Welchen Geschmack hat Zynismus? Und welche Farbe besitzt Desillusionierung?

In Anna Kordsaia-Samadaschwilis »Ich, Margarita« erwartet man zunächst keine der beiden Stimmungen. Auf dem Cover zeigt eine junge Frau beim rasanten Radschlagen (oder beim Breakdance, so genau kann man das nicht sagen) ihren Bauchnabel. Dieses Bild, in Verbindung mit dem selbstbewussten, ein wenig frechen Titel, erweckt sofort den Eindruck, man lese einen der inzwischen in Mode gekommenen »Verlorene Jugend/ Adoleszenz /Coming of Age-Romane«, wie es sie letztes Jahr zahlreich zu bewundern gab (Man denke zurück an Roman Ehrlichs »Das kalte Jahr« oder Lisa Kränzlers »Nachhinein«).

Im Klappentext wird es jedoch noch interessanter: Dreh- und Angelpunkt der Geschichten und Eindrücke, die Kordsaia-Samadaschwili vermittelt, ist Georgien, ein Land, über welches man als Zentraleuropäer nicht unbedingt viel weiß, alleine schon der kartographischen Entfernung wegen. Höchstens aus den Nachrichten hat man noch den einen oder anderen – zumeist eher wenig positiven – Eindruck von Georgien im Gedächtnis, dazu vielleicht die historische Tatsache, dass Josef Stalin Georgier war. Und dieses Land soll Schauplatz für eine Geschichte über verlorene Kindheit und jugendliche Selbstzweifel sein? An dieser Stelle ist es nötig, den Schleier, der über der Art des Werkes liegt, zu lüften: »Ich, Margarita« ist mitnichten das, was Cover und Titel vermuten lassen, es ist viel mehr. Zum einen ist Anna Kordsaia-Samadaschwili nicht in den Mittzwanzigern, sondern Jahrgang 1968 und eine gefeierte Kulturjournalistin und Übersetzerin, dementsprechend viel Erfahrung lässt sie einfließen. Zum anderen wird im Grunde nicht die Geschichte einer einzelnen Person erzählt, sondern die vieler, die Chronik einer Gesellschaft.
»Margarita« ist dabei lediglich eine Beobachterin, abgesehen von der titelgebenden vorletzten Kurzgeschichte wird nicht einmal klar, ob die Protagonistin so heißt, oder ob es am Ende gar verschiedene »Margaritas« sind. Sie scheint nur zu dem Zweck zu existieren, zuzuhören und zuzusehen, die Erlebnisse um sich herum in sich aufzunehmen und – in seltenen Fällen – zu interagieren. Das soll jedoch nicht heißen, dass Margarita eine schwache oder schlecht ausdifferenzierte Figur wäre, im Gegenteil: Mittels Erzählerkommentar und beinahe bissigen Randbemerkungen avanciert die Georgierin zu einer der stärksten Frauenfiguren in der Literatur seit Jahren. Dabei wirkt sie in ihrer unkomplizierten, offenen Art emanzipierter als jedes feministische Konstrukt, bleibt zudem aber auch glaubwürdig und nachvollziehbar.

Immer wieder werden Episoden aus Margaritas bisherigem Leben als Versatzstücke eingestreut, durch welches sie zu dem geworden ist, was sie ist: Eine verträumte Zynikerin, eine romantische Pessimistin, eine desillusionierte Idealistin. Mögen diese Charakterzüge auch diametral entgegengesetzt scheinen, so ist es doch der beste Ansatz, diese stark polarisierte und gespaltene Figur zu beschreiben. Schnell wird klar, dass die Protagonistin kein Einzelfall ist, auch die anderen Personen wirken in ihrem Umfeld fremd, nahezu gestört und gleichzeitig zerbrechlich. Da sind Mütter, die ihre Kinder durch Liebes- und Aufmerksamkeitsentzug bestrafen, Frauen, die sich im verzweifelten Versuch, das Herz eines Mannes zu gewinnen, stetig selbst zerstören und Männer, die Nylonsocken tragen. Die Ursache macht die Autorin nicht eindeutig fest, aber zwischen den Zeilen (und vor allem zwischen den Geschichten) kristallisiert sich ein Hauptaspekt heraus, an dem die Schicksale zerbrechen.

Es ist Georgien selbst, ein Land, das seine Bewohner in relativem Elend leben lässt, gleichzeitig aber dennoch Heimat für sie ist. Selbst die zynische Protagonistin kann sich zwischendurch nicht erwehren, auszudrücken, wie sehr sie Georgien liebt, trotz der heruntergekommenen Wohnungen in denen sie lebt, die meiste Zeit pleite und mit einem leichten Hang zum Alkoholismus. Dass – wie in einer Kurzgeschichte mit dem passenden Titel »Warten auf die Barbaren« thematisiert wird – die georgische Kultur nach und nach verschwindet und von europäischen und russischen Standards ersetzt wird, zählt zu den schlimmsten Erfahrungen, die Margarita macht. Interessant ist dieser Diskurs vor allem für deutsche Leser, die sich nicht trauen, über das Verschwinden der eigenen Kultur zu sprechen, aus Angst, sofort als nationalistisch angefeindet zu werden. So wird die Beziehung der Figuren zu ihrer Heimat immer als eine Art Hassliebe definiert, das Verehren einer nicht funktionalen Gesellschaft, ihres schlichten, aber märchenhaften Charmes wegen. Diese Thematik macht das Werk zu einem unvergleichlichen Erlebnis, das einen gleichzeitig fasziniert und befremdet.

Welchen Geschmack hat Zynismus? Und welche Farbe besitzt Desillusionierung?

»Ich, Margarita« ist taubenblau und schmeckt erfrischend bittersüß.

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