Eistee, Flachbildschirme und Strandpartys – es sind die Säulen eines beklemmenden Schreckens-Szenarios. Leif Randt entwirft in seinem Roman „Schimmernder Dunst über Coby County“ eine milde Utopie, einen Wohlfühl-Schauder, in dem jeder Satz bedrohlich wirkt.

„Als wir die Kinder von Coby County waren, wussten wir noch nicht, dass wir an einem der besten Orte der Welt lebten. Heute ahnen wir es. Aber das macht es nicht leichter.“

In Coby County schmerzt das Leben nicht, es ist wohltemperiert und vitaminreich. Den Menschen hier geht es gut, Geld ist zu genüge vorhanden, die Ernährung ist sehr bewusst und die College-Jacken von modischem Chic. Man arbeitet hier in der Mode- und Kosmetikbranche, in Medien- oder Dienstleistungsunternehmen. Der Mittzwanziger Wim Endersson lebt als Verlagslektor ein ausgeruhtes Leben. Gerne fährt er mit seinem besten Freund Wesley Alec Prince auf trendigen Fahrrädern durch das sonnengeflutete Coby County, entlang der Strandpromenade, vorbei an Hotelkomplexen und dem BakeryExpress. Nizza fällt dem Leser hier ein, vielleicht auch Miami – doch ist Coby County ein Ort jenseits des Globus. Menschen kommen aus Europa, aus Amerika angereist, um hier den Frühling zu erleben. Touristen, die aus ihrer Lebenswirklichkeit ausbrechen, um sich auf Wasserbetten auszuruhen und Wodka-Apfelsaft zu trinken. Das Wetter ist mild, im Winter regnet es ab und an. Für die Einwohner der Stadt ein allgegenwärtiger Zustand des Glücks. Amerikanische Highschool-Serien wie etwa „Dawson‘s Creek“ oder „O.C., California“ stehen für den Sound und die Atmosphäre dieses Wellness-Paradieses Pate.

„Als Teenager sind wir davon ausgegangen, dass ein Leben in kleinen, in sich abgeschlossenen Episoden stattfindet. Also haben wir uns irgendwann zum ersten Mal verliebt und es zu sinnlichen Knutschszenen auf Wiesen und Anhöhen kommen lassen. Später mussten wir tragische Trennungen hinnehmen und feierten dann aus Trotz ausschweifende Tanzpartys am Strand. […] Gut daran ist, dass sich bis heute nie etwas verschlechtert hat.“

Wim, ein Kind der Sonne, ist stolz auf die leichte Melancholie, die er in seine E-Mails einstreut, die er in wohldurchdachten SMS durchschimmern lässt. Jeder seiner Sätze ist konstruiert, jede Kommunikation reflektiert. Wim weiß genau, weshalb seine Freundin Carla Keyboard spielen sollte oder sein Freund Wesley ab und an Coby County verlassen muss. Wim lässt sich nicht locker und strengt sich ungeheuer an, so wahrgenommen zu werden, wie er es für richtig hält. Er ist damit nicht alleine. Alle Einwohner Coby Countys verhalten sich cool, gelassen, souverän – doch niemals natürlich.

Die wohlige Kulisse von Coby County beginnt zu bröckeln, als die Hochbahn entgleist und einige Menschen dadurch in Lebensgefahr geraten. Plötzlich scheint die Zeit still zu stehen. Die Menschen sind schockiert, die Nachrichtensprecher hyperventilieren und daten stetig News up. Die allgegenwärtige Unaufgeregtheit bricht für einen Moment in sich zusammen.
Es ist ein nichtiges Ereignis, das von den Menschen aufgeblasen wird. Es ist genauso nichtig wie eine Undergroundparty in einer Shopping-Mall oder das drohende Unwetter, das von einigen Einwohnern zur Apokalypse heraufbeschworen wird.

„Am Tag danach wissen wir eigentlich nicht, ob das Handynetz jemals ausgefallen war. Jedenfalls können wir nun, seit wir unsere Telefone wieder eingeschaltet haben, auch problemlos Kurznachrichten und Anrufe empfangen.“

Leif Randt (© Simon Vu)

Der Erzähler wirkt mindestens ebenso sachlich und souverän wie Wim. Der Fokus weicht niemals ab, kommentiert nicht. Trocken und verständnisvoll wird berichtet, wie dieses watteweiche Leben ab und an von der Seite angepustet wird. Doch entwickelt man im Laufe der knapp 200 Seiten eine eigenartige Sympathie für den Protagonisten, der mit großen Augen staunend auf die Welt blickt. Er kennt keine Niedertracht und Falschheit, keine Gemeinheit. Notlügen, das ist das Äußerste der Gefühle. Es ist das Bild, das man längst vom unbekümmerten, tumben Apple-Nutzer entwickelt hat, der über seinen iPod Songs von Coldplay hört. Wüsste man es nicht besser, so würde man Wim Endersson als Autisten beschreiben.

Dieses brutale Offenlegen von Unzulänglichkeiten und die Schilderung einer verdrehten Moral hat sich Randt bei Bret Easton Ellis abgeschaut. Auch Randt ist mit seinen Charakteren schonungslos. Doch ist seine Brutalität subtiler. Er lässt den Leser in die Falle seiner Wohlfül-Welt hineintappen. Bis dieser merkt, dass er sich in der Seichtheit von Coby County verfangen hat, ist es zu spät. „Schimmernder Dunst über Coby County“ denkt das zu Ende, was Christian Kracht in „Faserland“ umrissen hat. Eine gleichgeschaltete Gesellschaft, die sich in ihrer vermeintlichen Individualisierung verirrt.

„Ich höre auf zu tippen, weil plötzlich mein Handy in der Sporttasche vibriert. Ich kann Wesleys Namen durch das dünne Nylon des Außenfachs hindurch auf dem Display leuchten sehen. Ich zögere für einen Moment, greife zuerst nach einem Weingummi, aber dann doch nach dem Telefon.“

Dass der Leser am Ende dieses ungeheuerlichen Romans selbst ins Visier gerät, dass er sich ob seiner eigenen Position gewahr wird, das ist das Verdienst von Leif Randt. Ein Roman, der Menschen zum Nachdenken zwingt, zum Reflektieren. Und dabei so süffig geschrieben ist, dass man ihn nicht aus der Hand legen will. Der letzte deutschsprachige Autor, dem dies geglückt ist, ist Christian Kracht. Leif Randt wird mit seinem zweiten Roman nun zwar kein neues Zeitalter deutschsprachiger Literatur einleiten, doch hat er sie auf eine neue Ebene gehoben. So kühl und so beängstigend.

Leif Randt: „Schimmernder Dunst über Coby County“. Bloomsbury Verlag:  Berlin 2011.

Der Debütroman »Gegen die Welt« von Jan Brandt erzählt die Geschichte des Antihelden Daniel Kuper, der im Sturmlauf gegen ein Dorf anrennt, das in einem der Höllenkreise Dantes seine Entsprechung finden könnte.
Doch ist das Dorf Jericho, in dem sich die Rahmenhandlung des über 900 Seiten starken Buches abspielt, ein klarer Verweis auf jenes Jericho, das im Buch Josua von den Israeliten eingenommen und zerstört wird. Das biblische Jericho also sinnstiftend für das fiktive nordfriesische Jericho. Doch statt dem Einsturz der Stadtmauern wird hier der Sturz eines jungen Menschen evoziert und das nicht etwa von einer feindlichen Invasion, sondern von der Familie, der Stadtgemeinschaft, vom direkten Umfeld. Daniel Kuper bricht an der Selbstsucht, am Unvermögen, an der Dummheit seiner unmittelbaren Umgebung.
»Gegen die Welt« ist eine moderne Hiob-Geschichte. Doch kennt sie kein glückliches Ende.

»Gott wird dich nicht so einfach gehen lassen«, brüllte er, mit der Linken hielt er Daniel am Kragen fest, mit der Rechten ohrfeigte er ihn noch einmal. »Nicht, bis du Buße getan und ihn um Vergebung gebeten hast.«

Jan Brandt wurde 1974 in Leer geboren, eine jener nordfriesischen Städte, auf deren Koordinaten dieses fiktive Jericho gepflanzt wurde. In Anlehnung an Uwe Johnsons »Mutmassungen über Jakob«, das in einem Dorf namens Jerichow spielt, entwickelt Brandt eine Welt voller Niedertracht und Leugnung, Versagensängsten, Verzweiflung und Wut.

Virtuos spielt Brandt mit typografischen Elementen, mit Perspektiven und Erzählfiguren. Diese Stilmittel sind essentiell für die Geschichte, für den Leser. Manchmal rauscht dieser atemlos durch den Roman. Manchmal stockt die Erzählung, weil der geschilderte Ausschnitt aufs Äußerste gespannt wird. So etwa die Schilderung des Todes eines Mitschülers von Daniel Kuper. Der Roman teilt sich hier auf, in oben und unten. Oben wird die Geschichte überspannter Jugendlicher erzählt, die in ihrer Langeweile zergehen, an den unsichtbaren Stadtmauern Jerichos verzweifeln und ihre einhergehende Wut, ihren unaussprechlichen Frust aufeinander projizieren. Unten, da wird die Geschichte des Lokführers erzählt, der den Jungen bald überfahren wird.

Der Tod spielt in »Gegen die Welt« eine zentrale Rolle. Alle begegnen sie ihm. Immer wieder. Doch wird er niemals in Frage gestellt, niemals thematisiert. Nur Daniel Kuper scheint die Schuldfrage zu stellen. Doch gibt es für die Bürger Jerichos nur einen Makel: den Protagonisten. Ob nun der Dorfpfarrer den Jugendlichen verprügelt, der Chefredakteur der Lokalnachrichten den Praktikanten verstummen lässt oder sich der Vater illoyal seinem Sohn gegenüber verhält – immer wieder ist es Daniel, der für die Schwächen und Fehlbarkeiten der vermeintlich Stärkeren büßen muss. Wenn sie auch nicht viel gemein haben, so vereint in diesem Dorf doch Niedertracht alle auftretenden Personen.

Jan Brandt (© Dumont Buchverlag)

Schon bald stellt der Leser fest, dass die hierarchische Struktur dieser Gemeinde nicht aufgebrochen werden kann. Der angehende Bürgermeister zitiert bei einer beängstigenden Wahlkampfveranstaltung unverhohlen Passagen aus Hitlers »Mein Kampf«. Daniel Kuper erkennt dies, stellt jedoch bald fest, dass die Einwohner Jerichos kein Interesse an seiner Erkenntnis haben. Sie registrieren nur das, was sie registrieren wollen. Moral spielt für sie keine Rolle, Treue und Aufrichtigkeit auch nicht.

Von da an war Daniel der Spinner. Alle behaupteten, er behauptete, von Außerirdischen entführt und im Mais wieder abgesetzt worden zu sein. Dabei war er unfähig, über das, was tatsächlich passiert war, zu sprechen.

So kann „Gegen die Welt“ als ein Generationenroman gelesen werden. Als eine Bestandsaufnahme von Befindlichkeiten der Menschen, die in den tiefen 70ern irgendwo in Deutschland aufgewachsen sind. Niemals pathetisch, aber immer detailfreudig erzählt Brandt von einem dumpfen Landleben, von Isolation und Wut, sodass dies auch die Geschichte eines Großstadtlebens sein könnte. Der Autor lässt offen, ob es sich hierbei um einen Schlüsselroman handelt. Doch ist sein Erzähler so unzuverlässig, dass die Grenzen zwischen tatsächlich Erlebtem, Erdachtem und Verhandelbarem irgendwo zwischen Science Fiction, Heavy Metal und Theologie-Exzessen verschwimmt.

»Gegen die Welt« ist eine grandiose Kapitulation, ein Manifest des Scheiterns. Dieser Roman kennt viele Wahrheiten, jede Perspektive hat seine eigene, doch ist keine zur Vollständigkeit verpflichtet.
Am Ende gleicht die Geschichte einem Trümmerhaufen. Wracks, Ruinen, Schutt – es sind bloß Menschen.

Jan Brandt: »Gegen die Welt«. Dumont Buchverlag: Köln 2011.
Jan Brandt im Interview.