Das Jahr 2014 ist nicht nur das Internationale Jahr der familienbetriebenen Landwirtschaft, in den kommenden zwölf Monaten wird der Beginn des Ersten Weltkriegs genau 100 Jahre alt. Das ist Anlass zum Gedenken an die vielen Menschen, die damals und seitdem in Kriegen überall auf der Welt sterben mussten, Anlass für Politiker, die tiefe Verbundenheit zu beteuern, die inzwischen in Europa herrscht, und Anlass für die Verlage, Bücher zu verkaufen. Beinahe jeder große Verlag, dessen Programm auch nur annähernd in die Bereiche Sachbuch oder Belletristik reicht, veröffentlicht dieses Jahr einen Titel über den Ersten Weltkrieg, sei es ein Fotoband, eine Chronik oder ein Feldküchen-Kochbuch. Bei dieser enormen Menge an Publikationen fällt es dem geneigten Leser natürlich schwer, die Spreu vom Weizen zu trennen, deshalb werden im Folgenden die zwei wohl informativsten Werke vorgestellt.

Nicolas Wolz: »Und wir verrosten im Hafen«

Der Beitrag des Deutschen Taschenbuchverlags (dtv) zum Jubiläum des Ersten Weltkriegs ist alles andere als ein Taschenbuch: Vielmehr erhält man beim Kauf ein hochwertiges Hardcover-Exemplar mit Kartenmaterial und Anhängen. Nur 282 Seiten umfasst das Hauptwerk, vergleichsweise kurz im Hinblick auf die Konkurrenz, doch dafür wird auch nur ein ganz spezielles Themengebiet behandelt, wie der Titel bereits erahnen lässt: Es geht um den Krieg zur See, der von 1914-1918 geführt – oder besser gesagt: nicht geführt – wurde.

Angefangen bei den Flottenplänen des berüchtigten Admirals von Tirpitz, der Deutschland als Seemacht Großbritannien ebenbürtig machen wollte, dabei aber aus wirtschaftlichen und technologischen Gründen versagte, über die jahrelange Pattsituation in der Nordsee, bis hin zu den letzten Tagen und den Kieler Matrosenaufständen, jeder kleine Schritt wird festgehalten, erklärt und gedeutet. Nikolas Wolz, seines Zeichens Doktor für Geschichte und langjähriger Redakteur der FAZ, wertet dabei sowohl die offiziellen zeitgenössischen Quellen aus, wie Heeres- und Flottenberichte, Briefe der Admiralität und Logbücher, als auch die bisher etwas vernachlässigten Standpunkte der Seeleute selbst.

In Tagebucheinträgen und privaten Briefen erfährt man, was die Matrosen, Heizer und Kapitäne selbst über ihre Lage dachten. Der titelgebende Ausspruch »Und wir verrosten im Hafen« ist dabei exemplarisch für eine Haltung, wie sie gegen Ende des Krieges vermehrt aufkam. Während die Soldaten der Armee auf den Schlachtfeldern von Verdun »ehrenhaft« ums Leben kamen (das Ausmaß der Gemetzel war auch den meisten Mitgliedern der Marine nicht bewusst), war die Kaiserliche Flotte zum Ausharren verurteilt. Umso deutlicher kann man sich den Enthusiasmus bei den aufkommenden U-Boot-Operationen vorstellen, durch welche es auf einmal doch noch möglich wurde, den Feind anzugreifen. Die letzte Etappe des Seekrieges stellt den historisch interessantesten Abschnitt dar, sie beginnt mit dem Eintritt der Amerikaner (der durch zahlreiche U-Boot-Angriffe auf amerikanische Handels- und Passagierschiffe verschuldet war) und endet mit der Rüstung »zur letzten Schlacht«, die durch die Matrosen verhindert wurde und durch welche die Novemberrevolution ihren Verlauf nahm.

Auf allen Linien geschlagen, wurde das Schicksal des Deutschen Kaiserreichs schließlich in einem Eisenbahnwagon besiegelt und die Deutsche Flotte in einem englischen Hafen interniert. Bevor die Alliierten jedoch über eine Aufteilung der Schiffe verhandeln konnten, schafften es Admiräle und Matrosen in Zusammenarbeit, einen Großteil der Schiffe zu versenken. Diese abenteuerliche und mutige Tat markiert das Ende einer Phase der Untätigkeit; eben diese Phase sollte sich Adolf Hitler später zunutze machen, indem er von seiner Marine den bedingungslosen Kampf »bis zur letzten Granate“ forderte. Es sind diese Zusammenhänge, kleine Querverweise in der großen Geschichte des Ersten Weltkriegs, die »Und wir verrosten im Hafen« zu einem unverzichtbaren Werk machen. Sicher, für einen Laien, der sich noch nicht in das Thema vertieft hat, sollten andere Bücher den Anfang machen, aber gerade für Historiker, Kenner und Menschen, die das Meer lieben, ist es empfehlenswert.

Christopher Clark: »Die Schlafwandler«

Das bei DVA erschienene »Schlafwandler« ist hingegen alles andere als eine schmale Bettlektüre. 722 Seiten umfasst das stolze Werk, dazu über 150 Seiten Anhänge und Belege. Christopher Clark, der in Cambridge neuere Europäische Geschichte unterrichtet, hat eine gewaltige Portion Zeitgeist dokumentiert. Und eigentlich geht es gar nicht um den Ersten Weltkrieg.

Vielmehr widmet sich Clark der Frage, wie es überhaupt so weit gekommen ist, dass sich dasselbe Europa, das noch zwei Jahrzehnte vorher friedlich koexistierte, plötzlich in einem Feuersturm des Krieges entzündet. Dabei geht er bis zu teilweise 50 Jahre in der Geschichte eines jeden der beteiligten Länder zurück, begutachtet die Beziehungen der Staatsoberhäupter zu ihren Ministern, die Haltungen der Diplomaten und die öffentliche Meinung (vor allem der Presse). Somit trennt »Die Schlafwandler« sich bereits nach wenigen Kapiteln von der bis heute häufig vertretenen Position, Deutschland trage die Hauptschuld am Kriegsausbruch. Vielmehr zeigt sich die Zeit vor den Schüssen in Sarajevo als ein langsames Hintaumeln auf eine Krise, aus der es keinen anderen Ausweg mehr gab.

Zuerst wendet sich der Hauptaugenmerk auf das Königreich Serbien und man erfährt, mit welchem Motiv Gavrilo Princip, der Attentäter, im Juni 1914 abdrückte. Später wird verdeutlicht, wie schwer die Position Österreich-Ungarns in Europa war, was das harte Ultimatum der Doppelmonarchie an Serbien erklärt. Auch die französischen, englischen, russischen und deutschen Handlungen werden ausgebreitet, in einer Breite, die Ihresgleichen sucht. Man kann hunderte Telegramme, Briefe und Gespräche lesen, die es einem beinahe ermöglichen, sich exakt in die Lage der damaligen Staatsmänner zu versetzen. Bemerkenswert ist, dass »Die Schlafwandler« dabei niemals langatmig oder dröge wird.

Trotz seiner starken wissenschaftlichen Fundierung ist das Werk eher im Stil einer Reportage geschrieben und an manchen Stellen – beispielsweise während der Suche der serbischen Regierung nach dem Mörder – spannend wie ein Agententhriller von John le Carré. Gerade diese Eigenschaft ist zu loben und für die meisten übrigen Sachbücher, die momentan die Märkte fluten, wünschenswert, denn nur so kann man als Normalsterblicher einen Weg finden, sich für die Materie zu begeistern. Doch ist es ein Buch für Einsteiger, für Leser, die sich zum ersten Mal mit der Thematik beschäftigen? Allein des Umfangs wegen wird so mancher abwinken und sich lieber eine Dokumentation des History Channels ansehen. Hinzu kommt, dass der Krieg – wie bereits erwähnt – selbst gar nicht behandelt wird. Man sieht ihn immer wieder am Horizont drohen, wie eine Gewitterwolke, doch die Berichterstattung endet mit den Mobilmachungen der verschiedenen Kriegsteilnehmer. Somit fühlt sich jemand, der den genauen Kriegsverlauf nicht anderweitig in Erfahrung gebracht hat, am Ende so schlau als wie zuvor.

Doch für ein solches Publikum ist »Die Schlafwandler« auch nicht konzipiert, es richtet sich vielmehr an alle Historiker, an alle, die den Kriegsausbruch als diplomatisches Ereignis verstehen wollen und – vor allem in Deutschland – an alle, die außenpolitisch über den Tellerrand blicken und erkennen, dass die wenigsten Kriege eine einfache Ursache haben. Nicht der Erste Weltkrieg, der jahrzehntelang als »Klare Sache« angesehen wurde und auch nicht die Kriege unserer Zeit– nicht zufällig vergleicht Christopher Clark im Nachwort den Balkan von damals mit dem Syrien von heute.

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