westish College aus der Bahn wirft. Henry durchlebt die Abgründe des amerikanischen Traums, wandelt von Selbstzweifeln zu Depressionen zur Selbstaufgabe.  Er – doch nicht nur er – wird im Verlauf seiner Adoleszenz feststellen, dass man nicht alles erreichen kann, obwohl man hart dafür trainiert, dass das Leben anders kommt, als erwartet. Es ist die Antithese des »American Dream« und das Thema eines klassischen Bildungsromans also, was Harbach innerhalb dieser »great american novel« ausleuchtet. Er eifert darin seinen zeitgenössischen Vorbildern Jonathan Franzen und David Foster Wallace nach.

In diesem Buch geht es um die großen Werte des Lebens: Aufrichtigkeit, Treue, Freundschaft, Liebe. Doch artet der Roman niemals in wattebäuschiges Pathos aus. Geschickt verknüpft Harbach die Wege von Mike Schwartz und Owen, des College-Präsidenten Guert Affenlight und dessen Tochter Pella. Der Roman ist fein kombiniert: Motive der ersten Kapitel tauchen am Ende des 600 Seiten starken Romans wieder auf.
Baseball ist das Spielfeld des Buches. Das Spiel ist mit einer heroischen Symbolik aufgeladen, die Last und die Leichtigkeit der Welt sind in diesem Ballspiel verborgen. Doch auch jenen Menschen, denen der Sport und seine Regeln nicht vertraut sind, werden dieses Buch lesen, so wie man als Kind gelesen hat: Seite um Seite, Kapitel für Kapitel – mit der Taschenlampe unter der Bettdecke.

»Die Kunst des Feldspiels«. Aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner und Johann Christoph Maass. DuMont: Köln 2012.

Glen Duncan

Wie ist das so, der Letzte zu sein? Der Überlebende, der Zurückgebliebene, der Einsame – oder eben: der letzte Werwolf? In seinem dunklen, rasanten Roman »Der letzte Werwolf« wirft Glen Duncan ontologische Fragen auf, immer auf der Spur der Erkenntnis. Doch geht es in der Hauptsache um Widernatürliches: Jake Marlowe ist ein Werwolf, beinahe 200 Jahre alt. Im Alter von 34 Jahren wurde Marlowe bei einem nächtlichen Spaziergang von einem Artgenossen gebissen und altert seit diesem Zeitpunkt nicht mehr. So ist sein Körper agil, stabil und kräftestrotzend, sein Geist ist weise und gelehrt. Eine glorreiche Verbindung, die einer grausamen Wahrheit entspringt: In jeder Vollmondnacht verwandelt sich Marlowe in einen blutdurstigen Werwolf, der Menschen reißt und tötet. Doch ist dieses Monster, dieses Ungetüm des Lebens überdrüssig. Es gibt keine Begeisterung mehr für ihn – nicht für den Blutrausch, nicht für die Drogen, nicht für den Sex und nicht für die Literatur. Die Gedanken an seine vielen Opfer quälen ihn, er badet in Selbstmitleid und übergibt sich den Theorien der deutschen Idealisten, Friedrich Nietzsches und Ludwig Feuerbachs.

Da war der Beginn als Werwolf, wie ein Dorn, an dem ich mich in dieser Sekunde gekratzt hatte. Doch irgendwie lagen zwischen damals und heute fast zweitausend Opfer. Ich dachte an sie in einem Konzentrationslager zusammengepfercht. Meine Eingeweide sind ein Massengrab.

Trotz dieser Lebensmüdigkeit wirft ihn der Anruf seines Verbündeten Harleys zu Beginn des Romans aus der Spur: »Jetzt ist es amtlich. […] Vor zwei Nächten haben sie den Berliner erwischt. Du bist der Letzte.« Ein Jäger macht sich drauf und dran, Marlowe zu erwischen und zu erlegen. Der letzte Werwolf weiß um sein Vermächtnis und er weiß auch, dass er eine Verantwortung trägt. So entwickelt sich diese Erzählung zu einem mystischen Road-Trip, zu einem mitreißenden Thriller. Eine Reise ins Herz der Finsternis – so wie einst Joseph Conrads Charles Marlow.
Mag die Handlung des Romans vordergründig an düstere Fantasy-Erzählungen von H.P. Lovecraft oder Stephen King erinnern, versucht sich Duncans Roman doch eigentlich an einem Bewusstseinsbericht, welcher die Depressionen eines Getriebenen offenbart.

Duncan will den Werwolf-Stoff nicht überhöhen, ihm keine Eleganz einhauchen, daher lässt er seinen Erzähler einen berühmten Vampiren zitieren: »Der Vampir erlangt Unsterblichkeit, immense körperliche Kraft, hypnotische Fähigkeiten, die Fähigkeit zu fliegen, psychische Erhabenheit und emotionale Tiefe. Der Werwolf leidet an Dyslexie und einer permanenten Erektion.«

Sie werden mir das wohl kaum abnehmen, aber ich will nur bis zum nächsten Vollmond am Leben bleiben, damit ein Mann, dessen Vater ich vor vierzig Jahren getötet und gefressen habe, mir den Werwolfschädel abtrennen oder eine Silberkugel ins Werwolfherz jagen kann.

Der Selbstreflexion kann Marlowe nicht entrinnen, sie kennt keine Gnade. Und doch gibt es da mehr als Scotch und billigen Sex, Selbstmitleid und die Schriften toter Philosophen: Schon bald wird der Protagonist neuen Lebensmut schöpfen, der ihn weiter trägt, so, als sei er ein ganz normaler Mensch. »Der letzte Werwolf« ist ein Horror-Roman und – wie alle guten Horror-Romane – ist auch er eine Allegorie auf das, was täglich vor der Haustüre lauert.

Glen Duncan wurde 1965 in Bolton, Lancashire geboren. Er studierte Philosophie und Literatur und arbeitete als Buchhändler. »Der letzte Werwolf« ist Duncans achter Roman. Die Erzählung »I, Lucifer« (2002) wird derzeit mit Ewan Mcgregor, Jason Brescia, Jude Law und Daniel Craig verfilmt.

Glen Duncan: »Der letzte Werwolf«. Aus dem Englischen von Peter Torberg. S. Fischer: Frankfurt am Main 2012.

 

James Frey (Foto: Terry Richardson)

Nennt ihn, wie Ihr wollt: James Frey hat den Messias, Jesus, den Sohn Gottes zurück auf die Welt geschickt. In seinem Roman »Das letzte Testament der Heiligen Schrift« ist der Schauplatz New York und die Welt eine grausame. An jeder Ecke wird gefixt und gehurt, es wird betrogen, geschlagen, verleumdet und gemordet.
James Frey kennt sich aus in diesem Metier. Mit seiner gefälschten Autobiografie »A million little pieces« hat er vor einigen Jahren nicht nur Amerika genarrt, sondern in der Hauptsache kenntnisreich und pointiert vom Leben außerhalb des Establishments berichtet. Frey erzählt in seinem Debüt von den letzten Zuckungen des Amerikanischen Traumes, von den moralischen Trümmern eines Landes, das um sein Selbstverständnis kämpft. So auch das fesselnde Portrait von Los Angeles, das den Titel »Strahlend schöner Morgen« trägt. Der Autor kombiniert viele eindringliche Geschichten, die in dem gigantischen Moloch an der amerikanischen Westküste spielen.
James Frey ist ein Verführer, der die Wucht seiner Worte gezielt einsetzt, der seine Figuren zappeln und ihnen keine Gnade zuteil kommen lässt.

Er wird wiederkommen. (Apostolisches Glaubensbekenntnis)

Sein jüngster Roman ist für weitere kontroverse Diskussionen geeignet: »Das letzte Testament der Heiligen Schrift« erzählt die Geschichte von Ben Zion Avrohom, der im gegenwärtigen New York aufwächst und so manches Wunder vollbringt. Innerhalb sechzehn Zeugenberichten wird das Leben des charismatischen Heilands beschrieben. Es sind Evangelien, niedergeschrieben von der Stripperin Maria Magdalena, von der Ärztin Alexis, vom Strafverteidiger Peter oder vom Pater Markus.
Sie alle erzählen von der Rettung des Heilands, der ihre Sünden und Bürden auf sich nimmt.
Eine bessere Welt wünschen sich alle der auftretenden Personen und kübeln die Miseren ihres Lebens auf Ben. Lastet das Gewicht auch schwer auf dem Messias: Seine Antwort lautet Liebe. Er schaut den Gepeinigten eindringlich in die Augen, legt seine vernarbte Hand auf ihre Köpfe oder spendet körperliche Anstrengungen: deftigen Sex.
Der Leidensweg von Ben ist ein besonderer: Sein Bruder Jakob missachtet ihn und trachtet Ben nach dem Leben. Eine Sekte vereinnahmt den Heiland und führt ihn in den Dschungel des Tunnelsystems von New York. Die Polizei fahndet nach Ben, während der längst eine Hippie-Kommune in der amerikanischen Provinz aufgezogen hat. Es sind Arrangements der biblischen Leidensgeschichte Jesus, die der Messias im gegenwärtigen New York durchleidet.

Und uns, Brüder, hat er die Verantwortung übertragen, seinen Sohn zu schützen und zu leiten, dieweil er die Botschaft des Evangeliums und das wahre Wort Gottes verkündet, so wie sie in der Bibel geschrieben stehen.

Ben spricht mit Gott – immer dann, wenn er einen epileptischen Anfall erleidet. Er sieht die Zusammenhänge, das große Ganze. Mit Gottes Hilfe kann auf die Menschheitsgeschichte zurückblicken und erkennt in der Bibel nicht das Wort Gottes. Das Rechtssystem, die Staatsmacht nimmt Ben nicht an. Immer wieder erzählt er seinen Jüngern vom Geist der Liebe, von der Macht der Hingabe. Es ist diese grenzenlose, aufopferungsvolle Liebe, die Ben am Ende seines Lebensweges zum Verhängnis wird.
Frey knüpft mit diesem Roman an seine amerikanischen Chroniken an. Er berichtet vom kaputten Leben in den unübersichtlichen Großstädten der verschlissenen Weltmacht: Von oben wird unterdrückt, von unten gekämpft, die Menschen sind gottesfürchtig und doch kriminell. Doch haben sie alle eine gemeinsame Sehnsucht: Sie wollen die Welt durchdringen und Antworten erhalten.
Die Geschichte des niedergekehrten Messias scheint für dieses Vorhaben eine dankbare Basis zu sein. Doch verheddert sich der Roman häufig in larmoyanten Ausschweifungen schwacher Charaktere. Es sind hauptsächlich die harten Geschichten von Maria Magdalena oder dem Junkie Matthäus, die zu überzeugen wissen.
Von dem Glanz und der subtilen Schärfe von »Strahlend schöner Morgen« hat »Das letzte Testament der Heiligen Schrift« nur wenig zu bieten. Zuvorderst geht es in diesem Roman um das Experiment, die Provokation, den Messias in Bordellen und Sekten, im Gefängnis und als Sex-Besessenen abzubilden.

Und er hob mich vom Stuhl hoch, als würde ich nichts wiegen. Und zog mich aus. Und legte mich auf den Tisch. Und leckte und saugte und fickte mich um den Verstand. Direkt neben meinen Drogen.

Die hübsche Idee des Verlags, sämtliche Evangelien von verschiedenen deutschsprachigen Autoren aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen zu lassen, geht dennoch auf: Juli Zeh, Harry Rowohlt, Zoë Jenny oder Steffen Jacobs geben den Erzählungen mit ihren Übersetzungen eine eigenwillige Dynamik. Dem Inhalt können sie damit jedoch nicht auf die Sprünge helfen.

Der Roman „Das letzte Testament der Heiligen Schrift“ von James Frey ist einer der 30 Kandidaten der Hotlist 2012. Jährlich werden von einer unabhängigen Jury die besten Bücher aus unabhängigen Verlagen gekürt. Am 1. September wird das Ergebnis der Publikumswahl und der Juryentscheidung verkündet.

James Frey: »Das letzte Testament der Heiligen Schrift«. Aus dem Amerikanischen von Alexa Henning von Lange, Clemens J. Setz, Tina Uebel, Zoë Jenny, Katja Scholtz, Kristof Magnusson, Charles Lewinsky, Gerd Haffmans, Steffen Jacobs, Klaus Modick, Juli Zeh, Sven Böttcher und Harry Rowohlt. Haffmans & Tolkemitt: Berlin 2012.

Frank Schirrmacher (© Mirko Krizanovic)
Frank Schirrmacher (© Mirko Krizanovic)

Frank Schirrmacher ist tot. Zumindest sein Ruf. So will es jedenfalls Richard Kämmerlings von der »Welt« verstanden wissen, der das Buch »Der Sturm« von Per Johansson gelesen hat.
Ein Journalist, der äußerliche und charakterliche Ähnlichkeiten zum Herausgeber der »FAZ« aufweist, wird in diesem Kriminalroman ermordet.

Der Autor dieses potentiellen Bestsellers ist gänzlich unbekannt und unauffindbar.
Dafür könnte es einen Grund geben: Richard Kämmerlings, derzeit auf Spurensuche im deutschsprachigen Literaturbetrieb, will hinter Per Johansson den leitenden Feuilleton-Redakteur der »Süddeutschen Zeitung« ausgemacht haben: Thomas Steinfeld.

Kämmerlings schichtet in seinem Artikel »Vergeltung – Der grausige Tod eines Großjournalisten« Indizien übereinander und leistet emsige Überzeugungsarbeit.
Für den Leser des Artikels ist klar: Steinfeld macht den Walser und schreibt zehn Jahre nach dessen Schlüsselroman »Tod eines Kritikers« mit »Der Sturm« eine Rache-Attacke gegen seinen ehemaligen Vorgesetzten Frank Schirrmacher.

Es wird laut werden im deutschsprachigen Literaturbetrieb, denn der nächste Leitartikel von Frank Schirrmacher in der »FAS« kommt bestimmt.

Olga Martynowa (Foto: Danjel Jurjew)
Olga Martynowa (Foto: Danjel Jurjew)

Wir gratulieren Olga Martynowa zum Gewinn des diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs. Die in Frankfurt lebende russische Schriftstellerin überzeugte die wortgewaltige Jury mit ihrem Text »Ich werde sagen: „Hi!“«.

Die Erzählung beschreibt eine Kindheit, »die endet, als eine kreative Rationalität beginnt: Ein junger Mann entdeckt, wie sich das erzählen lässt – und weil Olga Martynova eine große Schriftstellerin ist, entdeckt sie das in ihrem Text mit ihm«, so Juror Paul Jandl in seiner Laudatio.

»Ich werde sagen: „Hi!“« kann man hier nachlesen.

 

Unser Favorit Andreas Stichmann ging leider leer aus. Wir sind uns aber sicher: Sein Roman »Das große Leuchten« (7. September bei Rowohlt) wird für Furore sorgen.

 

Stefan aus dem Siepen (Foto: Bernd Schumacher)
Stefan aus dem Siepen (Foto: Bernd Schumacher)

Ein Bauer findet am Dorfrand das Ende eines Seils. Wo kommt es her? Wo führt es hin? Stefan aus dem Siepen erzählt in seiner düsteren Novelle »Das Seil« von einem Bauerndorf, das in seinen Grundfesten erschüttert wird.
Umgeben von dichten Bäumen, inmitten eines dunklen Waldes, grübelt eine Dorfgemeinschaft über ein Seil, dessen scheinbares Ende der Bauer Bernhardt gefunden hat. Das Seil kommt aus dem Wald und sein Ende ist nicht in Sicht. Die Männer des Dorfes machen sich auf den Weg, um dieses seltsame Geheimnis zu ergründen. Während sich die Frauen um die Ernte kümmern, das Dorf am Leben erhalten, verfallen die Wanderer einer Obsession: Sie werden getrieben von diesem Seil, das sie durch den dichten Wald führt und führt und führt. Diese Männer sind Getriebene, sie verlieren sich während ihrer Reise in Maßlosigkeit und verfallen der Barbarei.

Auf dem Boden lag ein Seil – nichts weiter.

Die Ausgangssituation der Novelle ist eine vielversprechende, schließlich wird der Mensch und sein Instinkt befragt. Ein Rätsel wird ausgelegt, für das es keine Erklärung zu geben scheint.
Stefan aus dem Siepen entwickelt in seiner beklemmenden Parabel einen Psychologismus, der allzu leicht zu durchschauen ist: Wann ist ein Ziel ein Ziel? Welche Kraft darf aufgewendet werden? Wann ist man gescheitert? Das allzu menschliche Streben nach Erkenntnis wird von Stefan aus dem Siepen in die Waagschale geworfen und geprüft.

Die Bauern waren glücklich. Immer wieder schauten sie nach vorn ins dunkelhelle Dickicht, konnten nicht genug bekommen vom Anblick des Seils, das mal deutlich sichtbar in der Sonne schimmerte, mal zwischen den mürben Brauntönen des Laubes verschwand.

Rasant ist diese Erzählung – und auch spannend. Die auftretenden Personen sind geschickt konstruiert, sie ermöglichen der Parabel viele verschiedene Wendungen.
Der Lehrer Rauk etwa, der mit seinen Hunden Thor und Hetzer die Gruppe anführt, entpuppt sich als charismatischer Verführer, der mit rhetorischem Geschick den Willen seiner Gefolgschaft manipuliert. Es treten Narzisse auf, dumpfe Kraftprotze, sensible Schöngeister. Sie alle wirft aus dem Siepen in seiner Erzählung zusammen. So wird »Das Seil« zu einem Schauplatz des Allzumenschlichen. Mit geradezu biblischer Schwere führt der Erzähler von Analogie zu Analogie und entwirft ontologische Fragen, deren Offensichtlichkeit im Laufe der Novelle schon bald aufdringlich wird.

So schlecht ist die Welt nicht eingerichtet, dass eine große redliche Anstrengung, wie wir sie erbringen, ohne ihren gerechten Lohn bleiben kann. Es darf daher nur eine Losung geben: Weiter! Immer weiter! Bis zum Ziel!

Die Auflösung des Rätsels ist logisch und unweigerlich. Bis zu Letzt spannt Stefan aus dem Siepen ein Netz aus Trieb, Intrigen, Gewalt, Niedertracht und Gelüsten. Düster geht es in »Das Seil« zu, unheimlich. Doch ist der Nachgeschmack kein guter. Das Problem ist: Die Moral von der Geschichte.

 

Stefan aus dem Siepen: Das Seil. Deutscher Taschenbuch Verlag: München 2012.

Leif Randt veröffentlichte im August 2011 seinen zweiten Roman »Schimmernder Dunst über CobyCounty«, für den er im Juni mit dem Düsseldorfer Literaturpreis 2012 ausgezeichnet wird. Der Roman erzählt von einer Stadt am Meer, in der für Bewohner und Touristen ein sorgenfreies Leben möglich scheint. Es handele sich um einen »epochalen Generationenroman« schrieb die FAZ über diese milde Utopie, unter deren Oberfläche der Schrecken lauert.

Der Autor im Interview über Gymnasiallehrer, Rapmusik und erhabene Traurigkeit.

Lieber Leif Randt, fahren Sie gerne mit der Mitfahrgelegenheit?

Ich bin Zugfahrer. Meine letzte Mitfahrgelegenheit habe ich 2005 genommen. Ich habe diese Fahrt aber noch in guter Erinnerung. Es saßen vier junge Männer zusammen in einem Nissan. Drei Hessen und ein Südamerikaner. Es war Sommer. Wir sprachen von Grillpartys und Vietnamreisen.

Ihre Kurzgeschichte »Spätsommer 2010« spielt in einem Auto und auf einer Raststätte. Es passiert nicht viel, doch fühlt man sich nach dem Lesen seltsam leer und stumpf. Wie entgeht man der Falle, ein Misanthrop zu werden?

Durch Sport und guten Tee. Früher hatte ich öfter misanthropische Phasen. Heute kommt es mir so vor, als würde meine Herzlichkeit mit jeder Woche wachsen. Vor ein paar Tagen suchte ich nach einer Lesung gezielt das Gespräch mit jemandem aus dem Publikum, der meinen Text und meine Art darüber zu reden, deutlich kritisiert hatte. Ich hatte ihn vom Podium aus noch geschnitten. Später wollte ich das angetrunken versöhnen. Der Typ war Germanist und Gymnasiallehrer. Er sagte: »Wenn ich abends Rilkes Prosaminiaturen lese, brauche ich kein Bier.«

Ha – mein Deutschlehrer war ebenfalls Rilke-Enthusiast. Trauriger Charakter, so ca. »Der Panther«. Warum war dieser Lehrer bei Ihrer Lesung? Um zu prüfen, ob »Schimmernder Dunst über CobyCounty« das Zeug zur Schullektüre hat? Würden Sie das überhaupt zulassen?

Ich fände CobyCounty als Schullektüre fantastisch. Das könnte mal so ein leicht staubiger und kaum nachvollziehbarer Text aus einer alten Zeit werden.

In Ihren Geschichten erliegen die Protagonisten einem inneren Zwang der permanenten Selbstreflektion. In Ihrem Debüt-Roman »Leuchtspielhaus« ist es Eric, in »Schimmernder Dunst über CobyCounty« Wim. Was ist das Verführerische an stetiger Selbstkontrolle?

Ich glaube, man kann sich das nur bedingt aussuchen. Wenn man reflektieren kann, sollte man das tun. Es muss ja nichts Verbissenes haben. Man darf sich nur nicht zu viel Input in Form von Meinungstexten zuführen. Ich lese in den letzten Monaten etwas mehr Zeitung. Ich glaube, das bekommt mir nicht.

Ihre Hauptfiguren lachen selten. Ist das Lachen etwa ein Zeichen mangelnder Selbstkontrolle und vielleicht sogar ordinär?

Das ist ein guter Hinweis. Eric und Wim lachen beide selten. Aber Eric ist ja auch eher eine schüchterne Kamera als ein echter Junge. Wim verfügt über eine erhabene Traurigkeit, da wäre Gelächter unpassend. Ich denke, dass in meinem nächsten Buch mehr gelacht werden wird. Ich lache selbst auch gar nicht so selten, wie manche unterstellen … das waren schon immer Leute, mit denen ich nichts anfangen konnte, Leute, die zu mir kamen und fragten: »Lächelst du denn auch mal?« Übergriffige, unangenehme Menschen, die sich außerdem irren.

Haben Krankheit und Tod Platz in einer Stadt wie CobyCounty? Oder werden sie bloß verschwiegen?

Es gibt im Buch einen Satz über Beerdigungen: »Wenn ein Bewohner von CobyCounty stirbt, gibt es meistens ein Fest, auf dem zuerst geweint und später frenetisch getanzt wird. Aber wenn man verlassen wird, gibt es nur gewöhnliche Strandpartys (…)« Das ist Seite 69. Krankheiten gibt es nicht so viele, weil die Leute sich bewusst ernähren und Freude am Sport haben. Allerdings trinken sie viel und nehmen Drogen. Aber das Trinken und Drogennehmen passt zu ihrem Lebensgefühl, es lockert sie auf und führt psychologisch zu einer Befreiung. Das Positive überwiegt, deshalb schadet es ihnen nicht.

Thomas Bernhard schreibt in seinem Buch »Der Untergeher«: »Lange vorausberechneter Selbstmord, dachte ich, kein spontaner Akt von Verzweiflung.« Wäre das etwas für Wim?

Wenn er sich umbringen wollen würde, dann ja. Das wäre auch eine Formulierung für ihn. Aber Wim will sich nicht umbringen. Auf gar keinen Fall. Er mag schwermütig sein, aber er ist nicht depressiv.

Der Schriftsteller Jan Brandt erklärte uns, »dass sich dort, wo immer Menschen sind, Abgründe auftun.« Sind die Abgründe in CobyCounty tief?

Ich schätze, dass sie weniger tief sind als die in Frankfurt am Main. In CobyCounty sind sie teils mit feinem Sand zugeschüttet. Jan Brandt äußert viele präzise Sätze über sein Buch und das Erzählen. Einen wollte ich neulich zitieren: »Bücher, die mir die Welt erklären wollen, sind keine Literatur, sondern Propaganda.« Kurz darauf dachte ich dann aber, dass ich selbst jetzt auch in eine propagandistischere Richtung gehen könnte.

Wie könnte diese propagandistische Richtung aussehen? Können sich Schriftsteller nach dem »Fall Christian Kracht« so etwas überhaupt noch trauen?

Eines Tages möchte ich einen Ratgeber über die Liebe schreiben. Voller klarer Anweisungen, wie man zu lieben hat. Die Geste wäre: Folgt mir und lernt das Glück.

CobyCounty ist ein Ort, den der Leser zu kennen glaubt. Doch bei aller Vertrautheit erscheint er ihm auch irreal und fremd. CobyCounty ist frei von Konflikten und Katastrophen – ist es ein utopischer Ort, oder kann es ihn wirklich geben?

Vielleicht nicht in dieser Größe. Aber einzelne Straßenzüge oder Viertel können vorübergehend so sein. Oder auch ganze Lebensphasen. Ich glaube, viele Menschen erleben CobyCounty-Jahre.

Slavoj Žižek schreibt, dass der Kapitalismus einen wahrhaft utopischen Kern habe, der in der Idee besteht, dass sich die  negativen Seiten der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, zum Beispiel Ausbeutung, Armut und Hunger, in Zukunft beheben lassen. Ist CobyCounty die literarisierte Version dieses utopischen Kerns des Kapitalismus und erscheint es uns vielleicht deshalb so vertraut und fremd gleichermaßen?

Das klingt gut und stimmig. Ich würde eigentlich »Ja!« dazu sagen, habe aber trotzdem das Gefühl, dass Wim der Sache nicht zu Hundertprozent traut. Er ist CobyCounty-zentristisch erzogen worden, trotzdem ahnt er, dass es auf der Welt auch anderes geben könnte. Da glimmt ein Unbehagen in ihm, deshalb muss er sie sich sein Leben immer wieder erklären. Er hat ein latent schlechtes Gewissen. Dabei bräuchte Wim das gar nicht zu haben. CobyCounty schont die Ressourcen und beutet niemanden aus.

Das Cover des in den Feuilletons des Landes bejubelten Albums »DMD KIU LIDT« von Ja, Panik ist ein Spiegel, ähnlich dem, der »Schimmernder Dunst über CobyCounty“ ziert. Ist es die Aufforderung an den Leser, sich in Ihrem Buch selbst zu spiegeln?

Wahrscheinlich ist das die Aufforderung, aber das kann man ja nicht von allen verlangen. So schön das Cover ist, inhaltlich ist es eine halbe Bevormundung. Für viele ist CobyCounty ja nur fremd. Die können sich dann auch nicht spiegeln und auch nicht so viel Spaß an dem Buch finden. Sie verstehen es nicht. Und ich verstehe diese Leser nicht. Und dann sitzt man sich gegenüber und versteht sich nicht.

Neulich, bei einer Lesung von Christian Kracht, war ich kurzzeitig davon überzeugt, dass die Rezeption von Literatur abhängig von ihrer Inszenierung ist. Der Zauber kann verfliegen, wenn der Autor vor Publikum aus seinen eigenen Büchern liest. Haben Sie Erwartungshaltungen an sich selbst, wenn Sie vor Publikum lesen?

Ich mag Lesungen gern. Sie dürfen nur nicht zu lang sein. Ich versuche, mir selbst dabei zuzuhören. Manchmal fallen mir dann beim Vorlesen neue Sachen auf, die ich schlimm finde oder lustig. Die eigene Vorlesestimmung überträgt sich auf das Publikum. Man kann das nicht wirklich planen.

Während einer Lesung in Frankfurt sprachen Sie kürzlich über Popmusik und dass diese in der Hauptsache von »broken hearts« handelt. Kann man der Popmusik überdrüssig werden?

In meinem Text »Von der Flüssigkeit Magnon« habe ich geschrieben: »Im Licht der Straßenlaternen stapelt sich frisches Herbstlaub, und das Radio spielt aktuelle Popmusik, in der es um Liebe oder gebrochene Herzen geht, aber niemals um Aufbruch. Radio-Popmusik ist ein Musikstil, mit dem Jerome wohl niemals etwas anfangen konnte, der ihn nie interessierte, den er vielleicht auch nie wirklich kennengelernt hat.« Jerome hat immer nur Rapmusik gehört, die »die glaubhaft von dem Aufbruch in ein besseres Leben erzählt«. Ich kann ihn gut verstehen, aber ich halte es selbst nicht so wie Jerome. Beim Autofahren trommle ich zum Hit-Radio auf dem Lenkrad rum.

Leif Randt wurde 1983 in Frankfurt am Main geboren. Er ist freier Schriftsteller und lebt in Maintal und Berlin. Für seinen zweiten Roman »Schimmernder Dunst über CobyCounty« wurde er unter anderem mit dem Düsseldorfer Literaturpreis 2012 ausgezeichnet.

Liegt die Zukunft bereits hinter uns? Benjamin Stein entwirft in seiner kühlen sozial-medialen Utopie »Replay« das Bild eines gläsernen Menschen, der sich freiwillig der Diktatur der Technologie unterwirft.
Menschen tragen in dieser nahen Zukunft ein Implantat namens »UniCom«. Es zeichnet die Bilder des Lebens auf: Erwachen, den Gang zur Toilette, Gespräche, erotische Erlebnisse. Alles kann der Träger im Nachhinein bearbeiten, er kann die aufgezeichneten Bilder immer wieder neu betrachten und durchleben. Und das Beste: All diese beliebigen, persönlichen Augenblicke können über eine Datenbank mit anderen Implantat-Trägern geteilt werden, die wiederum all diese Erlebnisse selbst durchleben können.
Es ist das Weiterspinnen des Social-Media-Wahns, wie wir ihn bisher kennen: Menschen filmen oder fotografieren ihr Leben, platzieren diese Aufnahmen im Internet, während die Betrachter der Aufzeichnungen zu jeder Zeit diese kommentieren und bewerten können. Diese Welt, die Benjamin Stein in seinem dritten Roman entwirft, die gibt es schon – doch ist sie noch nicht ganz so pervers und hypersozial, wie sie in »Replay« vorgedacht wird.

Ich fürchte mich vor Erscheinungen, die ich nicht selbst erfunden habe.

Die Geschichte ist schnell umrissen: Der Chefentwickler des Implantats, Ed Rosen, hat sich verfangen in dieser Welt, zwischen Aufzeichnungen und gegenwärtig Erlebtem. Der Leser ahnt dies schon bald, doch verfällt auch er der Faszination der Reproduktion des Erlebten. Im Vordergrund stehen hierbei sexuelle Ereignisse, die Ed Rosen immer wieder vor dem geistigen Auge abspielen lässt, sie immer wieder neu durchlebt. Es spielt keine Rolle, wie viel Zeit seit der Aufzeichnung vergangen ist – denn die Gegenwart ist uninteressant, sofern sie das Aufgezeichnete nicht überbieten kann. Was zählt, das ist einzig die Realität, die das »UniCom« seinem Träger vorspielt. Das Glück, so will es Ed Rosen, ist ein immerwährender und immer abrufbarer Zustand.

Der Verführung dieses radikalen Konstruktivismus, den Benjamin Stein in »Replay« beschreibt, kann sich der Leser kaum erwehren: Die Realität wird von den Trägern des »UniCom« im Geiste konstruiert, es ist ein willkürliches Springen zwischen den intensivsten, schönsten Aufzeichnungen des bisherigen Lebens und den damit einhergehenden Sinnesreizen. Fast scheint dies wie eine Spielart des Solipsismus: Ein paar gute Jahre und glückliche Momente reichen dem Träger des »UniComs« aus, um sich seine Welt aus den Erinnerungen immer wieder neu zusammenzubauen. Eine tatsächliche Welt brauchte es nicht mehr. Das Bewusstsein schafft sie sich schon selbst.

Die Pornoindustrie, die damals wegen der vielen freien Quellen im Netz kränkelnd darniederlag, sprang mit Begeisterung auf den Zug auf.

Foto: © Chris Janik (2011)
Benjamin Stein (Foto: © Chris Janik (2011))

Ed Rosen, Entwickler und erster Träger des »UniComs«, steht dem Implantat unvoreingenommen und naiv gegenüber. Man würde ihm gerne Dürrenmatts »Die Physiker« in sein »UniCom« eintrichtern, ihm seine Verantwortung für diese soziale Diktatur verdeutlichen. Stattdessen beobachtet man sich selbst, wie man Freunden via Facebook den visuellen Buchtrailer des Buches auf die Pinnwand postet. Die totale Transparenz, das stetige Konsumieren von Glück ist verführerisch – doch macht es auch stumpf und abhängig. Kann man dieser Sucht entrinnen? Ed Rosen beantwortet diese Frage am Ende des Romans.

Krell leuchten die Warnsignale in just diesem Moment, in dem Rosen von seinem Kompagnon Matana über das Wesen sozialer Netzwerkdienste unterrichtet wird:
»Es gibt in diesen wuchernden Systemen so gut wie keine Funktion negativer Rückkopplung. Man kann Interessantes weiterverbreiten und Beiträge anderer mit einem Klick auf den Like-Button adeln. Einen Dislike-Button hingegen gibt es nicht. Kein Benutzer wird darüber informiert, wenn er von anderen geblockt wurde. Das System bietet nur Funktionen an, die zur noch intensiveren Nutzung des Systems motivieren. Sie animieren dazu, mehr und mehr Menschen zu involvieren.«
Und weiter: »Es ist wie eine Umpolung des Wattschen Dampfreglers. Je schneller die Maschine dreht, desto mehr Dampf gibt das Ventil frei. Systemtheoretisch betrachtet, kann ein solches dynamisches System, das sich allein auf positive Rückkopplung stützt, nur in die Katastrophe steuern. Aus winzigen Turbulenzen werden wahre Stürme, eine sich immer schneller drehende Spirale ungebremster Wucherung.«

Ich höre den Jingle der Corporation, und kaum hat der erste Beitrag begonnen, habe ich gar keine Lust mehr, aufzustehen und aus dem Haus zu gehen.

Wohin die Reise führt? Sicherlich nicht in die Unendlichkeit. Es ist eine grandiose Selbsttäuschung, eine Utopie, die bitter schmeckt, weil sie nicht wirklich utopisch zu sein scheint. Benjamin Stein hat mit »Replay« einen Roman geschrieben, der lange nachwirkt, der Angst macht, entsetzt. Und den man nicht aus der Hand legen kann, ehe man ihn zu Ende gelesen hat.

Benjamin Stein: »Replay«. C.H. Beck: München 2012.

Denis Scheck ist Literaturkritiker, Übersetzer, Herausgeber und Journalist. Bekannt wurde der Schwabe als Moderator des Büchermagazins »Druckfrisch«, das einmal pro Monat in der ARD ausgestrahlt wird. Im vergangen Jahr wurde die Sendung mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet.

Der Literaturkritiker im Interview über Altersrassismus im Kulturbetrieb, Charlotte Roche und die Vielfalt der US-amerikanischen Literatur.

 

Lieber Denis Scheck, kann man über Literatur auch im Jogginganzug urteilen?

Gewiss. Aber wie in der Literatur ist auch in der Gesellschaft Formlosigkeit nicht immer von Vorteil.

Welchen Anzug würden Sie bei einer Begegnung mit Thomas Pynchon tragen?

Wenn ich es recht weiß, hatte ich einen ganz normalen schwarzen an.

John Updike, J.D. Sallinger, Thomas Pynchon, Philip Roth, T.C. Boyle – die Liste der von Ihnen geschätzten amerikanischen Romanautoren ist lang. Was ist das Besondere der zeitgenössischen amerikanischen Literatur?

Mit Sonnenbrille: Scheck trifft Boyle (Foto: ARD)

Sie haben meinen besonderen Liebling William Gaddis vergessen. Und Joan Didion, James Tiptree, Paul Auster, Don DeLillo, Bret Easton Ellis, Toni Morrison, Kurt Vonnegut, Nichsolson Baker, Robert Stone, Siri Hustvedt, Padgett Powell und Jack Vance. Jeffrey Eugenides, Jonathan Franzen und Padgett Powell. Damit wird ja schon deutlich: die besondere Qualität der US-amerikanischen Literatur ist ihre Vielfalt. Außerdem fürchte ich, daß es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen militärisch-ökonomischer Macht und künstlerischen Blütezeiten gibt. Ohne Augustus kein Ovid.

T.C. Boyle schrieb einmal: »Romane sind wie Rockkonzerte: Entweder bringst Du die Leute zum Tanzen, oder sie feuern Dir Bierdosen an den Kopf.« Zu welchen aktuellen deutschsprachigen Romanen tanzen Sie?

Hier irrt Boyle. Romane sind Romane, Rockkonzerte sind Rockkonzerte. Aber die Verwechslung zwischen beiden ist ein zeittypisches Phänomen, das insbesondere auf Erfolg bedachten Rampensäuen schon mal häufiger unterläuft. Literatur entsteht nur in der Interaktion zwischen Leser und Text, alles andere ist – sorry T.C. –  Event und Performance. Macht auch Spaß, ist aber was anderes. Doch wie schreibt Flaubert in Madame Bovary so schön: »Des Menschen Wort ist wie eine gesprungene Pauke, auf der wir eine Melodie heraustrommeln, nach der kaum ein Bär tanzt, während wir die Sterne bewegen möchten.«
Im Moment wippt mein Tanzbein ganz leicht bei Christian Krachts »Imperium« und bei Christopher Eckers »Fahlmann«.

Mit dem Zweiten sieht man besser. (Foto: Boris Schöppner)

Junge deutschsprachige Autoren wie Leif Randt, Jan Brandt, Antonia Baum oder Rafael Horzon finden in Ihrer Sendung »Druckfrisch« leider kaum statt. Warum?

Der insbesondere im deutschen Kulturbetrieb besonders verbreitete Altersrassismus und der für die Kritik typische Entjungferungswahn protegiert Debütanten ohnehin schon stark. Aber Franziska Gerstenberg, Mariam Kühsel-Hossaini und Abbas Khider waren ja zum Beispiel auch nicht alt oder etabliert, als sie in der Sendung vorkamen. Die Erfahrung lehrt, daß die besten Bücher selten von den jüngsten Autoren geschrieben werden – und daß man selbst schon renommierte Autoren wie Antje Ravic Strubel, Sibylle Lewitscharoff oder Feridun Zaimoglu einem größeren Fernsehpublikum erst bekannt machen muß. Zudem ist Interviewtwerden genau wie Schreiben etwas, das man lernen muß.

Ihr Interview mit Michel Houellebecq zu dessen Roman »Karte und Gebiet« ist sehr intensiv und auch skurril. Das Gespräch wirkt seltsam entrückt, geradezu gespenstisch. Kann man so etwas planen?

Ja.

Welches Interviewerlebnis war das für Sie außergewöhnlichste?

Ein Interview mit Ray Bradbury, bei dem nicht alle Gesprächsteilnehmer Beinkleider trugen.

In einem Interview sagten Sie einmal, dass Sie zwischen 150 und 180 Bücher pro Jahr lesen. Das sind etwa drei Bücher pro Woche. Wie halten Sie das Tempo?

Was wäre denn die Alternative? Golf spielen?

Ihr Kollege Hellmuth Karasek sammelt Lexika. Sammeln auch Sie ausgefallene Bücher?

Als Kind und Jugendlicher habe ich sehr passioniert Science Fiction und Fantasy gesammelt: »Ace Doubles«, »Galaxy«, »Astounding Stories« und so was, auch alte amerikanische Pulp-Magazine oder der fast zeitgleich mit »Weird Tales« oder »Amazing Stories« erschienene deutsche »Orchideengarten«. Aber in den Häusern von Fischern stößt man selten auf Aquarien.

Auf dem Rad: Scheck trifft Kracht (Foto: ARD)

Was haben Sie von Fritz J. Raddatz gelernt?

Daß man im literarischen Leben keine Dankbarkeit erwarten sollte.

Und von Marcel Reich-Ranicki?

Daß ein Bad in Drachenblut von Vorteil ist.

Beide Literaturkritiker, Raddatz wie auch Reich-Ranicki, schreiben in ihren Autobiografien ausführlich über öffentliche Auseinandersetzungen wie auch Freundschaften mit berühmten Schriftstellern wie etwa Günter Grass oder Martin Walser. Werden Sie in Ihrer Autobiografie auch aus dem Nähkästchen plaudern?

Ich will hoffen, daß mir unverschämt hohe Schweigegeldzahlungen das Maul stopfen.

Wären Sie selbst gerne Romanautor?

Solange darunter sowohl Nabokov wie Charlotte Roche und Susanne Fröhlich fallen, wüßte ich meinen Wunsch bei einer plötzlich auftauchenden guten Fee anders zu stellen.

Denis Scheck wurde 1964 im schwäbischen Bretzenacker geboren. Er ist Literaturkritiker und Journalist. Seit Februar 2003 moderiert er das Büchermagazin »Druckfrisch«, das einmal pro Monat in der ARD ausgestrahlt wird.

 

 

beginnersEs ist das Ende, das entscheidet. In der erschütternden Kurzgeschichte »Sag den Frauen, wir gehen« wird es deutlich, welche Auswirkungen die Arbeit des Lektoren Gordon Lish auf die Texte von Raymond Carver hatte. Plötzlich ist alles anders.

Doch der Reihe nach: Die Short Stories von Carver, die John Updike und Philip Roth zum Schreiben bemüßigten, faszinierten die Verschwörungstheoretiker über Jahre hinweg: Was bleibt übrig von Carver, wenn man Lish subtrahiert? Ist Carver überhaupt Carver? Was ist Carver wirklich? Ist es wahr, dass die Texte von Raymond Carver, der als »the godfather of literary „minimalism“«¹ gefeiert wird, von seinem Lektoren Gordon Lish nicht nur teilweise bis zu 70% reduziert wurden, sondern auch Handlungen und auch Charaktere gebeugt wurden?

Nur schwerlich konnte man diese Gerüchte auf den Prüfstand stellen, galten die Manuskripte doch  mitunter verschollen. Dem italienischen Schriftsteller und Literaturkritiker Alessandro Baricco fiel einst das Original der Kurzgeschichte »One more thing« in die Hände, die er sogleich mit der veröffentlichten Version verglich. Erschüttert schrieb er: »Es ist, als ob man entdeckt, dass die Originalversion von „Warten auf Godot“ damit endet, dass Godot auftaucht und etwas Sentimentales sagt.«² Baricco fragte, ob »eines der größten Vorbilder zeitgenössischer Erzählkunst ein künstliches Modell war. Im Labor erzeugt.«² Doch kann man diesen Sachverhalt verifizieren, wenn nur ein einziger Textvergleich der Öffentlichkeit vorliegt?

»Das nennst du Liebe, L.D.?«, sagte sie und blickte ihm ins Gesicht. Es war ein grausamer, bohrender Blick, und er hielt ihn aus, solange er konnte.

Im Jahre 2009 gaben Tess Gallagher, die Witwe Raymond Carvers, William L. Stull und Maureen P. Carroll »Beginners« heraus, die Manuskripte der berühmten Kurzgeschichten-Kollektion »What we talk about when we talk about love«, die in der Bibliothek der Universität Indiana lagerten. Ausgehend hierfür ist das Manuskript, das Carver 1980 an Gordon Lish schickte. Lish kürzte diese Versionen um mehr als 50%. Die Veröffentlichung von »Beginners« im Jahre 2009 war eine Sensation, führten diese Manuskripte doch der staunenden Weltöffentlichkeit vor, wie unterschiedlich Originale und späteren Veröffentlichungen tatsächlich waren. Nun veröffentlicht der S. Fischer Verlag diese Manuskripte erstmals in deutscher Sprache.

Raymond Carver
Raymond Carver

Auch in den präzisen Übersetzungen von Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié und Antje Rávic Strubel wird deutlich, wie wichtig die Lakonie, die Aussparungen, das Skizzenhafte der Kurzgeschichten Carvers ist. In den Originalversionen tauchen plötzlich Namen auf, wo man bisher Anonymität vermutete. Weiterhin knapp, skizzenhaft, beängstigend – denn das konnte auch Carver. Doch sind die Sätze bei ihm länger, ausgeschmückt. Biografische Verweise vertiefen die Charaktere, Schauplätze werden offensichtlich. Es ist insbesondere das Ende, die letzten Zeilen der Kurzgeschichte »Sag den Frauen, wir gehen«, das vorführt, wie Carver seine Geschichten entwarf und Lish sie zu Ende dachte.

Die »bedrohliche Ästhetik«, der »K-Mart-Realismus«, das wird hier deutlich, ist mitunter ein Verdienst der sprachlichen Radikalität von Gordon Lish. Carvers eigentlicher Sound ist weicher, beinahe versöhnlicher. Doch sind seine Geschichten in der ursprünglichen Version immer subtiler, in ihrer Deutlichkeit noch verstörender. Baricco schreibt: »Carver hatte vielleicht etwas Schreckliches, doch Faszinierendes im Kopf. Dass das Leid der Opfer unbedeutend ist.«²

»Am Morgen gießt sie mir Teacher’s Whisky auf den Bauch und leckt ihn ab. Am Nachmittag versucht sie aus dem Fenster zu springen.«

Lish verknappte die Geschichten, brach sie auf ihr Skelett herunter. Härter als Hemingway, trostloser als Updike – die Short Stories erzählen das Leben der Verlierer des American Dreams. Getrieben von Alkohol und anderen Süchten, manövrieren sich die Charaktere in eine unausweichliche Isolation. Die Leiden dieser amerikanischen Untergeher sind es, die ein Bild von Amerika zeichnen, welches es so in der Literatur nicht eben häufig gibt. Seine Geschichten sind allesamt suchterregend, in ihrer Ödnis faszinierend brutal. Es ist ein bisschen so, wie beim Trinken eines Whiskeys: Man kann das nur in Maßen genießen, Schluck für Schluck. Ist man maßlos, dann wird man stumpf und besoffen vor Destruktivität und Angst. Es geht dem Leser so, wie Carvers Charakteren.

Doch sind es nur die Geschichten, die ausschlaggeben sind? Was ist mit der Atmosphäre, dem Stil, dem Sound? Die Lakonie, die Aussparungen – sie tragen maßgeblich zur Faszination der Kurzgeschichten bei. Es ist nicht zu leugnen.

Gordon Lish
Gordon Lish

Die Eingriffe Lishs ließen Carver nicht kalt, sie zermürbten ihn. »Beginners: Uncut – Die Originalfassungen« ist eine Auswahl der Briefe angefügt, die Carver an seinen Lektoren schrieb. Hin- und hergerissen zwischen Dank, Unterwerfung, Verzweiflung und Unsicherheit, schrieb Carver:

»Wenn das Buch herauskommt und ich […] das Gefühl habe, dass ich zu viele Zugeständnisse gemacht habe, […] dann kann ich mir selbst nicht in die Augen schauen und vielleicht nie wieder schreiben.«

Bleibt die Frage, von welcher Relevanz diese Offenlegung nun in der Rezeption der Kurzgeschichten Carvers ist. Spielt es eine Rolle? Verlieren die Geschichten nun ihre Faszination? Nein.

Die Veröffentlichung von »Beginners: Uncut – Die Originalfassungen« ist eine Erweiterung der verstörenden Weltansicht Carvers. Sie zeigen das Elend in größeren Ausschnitten, pathetischer vielleicht, aber nicht eben liebevoller. Es ist der Beweis, dass Raymond Carver der große Schriftsteller war, für den man ihn seit »Will you please be quiet, please?« halten konnte: Als mitunter wichtigste Stimme der zeitgenössischen amerikanischen Literatur.

Raymond Carver: »Beginners: Uncut – Die Originalfassungen«. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié und Antje Rávic Strubel. S. Fischer Verlag:  Frankfurt 2012.

 

¹ Kirk Nesset, »The Stories of Raymond Carver. A Critical Study«, Athens: Ohio University Press, 1995, S. 2.

² Alessandro Baricco, »Godot ist doch gekommen. Wie Lektoren Literaturgeschichte umschreiben«, in: Die Welt, 29.05.19999, S. 9.

Markus Berges
(Foto: Matthias Sandmann)

Markus Berges ist Texter und Sänger der Band Erdmöbel, über die die Süddeutsche Zeitung schrieb, sie sei „die größte deutsche Band unserer Tage.“
Doch ist der Kölner nicht nur ein begabter Song-Texter, auch als Roman-Autor beweist er sein poetisches Geschick.
Bereits im September 2010 veröffentlichte Berges den von der Kritik geschätzten Roman „Ein langer Brief an September Nowak“.
Leichtfüßig und melancholisch erzählt der Roman von Täuschungen und Träumen, Reisen und der Schönheit des Atlantiks.  

Der Autor im Interview über Johann Lafer, vergammelte Fußballstadien und das Verhältnis zwischen Realität und Illusion.

 

Lieber Markus Berges, fahren Sie gerne Zug?

Ja, wenn ich nicht stehen muss. Aber meistens ist noch Platz im Speisewagen. Wir sind letztens beispielsweise mit Erdmöbel im Zug von München nach Berlin gefahren. Von der Brezel im Bahnhof über Nebelfelder durch finstersten Zonenrandwald, in dem die Sonne aufging, zur lächerlich schlechten Kost von Johann Lafer: yeah!

Die Protagonisten in Ihren Songtexten wie auch in Ihrem Debüt-Roman »Ein langer Brief an September Nowak« fahren häufig Bus, sie fahren häufig Bahn. Meist sind es sehr poetische und melancholische Momente. Worin liegt der Zauber dieser passiven Bewegung?

Da ist was dran. Es wird auch manchmal Auto gefahren, aber dann wird jemand mitgenommen. Das Passive daran ist tatsächlich das Schöne, der Fahrer fährt, weiß den Weg und du darfst schauen, träumen, lesen. In zwei Wochen fliege ich in die Ukraine und fahre mit dem Bus auf die Krim, mal sehen, wie sich das Ausgeliefertsein dort anfühlt.

Ihr Roman ist der Reisebericht von Betti, einer Jugendlichen, die zum ersten Mal das Elternhaus verlässt, um eine Brieffreundin in Südfrankreich zu besuchen. Sie wird getäuscht und enttäuscht. Doch schöpft sie aus ihrer Verzweiflung Mut und Kraft. Wächst der Mensch an Niederlagen?

Das kommt drauf an, denke ich. Die Aufstehfähigkeit verdankt man wohl seinen ersten Lebensjahren. Oder eben nicht. Dann gibt es natürlich auch Niederlagen, von denen man sich nicht mehr erholt.

In Ihrem Roman verschwimmen Bewegung und Stillstand, Illusion und Realität. Betti, die Hauptperson, verewigt ihre Erlebnisse mit einer Lomo-Kamera. Ist Fotografie das Glied zwischen Realität und Illusion?

Bei den Fotos im Roman spielt das Verhältnis von Realität und Illusion eine Rolle. Traditionell galten Fotos als Dokumente. Aber fiktional wie Gemälde wurden sie schon immer allein durch ihre Ausschnitthaftigkeit. Und anders als die unabgebildete Welt, fangen sie sofort an, in Kontexten und in Köpfen Geschichten zu erzählen. Ich habe für den Roman sowohl fotografiert (auch Fotos abfotografiert) als auch ältere, eigene Fotos (z.B. von einem Gemälde, das tatsächlich in der im Roman beschriebenen Bahnhofbar hängt) verwendet. Interessant finde ich, wie sich in Fotos Zeiten überlappen. Aus welchem Foto hat Gursky wohl die
Schwimmerin herausmontiert, die sich in »Monaco 2004/06« findet, dem Foto, das am Ende meines Romans steht? Wann schwimmt sie eigentlich und wo? Hat sie je von Gursky gehört? Wer ist sie? Ist es eine Frau?

»Ein langer Brief an September Nowak« weckt Fernweh. Ich habe den Roman in Italien am Comer See gelesen. Trotz des wunderbaren Lichts, der spektakulären Kulisse, wollte ich mit dem Rucksack schnellstmöglich nach Südfrankreich reisen. Was ist das Anziehende an Orten, an denen man sich derzeit nicht befindet?

Das weiß ich nicht. Diese Sehnsucht ist ziemlich unbuddhistisch, oder? Ich kenne sie natürlich auch gut. Das Schöne an der Literatur ist vielleicht, dass sie sie gleichzeitig wecken und stillen kann.

Was ist die Chance des Reisens?

Also mir geht es meistens nur um das ganz reale Glück. Manchmal will ich was lernen, meistens aber einfach nur da sein, ich meine, in diesem ganz einfachen Sinne von: hey, dieses vergammelte Fußballstadion gibt es, in diesem abruzzesischen Abendlicht, und ich sehe es, ich bin da.

Gibt es einen Unterschied zwischen der Sonne in Palermo, Nizza und Köln?

Ja, vielleicht hat es mit irgendwelchen Brechungen zu tun. Jedenfalls kann auch der Kölner Himmel, nach dem ich mich nie sehne, eine einzigartige Durchsichtigkeit haben. Hätten Palermo und Nizza heute morgen in Köln gefrühstückt, hätten sie zukünftig danach Sehnsucht.

Wie Amélie Poulain in »Die fabelhafte Welt der Amélie« staunt auch Betti mit großen Augen über das sie umgebende Treiben der Menschen. Leise und vorsichtig tasten sich beide an ihr Glück heran. Kann man Glück erzwingen?

Es gibt auf der Welt natürlich viel objektives Unglück. Aber schmieden lässt Glück sich doch manchmal. Der glücklichste Tag der letzten Woche war der Tag, an dem ich und meine Familie aus unserem Haus zwangsevakuiert waren, wegen einer Weltkriegsbombe. Aus Gründen hätte man das auch anders erleben können.

Das Buch endet mit einem Zitat aus Vladimir Nabokovs »Das wahre Leben des Sebastian Knight«: »Sie besaß Phantasie – der Muskel der Seele -, und zwar eine besonders kräftige, beinahe männliche Phantasie. […]« Spielt die Wahrhaftigkeit des Erzählers in Ihrem Romanen überhaupt eine Rolle? Ist es wichtig, ob Betti tatsächlich in Südfrankreich war?

Nein, letztlich geht es nur um die Fähigkeit, wie Nabokov sagt, den »Glorienschein um eine Bratpfanne« entdecken zu können. Andererseits bedeutet das Erzählen auch einen Hauch mehr als bloßes Spiel. Deshalb liegt die Wahrhaftigkeit des Erzählers wohl eher in seiner erzählerischen Energie, darin, dass es ihm wirklich um etwas, sei es um sich selbst, geht.

Auf dem aktuellen Album Ihrer Band Erdmöbel, »Krokus«,  befindet sich ein Song namens »Wort ist das falsche Wort«. Sie singen »Wort ist das falsche Wort, es ist mehr Akkord. Ach – ist unsagbar schwer zu sagen.« Sprache ist nur eine Annäherung an die Welt. Ist ein Klang tiefer als Worte?

Klang ist eine andere Sprache, ich kenne mich da nicht aus, aber man spürt ja, dass sie auf andere Areale im Gehirn trifft. Wenn Sprechen nicht mehr geht, geht oft noch Singen. Mich ergreift Musik meist tiefer als ein Text, aber oft hallen Worte länger nach.

Markus Berges  wurde 1966 im münsterländischen Telgte geboren. Sein Debüt-Roman »Ein langer Brief an September Nowak« wurde im September 2010 im Rowohlt Verlag veröffentlicht.

 

Im vergangenen Jahr veröffentlichte Jan Brandt seinen 900 Seiten umfassenden Debüt-Roman »Gegen die Welt« und wurde damit sogleich für den Deutschen Buchpreis nominiert. Der Roman erzählt von der Bürde der Jugend, er erzählt vom Scheitern und existentieller Langeweile: eine grandiose Kapitulation.

Der Autor im Interview über Hiob, Anakin Skywalker und die Abgründe der Menschheit.

 

Lieber Jan Brandt, was ist Wahrheit?

Wahrheit ist die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Ein Roman kann niemals wahr sein, höchstens wahrhaftig oder wahrscheinlich.

Immer wieder tauchen religiöse Motive in Ihrem Roman auf. Obwohl niemals moralisierend, so entsteht doch der Eindruck, dass die religiöse Versiertheit in Jericho stellvertretend für eine Sehnsucht nach allgemeingültigen Werten und Führung steht. Kann Religion diesem Verlangen noch gerecht werden?

Religion stillt die Sehnsucht nach einfachen Antworten auf schwierige Fragen. Jede Religion hat einen Ursprungsmythos, der auch nach Jahrhunderten noch seine Wirkung entfaltet. Diese Texte sind machtvoll, trostspendend und zerstörerisch zugleich. Die Geschichte der Menschheit zeigt, welche Energien solche Fiktionen freisetzen können. Und darum geht es in »Gegen die Welt« mehr als um alles andere: um Geschichten und deren Interpretationen, um die Suche nach einer Wahrheit im Dickicht sich widersprechender Erzählungen.

Ist »Gegen die Welt« ein Roman über das Theodizee-Problem?

Das Theodizee-Problem behandelt die Frage: Wenn Gott gut und allmächtig ist, warum gibt es dann so viel Elend auf der Welt? Wie kann Gott es zulassen, dass die gläubigen, rechtschaffenden Menschen, die Krone seiner Schöpfung, leiden? Man kann die Geschichte von Daniel Kuper als Parabel lesen, als einen Wiedergänger Hiobs, dem immerzu Böses wiederfährt und der doch nicht seinen Glauben verliert. Aber im Gegensatz zu Hiob verliert Daniel Kuper seinen Glauben, an die Gesellschaft, die Gerechtigkeit, das Glück.

Volker, ein vermeintlicher Nebencharakter, entwickelt schon in seiner frühen Jugend eine außergewöhnliche Faszination für den christlichen Glauben. Er wird später die neutestamentarische Position des Judas einnehmen. Was ist das Faszinierende an den Schattenseiten des Christentums?

Es sind ja nicht die Schattenseiten allein. Die Bibel ist voller Brutalität: Brudermorde, Erdbeben, Feuersbrünste, Sintfluten, Hungersnöte, Kindesschlachtungen, Folter, Hinrichtungen – ein kollektiver Splatterroman. Aber sie ist auch voller Liebe und Mitgefühl, Hilfsbreitschaft und Vergebung. Aus diesem Dualismus entsteht eine ungeheure Kraft. Der Konflikt, der daraus resultiert, ist faszinierend, nicht nur die helle oder dunkle Seite der Macht, die Verwandlung von Judas vom Jünger zum Verräter oder – um einen anderen mächtigen Mythos zu zitieren – von Anakin Skywalker zu Darth Vader.

Der Tod spielt in »Gegen die Welt« eine große Rolle. Weshalb wird er von den Menschen kaum thematisiert, kaum beachtet?

Das hat mich auch gewundert, kein Kritiker hat sich ernsthaft mit diesem Thema auseinandergesetzt. Vielleicht liegt es daran, dass der Tod in der Literatur allgegenwärtig ist, dass viele Romane vom Sterben handeln, vom Untergang eines Menschen, einer Familie, einer Gesellschaft. Und vielleicht zeigt das auch die Grenzen der Fiktion auf: Vielleicht bedarf Fiktion einer Verankerung in der Wirklichkeit, um volle Anerkennung beanspruchen zu können. Hätte ich mich unmittelbar vor oder nach Erscheinen meines Romans umgebracht, hätten sich die Exegeten auf das Selbstmord-Motiv gestürzt und es als Schlüssel für mein Leben und Sterben gedeutet.

Einige der auftretenden Jugendlichen sind besessen von Heavy Metal. Mittlerweile ist diese Musik hauptsächlich in ländlichen Gebieten von großer Bedeutung. Können Bands wie Judas Priest, Iron Maiden und Saxon noch als Vehikel für die Wut und die Angst junger Menschen dienen?

In der Provinz diente Musik immer schon zur Distinktion, stärker als in der Großstadt, das Potenzial mit Aussehen und abseitigem Musikgeschmack Aufmerksamkeit zu erregen, ist dort einfach höher. Mag sein, dass Heavy Metal auch immer ein Ventil war und ist, um Aggression abzulassen. Dann hätte die Musik aber nur eine gesellschaftsstabilisierende Funktion, die dazu dient, Widerstand zu kanalisieren und den status quo aufrechtzuhalten. In »Gegen die Welt« ist Heavy Metal eine Art Ersatzreligion, das Gegenstück zum Christentum, dem sich die Jugendlichen aus Protest über die Diktatur der Angepassten verschreiben. Diese Haltung ist in ihrer Ausschließlichkeit auch reaktionär. Ein Teufelskreis.

Roberto Bolaños Roman »2666« thematisiert ebenso die Abgründe der Menschlichkeit, wie eben auch »Gegen die Welt«. Jedoch spielt sich der Roman Bolaños nicht nur in einer Stadt, oder in einem Land ab. Schreckensszenarien findet man in jedem Winkel der Welt. Weshalb haben Sie sich dafür entschieden, »Gegen die Welt« ausschließlich in einer Kleinstadt im Norden Deutschlands handeln zu lassen?

In meinem Buch heißt es: »Das Dorf war überall.« Die Geschichte Daniel Kupers, die Geschichte vom Verschwinden des Dorfes ist universal und könnte so oder so ähnlich überall auf der Welt spielen, auch wenn die sozialen Umstände dort, wo immer das dann ist, andere sind. »2666« ist dagegen tatsächlich global, von Anfang an Zeit und Welt umspannend, und doch scheinen beide Romane eine gemeinsame Botschaft zu haben: dass es kein Entkommen gibt, dass sich dort, wo immer Menschen sind, Abgründe auftun. Bei Bolaño allerdings sehr viel tiefere und furchtbarere als bei mir.

Verstehen Sie »Gegen die Welt« als Schlüsselroman?

Nein. Es gibt – abgesehen von einigen Dorfgeschichten, autobiografischen Erlebnissen, zeitgeschichtlichem Material und topografischen Rahmenbedingungen – keinen Bezug zur Wirklichkeit.

Der Film »Das weiße Band« zeichnet eine ebensolche bedrohliche Atmosphäre aus, wie sie auch in Ihrem Roman allgegenwärtig ist. Im Gegensatz zu Ihrem Roman wird im Film allerdings dem Zuschauer am Ende überlassen, das Geschehen moralisch zu werten. Die Kamera harrt am Altar aus, der Pfarrer setzt sich zu seiner Gemeinde auf die Kirchenbank. Warum führen Sie den Leser Ihres Buches nicht ebenso?   

Ich liefere am Ende auch keine Moral, ich knüpfe nicht einmal alle losen Fäden zusammen. Ich habe bewusst Leerstellen gelassen, weil es auch im wirklichen Leben nicht auf alle Fragen Antworten gibt, und man das auch nicht von einem Gesellschaftsroman erwarten kann. Ich mag keine Bücher, die mir die Welt erklären, das ist keine Literatur, sondern Propaganda.

Kann man dem Erzähler Ihres Romans »Gegen die Welt« Glauben schenken? Oder ist auch er so unaufrichtig, so manipulierend wie die meisten der auftretenden Personen?

Er ist so vertrauenswürdig wie jeder andere auch. Glauben Sie mir. Ich kenne ihn besser als er sich selbst.

Die Band Tocotronic singt in ihrem Lied »Kapitulation«: »Alle, die die Liebe suchen, sie müssen kapitulieren.« Dies trifft in besonderem Maße auch auf den Protagonisten Daniel Kuper zu. Kann man dem Scheitern etwas Positives abgewinnen?

Offenbar schon, sonst gäbe es weniger Texte, die genau davon handeln, ob Songs, Gedichte oder Erzählungen und Romane.

Jan Brandt wurde 1974 im ostfriesischen Leer geboren. Sein Debüt-Roman »Gegen die Welt« wurde im August 2011 im Dumont Buchverlag veröffentlicht.